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Karl August Lingner (1861-1916)

4. VOM MUSEUMSGEDANKEN ZUM BAUPROJEKT - ENTSTEHUNG UND ENTWICKLUNG DES DEUTSCHEN HYGIENE-MUSEUMS UND ENTWICKLUNG DES DEUTSCHEN HYGIENE-MUSEUMS

4.2. Karl August Lingner (1861-1916)

4.2.1. Der Dresdner Odol-Fabrikant und die Vorgeschichte des Museums

Karl August Lingner60 (Abb. IV/5) wurde am 21. Dezember 1861 als dritter Sohn eines Kaufmanns in Magdeburg geboren. Für einen Berufsabschluss Lingners, der zu Beginn seiner kaufmännischen Lehre schon seinen Vater verloren hatte, sind keine Belege greifbar. Nach einem zweijährigen Parisaufenthalt im Alter von 22 Jahren, in dem Lingner versuchte Musik zu studieren, kehrte er nach Deutschland zurück, wo er die Arbeit als Korrespondent für die Nähmaschinenfabrik Seidel & Naumann in Dresden aufnahm. Hier konnte er über die Erstellung von Werbebriefen Erfahrungen auf dem Gebiet der Reklame sammeln, die die Grundlage für seinen späteren Erfolg als selbstständiger Unternehmer werden sollten. Die 1888 zusammen mit dem befreundeten Techniker Georg Wilhelm Kraft gegründete Firma Lingner & Kraft vertrieb nach Patenten Krafts produzierte Waren. 1891/92 lernte Karl August Lingner den Chemiker Dr.

59 Zum Gläsernen Menschen vgl. Utz Jeggle: „Glück und Glas...“. Anmerkungen eines Volkskundlers zur Metaphorik des Gläsernen. In: Rosmarie Beier, Martin Roth (Hrsg.): Der Gläserne Mensch – Eine Sensation. Zur Kulturgeschichte eines Ausstellungsobjekts. Stuttgart 1990, S. 125-132, hier S. 132; Konrad Wünsche: Der Blick in den Körper. Faszination zwischen Ekel und Bewunderung. In: Susanne Roeßiger, Heidrun Merk (Hrsg.):

Hauptsache gesund! Gesundheitsaufklärung zwischen Disziplinierung und Emanzipation. Ausstellungskatalog.

Marburg 1998, S. 169-179, hier S. 171, 175-177.

60 Die Quellenlage zur Biographie Karl August Lingners ist dürftig, da Lingner in seinem Testament verfügt hatte, dass sämtliche privaten Dokumente und seine gesamte Korrespondenz zu vernichten seien, was seine Brüder später leider auch in die Tat umsetzten. Die biographischen Ausführungen von Julius Ferdinand Wollf, einem Freund und engen Vertrauten Lingners, dienten zwar den meisten anderen zeitgenössischen Darstellungen als Grundlage, müssen jedoch wegen der Tendenz, die Person Lingners zu sehr zu idealisieren, vorsichtig benutzt werden. Zu Leben und Werk siehe: Testament Lingner. Abschrift aus den Akten des Königlichen Amtsgerichts Dresden, Abt.

VIII, die Eröffnung des Testamentes des wirklichen Geheimen Rates Dr. Karl August Ferdinand Lingner in Loschwitz betreffend. Königliches Amtsgericht Dresden vom 22. Mai 1916. Nachlaß Karl August Lingner. Archiv des Deutschen Hygiene-Museums Dresden (Signatur K 826); Julius Ferdinand Wollf: Lingner und sein Vermächtnis. Hellerau 1930; Julius Ferdinand Wollf: Lingners Lehr- und Wanderjahre. In: Heinrich Zerkaulen (Hrsg.): Das Deutsche Museum. Festschrift zur Eröffnung des Museums und der Internationalen Ausstellung Dresden 1930. Dresden 1930, S. 77-79; Heinrich Zerkaulen: Zur Geschichte des Deutschen Hygiene-Museums. In: Heinrich Zerkaulen (Hrsg.): Das Deutsche Hygiene-Museum. Festschrift zur Eröffnung des Museums und der Internationalen Hygiene-Ausstellung Dresden 1930. Dresden 1930, S. 80-85; Georg Seiring:

Unveröffentlichte Lebenserinnerungen. Typoskript nach einem Diktat Seirings vermutlich Ende der 1960er/Anfang der 1970er Jahre, 35 S. Archiv des Deutschen Hygiene-Museums; Ulf-Norbert Funke: Karl August Lingner - Kurzbiographie eines aufklärerischen Unternehmers. In: Martin Roth, Manfred Scheske, Hans-Christian Täubrich (Hrsg.): In aller Munde. Einhundert Jahre Odol. o.O. 1993, S. 64-71; Walter A. Büchi: Schloßherr ohne Adelstitel -

Richard Seifert kennen, der schon vor 1885 das Desinfektionsmittel Sadol entwickelt hatte und nun für Lingner eine ähnliche Substanz zur gewerblichen Verwendung erstellte. Es handelte sich hierbei schon um das Antiseptikum Odol61, dessen Vermarktung Lingners Reichtum und seine ganze spätere Existenz begründete. Durch Seifert erhielt Lingner auch Zugang zum aktuellen Forschungsstand auf dem noch jungen, aber immer populärer werdenden Gebiet der Bakteriologie und des Desinfektionswesens. Lingner erkannte in dem wachsenden Bedürfnis nach aktivem Schutz vor unsichtbaren Krankheitserregern und Bakterien die Chancen für eine gewerbliche Nutzung. Mit der Gründung des Dresdner Chemischen Laboratoriums Lingner GmbH 1892 begann die Produktion des bakterienhemmenden Mundwassers Odol, dessen reißender Absatz schnell einen stetigen Ausbau der Firma erforderlich machte. Lingner hatte sich rasch umgestellt und sich ganz auf die Herstellung chemisch-pharmazeutischer und kosmetischer Produkte verlegt.62 Die Massenproduktion von Odol und die rasante Firmenexpansion in kürzester Zeit, die eine Erweiterung der Produktpalette und die Neugründung zahlreicher Niederlassungen im In- und Ausland nach sich zog, stellte im Rahmen der allgemeinen Monopolisierungstendenzen der übrigen Leichtindustrie dieser Jahre eine besondere Erscheinung dar. Innerhalb weniger Jahre war der Kaufmann Lingner zu einem der reichsten Männer in Sachsen geworden. Zeichen seines gesellschaftlichen Aufstiegs waren mehrere Villen in Dresden, darunter seit 1906 das mittlere der Dresdner Erbschlösser, die Villa Stockhausen („Villa Lingner“)63, und später auch ein Schloss in der Schweiz. Sein Lebensstil hatte aristokratische, wenig alltagspraktische Züge und verrät ein ausgeprägtes Prestigebedürfnis und die offensichtliche Neigung zur Selbstdarstellung.64 Wegen seines Aktivismus und seines

Lingner, die Excellenz. In: Martin Roth, Manfred Scheske, Hans-Christian Täubrich (Hrsg.): In aller Munde.

Einhundert Jahre Odol. o.O. 1993, S. 72-83.

61 Der Produktname „Odol“ ist hergeleitet aus dem griechischen Begriff für Zahn „odontos“ und dem lateinischen Wort für Öl „oleum“, so dass „Odol“ wörtlich genommen „Zahnöl“ bedeutet. Vgl. Heinrich Zerkaulen: Zur Geschichte des Deutschen Hygiene-Museums. In: Heinrich Zerkaulen (Hrsg.): Das Deutsche Hygiene-Museum.

Festschrift zur Eröffnung des Museums und der Internationalen Hygiene-Ausstellung Dresden 1930. Dresden 1930, S. 80-85, hier S. 80.

62 Mit seiner neuen Firma stieg Lingner in einen der „nachklassischen“, hochmodernen, zu dieser Zeit besonders schnell wachsenden Industriesektoren ein, welche die zweite Industrialisierungsphase bestimmten. Siehe hierzu:

Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1866-1918. Bd. I: Arbeitswelt und Bürgergeist. München 1994, S.

234/235.

63 Bei der in den Jahren 1850 bis 1853 errichteten Villa Stockhausen handelt es sich um einen spätklassizistischen Bau des Architekten Adolf Lohse (1807-1867) für den Hofmarschall und Kammerherren des Prinzen Albrecht von Hohenzollern Freiherr von Stockhausen. Lingner erwarb die Villa 1906 von Walther Naumann, Inhaber der Dresdner Nähmaschinenfabrik Seidel & Naumann und einer der reichsten Männer Sachsens und ließ sie unter Heranziehung unter anderem des befreundeten Wilhelm Kreis im Zeitgeschmack ausstatten. Nach Lingners Tod 1916 ging die Villa nach seinem Wunsch in den Besitz der Stadt Dresden über.

64 Unter den Gästen, die bei Fabrikant Lingner verkehrten, waren auch bedeutende Künstler wie Enrico Caruso (1873-1921), Richard Strauß (1864-1949), Giacomo Puccini (1858-1924), Ernst von Schuch (1846-1914), Max Klinger (1857-1920), Franz von Stuck (1863-1928), Georg Kolbe (1877-1947) und natürlich der junge Architekt Wilhelm Kreis (1873-1955). Karl August Lingner suchte jedoch nicht nur die Nähe zu Musikern, Komponisten und

Engagements im öffentlichen Bereich mit zahlreichen städtischen, in- und ausländischen Ehrungen, Auszeichnungen und Titeln65 dekoriert, nutzte Lingner scheinbar das komplette wilhelminische Ehr- und Beförderungssystem aus.

Unterstützt durch eine gelungene Produktgestaltung mit hohem Wiedererkennungsgrad und bisher kaum da gewesenen Werbekampagnen avancierte Lingners Produkt „Odol“ zu einem Klassiker der Mundpflege. Kombiniert mit der reinen Produktwerbung war die Verbreitung von seriösen Erkenntnissen der modernen Medizin und Hygiene, die wiederum neue Bedürfnisse schaffen sollte. Innovationssinn, Risikobereitschaft, Zweckrationalität und Weitblick gepaart mit bürgerlichem Leistungsdenken, Arbeitswillen und Fleiß bestimmten Lingner zum souveränen erfolgreichen Unternehmer. Systematisch erweiterte Lingner sein Wissen auf dem Gebiet der Hygiene, interessierte sich für Fragen der Serumtherapie und für die Ursachen der Säuglingssterblichkeit genauso wie für die Herstellung von Kosmetika. Seine Fähigkeit, Geschäft und Wohltätigkeitsgedanken in idealer Weise zu verbinden, fand ihren Ausdruck in der von ihm initiierten und organisierten Internationalen Hygiene-Ausstellung 1911 in Dresden, auf der eine fortschrittliche Systematik der Gesundheitsbelehrung etabliert werden konnte.

Das Arbeitsethos Karl August Lingners und seine Ansprüche sind vor allem durch seinen Mitarbeiter Georg Seiring, der später das Lebenswerk Lingners zu Ende führen sollte, überliefert.66 Die soziale Gesinnung des Industriellen Lingner zeige sich besonders in einer

anderen Künstlerpersönlichkeiten seiner Zeit, sondern auch den Kontakt zu bekannten Wissenschaftlern, Medizinern und Hygienikern. Schließlich ist überliefert, dass Lingner hartnäckig versuchte, die Gunst Kaiser Wilhelms II. zu erlangen, wovon er sich wohl einen Adelstitel versprach. Wilhelm II. begegnete dem Dresdner Mundwasserfabrikanten, den er als „Odol-Lingner“ bezeichnete, jedoch mit Geringschätzung. Vgl. Georg Seiring:

Unveröffentlichte Lebenserinnerungen. Typoskript nach einem Diktat Seirings vermutlich Ende der 1960er/Anfang der 1970er Jahre, 35 S., hier S. 8/9. Archiv des Deutschen Hygiene-Museums. Georg Seiring nennt hier einige der oben aufgeführten Künstlernamen.

65 Lingner war unter anderem Ehrenbürger Stadt Dresden, besaß den Titel „Wirklicher Geheimer Rat“ mit dem Prädikat „Exzellenz“ und die Ehrendoktorwürde der Universität Bern.

66 In Seirings Lebenserinnerungen heißt es aufschlussreich: „Ich hatte jedenfalls ein reiches Arbeitsfeld. Lingner verlangte viel von seinen engsten Mitarbeitern. Eine Arbeitszeiteinteilung war ihm fremd. Gegen die Hygiene der Arbeit hat kaum einer mehr gesündigt als Lingner. Gewöhnt, die Nacht zum Tage zu machen, blieb er am Schreibtisch oder bei Verhandlungen solange sitzen, als es ihm gefiel, oder die anderen Teilnehmer nicht mehr folgen konnten und versagten. So fand er es als selbstverständlich, daß ich ihm dauernd zur Verfügung stand. Er liebte keine betonte Unterwürfigkeit, aber auch keine Schmeicheleien. Er verlangte enorme Leistungen und versprach Gegenleistungen, deren Erfüllung man sich aber immer wieder erkämpfen musste. Sonst blieb er seinen Mitarbeitern gegenüber karg in Anerkennung, nur in der Arbeitszuteilung konnte man seine Einschätzung erkennen.

Lingner konnte auch, wenn auch selten, eine gute Tat anerkennen.“. Georg Seiring: Unveröffentlichte Lebenserinnerungen. Typoskript nach einem Diktat Seirings vermutlich Ende der 1960er/Anfang der 1970er Jahre, 35 S., hier S. 4. Archiv des Deutschen Hygiene-Museums.

vorbildlichen Angestelltenfürsorge.67 Es bietet sich hier das Bild eines damals verbreiteten Unternehmertyps, dessen unternehmerischer Ansatz sich vereinfachend mit den Worten autoritär und sozial-patriarchalisch charakterisieren lässt. Eine solche traditionsfixierte innerbetriebliche Sozialpolitik war gepaart mit einem uneingeschränkten Autoritätsprinzip, das jeden Ansatz von Gleichberechtigung ausschloss. Lingner kümmerte sich um das gesundheitliche Wohlergehen seiner Arbeiter, erwartete dafür jedoch hohe Leistungsbereitschaft und untergebenen Respekt.

Zur Durchsetzung seiner Ziele kannte er weder bürokratische Hemmungen noch Berührungsängste gegenüber irgendwelchen Personen.68 Hierbei handelt es sich ebenfalls um eine sehr traditionelle, oftmals kompromisslose Vorgehensweise, die man mit dem Begriff

„Honoratiorenpolitik“ umschreiben könnte. Trotz eines feudalen Habitus spielte im Fall Karl August Lingner die „Plutokratie“ die entscheidende Rolle, die ihm gestattete, seine Ideen unbürokratisch zu realisieren. Geld versetzte ihn in die Lage, äußere Hemmnisse zu überwinden und viel zum Wohl der Allgemeinheit zu bewegen.69

Im Wesentlichen lassen sich zwei charakteristische Wesenszüge Karl August Lingners festhalten. Auf der einen Seite war er der ökonomisch progressive, moderne Unternehmer, ausgestattet mit einer hohen Innovationsbereitschaft und Fortschrittswillen. Auf der anderen Seite gab sich Lingner im gesellschaftlichen Bereich konservativ, patriarchalisch, autoritär und an überlieferten Werten im Sinne eines hierarchischen Prinzips festhaltend. Das Ehrgebaren und Streben nach gesellschaftlicher Etablierung, Titeln und nach Nobilitierung bezeugen ein gesellschaftliches Anpassungsverhalten, das politische Zurückhaltung bedeuten musste. Walter A. Büchi beschreibt Lingners politische Mentalität als nationalliberal, kaisertreu, sozialreformerisch und „imperialistisch“ und stützt sich auf eine Äußerung Lingners, in der

67 Lingner sorgte für Urlaubsregelungen, Urlaubsgeld, Weihnachtsgratifikationen und die Einrichtung von Warmwasserbädern in seinen Betrieben. Außerdem gab es für die Angestellten die Möglichkeit, gegen eine betriebsinterne Währung, die sogenannten Lingner-Warenpunkte, günstig Lebensmittel einzukaufen.

68 Georg Seiring: Unveröffentlichte Lebenserinnerungen. Typoskript nach einem Diktat Seirings vermutlich Ende der 1960er/Anfang der 1970er Jahre, 35 S., hier S. 5/6. Archiv des Deutschen Hygiene-Museums.

69 Der unverblümte Einsatz des Geldes zur Überwindung bürokratischer Hindernisse spielte noch nach Lingners Tod eine Rolle. Lingner, der an Zungenkrebs erkrankt war, starb 1916 plötzlich nach einer Operation. Nach einer angemessenen Trauerfeier im Festsaal seines Elbschlosses wurde er auf dem Tolkewitzer Friedhof beerdigt. Die Verhandlungen mit der Kirchengemeinde wegen einer Bestattung außerhalb des Friedhofs in einem eigenen Mausoleum unterhalb des Albrechtsbergs, wie es Lingner gewünscht hatte, gestalteten sich schwierig. „Gegen eine Vergütung von 100.000 Mark wurden diese Gründe überwunden und die Kirchengemeinde gab ihre Zustimmung.

1917 erfolgte dann die endgültige Beisetzung im Mausoleum.“ Georg Seiring: Unveröffentlichte Lebenserinnerungen. Typoskript nach einem Diktat Seirings vermutlich Ende der 1960er/Anfang der 1970er Jahre, 35 S., hier S.11. Archiv des Deutschen Hygiene-Museums. Das Mausoleum wurde von dem Architekten Hans Poelzig (1869-1936) in Zusammenarbeit mit dem Bildhauer Georg Kolbe (1877-1947) errichtet und befindet sich noch heute auf der untersten Weinbergterrasse des Albrechtsbergs. Hans Poelzig war von 1916 bis 1920 Stadtbaurat in Dresden und hatte einen Lehrauftrag an der Technischen Hochschule Dresden.

dieser sich offenbar bemüht, politische Indifferenz und Neutralität zu beteuern.70 Die beschriebenen Eigenschaften wie Fortschrittsdenken im wissenschaftlich-wirtschaftlichen Bereich einerseits und Konformität gegenüber einem unzeitgemäßen gesellschaftlichen System verbunden mit politischer Zurückhaltung andererseits teilte Lingner mit vielen seiner Zeitgenossen in ähnlichen gesellschaftlichen Positionen.71

Um mit seinen Vorstellungen von Gesundheit und Hygiene alle Schichten der Bevölkerung zu erreichen, gründete Lingner Einrichtungen zur Verbesserung der medizinischen Betreuung und zur Weiterbildung im Bereich der Gesundheitspflege. Die tieferen Motivationen, die neben dem wohltätigen Anliegen mit der Volksgesundheitslehre verbunden waren, die Vorgehensweise bei der Realisierung der einzelnen Projekte, die Verfolgung des Ziels einer umfassenden hygienischen Volksbildung und schließlich der stark belehrende Charakter der Wissensvermittlung, der noch die spätere Museumsarbeit und die IHA 1930/31 prägen sollte, ergänzen sich zu einem deutlichen Ausdruck des zu Lingners Zeiten vorherrschenden Ideals eines homogenen „hygienisch-gesunden“ gesellschaftlichen Ordnungsprinzips.

Karl August Lingner hinterließ ein beachtenswertes Lebenswerk72. Das soziale Interesse des Odol-Fabrikanten Lingner fand noch vor der Jahrhundertwende seinen Niederschlag in Dresden.

1897 wurde er zunächst Mitglied im Verein „Kinderpoliklinik mit Säuglingsheim in der

70 Vgl. Walter A. Büchi: Schloßherr ohne Adelstitel - Lingner, die Exzellenz. In: Martin Roth, Manfred Scheske, Hans-Christian Täubrich (Hrsg.): In aller Munde. Einhundert Jahre Odol, S. 72-83, hier S. 81. Büchi verweist auf diesbezügliche Hinweise bei Julius Ferdinand Wollf: Lingner und sein Vermächtnis. Hellerau 1930, S. 156. Sowohl Lingners theoretische Ansätze, die in Abschnitt 4.2.2. behandelt werden, als auch seine Konzepte zur Verbesserung der Gesundheit in der Bevölkerung beinhalten eine politische Dimension.

71 Martin Doerry spricht in diesem Zusammenhang von dem Phänomen der „Ungleichzeitigkeit“ und beschreibt anhand von Überlegungen zur Mentalität der „Wilhelminer“-Generation anschaulich das damals verbreitete Nebeneinander von konservativem, teilweise kompromisslosem Beharren auf überlieferte Strukturen und wirtschaftlich-technisch-wissenschaftlicher Fortschrittsbegeisterung als „Mißverhältnis zwischen ökonomischer und soziopolitischer Modernisierung“. Der Grund für das Festhalten an gesellschaftlichen Werten und Leitbildern, die dem sehr dynamischen wirtschaftlich-technischen Fortschritt kaum noch gerecht wurden, mag in der Angst vor den Folgen eben dieser rasant verlaufenden Modernisierungstendenzen zu suchen sein. Martin Doerry attestiert der

„Wilhelminer“-Generation vielfältiges Assimilationsverhalten, hoch leistungsfähige Strategien der Konfliktvermeidung und synthetisierende Lösungsversuche, die sich angesichts der schnellen Veränderungen herausbildeten. Konfliktscheues, konservatives gesellschaftliches Gebaren und Harmoniebestrebungen, von denen bei Martin Doerry die Rede ist, treffen auch auf die Mentalität von Karl August Lingner zu. Vgl. Martin Doerry:

Übergangsmenschen. Die Mentalität der Wilhelminer und die Krise des Kaiserreichs. Weinheim/München 1986, hier S. 12, 21. Doerry liefert eine Art Psychogramm dieser Zeit anhand von ausgewählten Biographien.

72 Die Daten zum Werk von Karl August Lingner entstammen im Wesentlichen der folgenden Literatur: Das Deutsche Hygiene-Museum im Jahre 1933. Im Anhang: Ein Rückblick auf die Entwicklung des Museums. Dresden o.J.; Georg Seiring: Lingner und sein Werk „Das Deutsche Hygiene-Museum“. In: Hygiene. Sonderheft der Zeitschrift für Desinfektions- und Gesundheitswesen. Heft 5. Teil I (Mai). Jg. 22. Berlin 1930, S. 267 und S. 270-274; Ulf-Norbert Funke: Karl August Lingner - Kurzbiographie eines aufklärerischen Unternehmers. In: Martin Roth, Manfred Scheske, Hans-Christian Täubrich (Hrsg.): In aller Munde. Einhundert Jahre Odol. o.O. 1993, S. 64-71.

Johannstadt“, der auf die wenige Jahre zuvor von Arthur Schloßmann (1867-1932)73 gegründete Kinderpoliklinik zurückzuführen war. 1898 gründete Lingner in Dresden die wohl erste Säuglingsklinik der Welt mit dem Ziel, die Säuglingssterblichkeit einzudämmen. Wenig später trat Lingner in den Deutschen Verein für Volkshygiene ein. Zu den von Lingner gegründeten gemeinnützigen Einrichtungen im Bereich der persönlichen und kommunalen Hygiene in Dresden gehörten eine Zentralstelle für Zahnhygiene (1900), eine Desinfektionsanstalt und eine öffentliche Lesehalle mit kostenlosem Zugang zu wissenschaftlicher Literatur (1902). Überzeugt von der Notwendigkeit der Bekämpfung der Unwissenheit im Hinblick auf eine hygienebewusstere, gesündere Gesellschaft, kristallisierte sich die Volksbildung bald als wesentlicher Bestandteil seiner sozialhygienischen Bemühungen heraus. Ein frühes Projekt systematischer Wissensvermittlung über Gesundheitspflege und die Zusammenhänge zwischen Ursache und Wirkung in Bezug auf Entstehung, Erkennung und Bekämpfung von Krankheiten war die Ausstellung „Volkskrankheiten und ihre Bekämpfung“74, die 1903 als Sonderschau auf der Ausstellung „Die deutschen Städte“ in Dresden präsentiert werden konnte. Mit der hier angewandten didaktischen Vermittlungsmethodik, dem Einsatz leicht verständlich aufbereiteter, statistischer Anschauungsmaterialien, waren bereits 190375 die wesentlichen Vorraussetzungen

73 Arthur Schloßmann war einer der bedeutendsten Vertreter der bürgerlichen Sozialhygiene. Der später mit den Titeln Geheimer Medizinalrat Professor Dr. med., Dr. med. vet. h.c., Dr. jur. h.c. ausgezeichnete Dresdner Kinderarzt war mit Karl August Lingner schon befreundet, als dieser sein Geschäft in Dresden aufbaute. Auf Schloßmann geht die Große Ausstellung für „Gesundheitspflege, soziale Fürsorge und Leibesübungen (Gesolei)“ im Jahr 1926 in Düsseldorf zurück.

74 Die Sonderschau „Volkskrankheiten und ihre Bekämpfung“ von 1903 brachte Karl August Lingner auf eigene Kosten 1904 zunächst nach Frankfurt am Main und 1905 nach München. In München errichtete man für die Ausstellung einen Pavillon auf der Kohleninsel, dem späteren Bauplatz für den Bibliotheksbau des Deutschen Museums. Interessanterweise wurde der Pavillon nach Ende der Schau als Baubüro des Deutschen Museums genutzt, einer Institution, die in besonderer Weise mit dem späteren Deutschen Hygiene-Museum verbunden ist.

Vgl. Georg Seiring: Lingner und sein Werk „Das Deutsche Hygiene-Museum“. In: Hygiene. Sonderheft der Zeitschrift für Desinfektions- und Gesundheitswesen. Heft 5. Teil I (Mai). Jg. 22. Berlin 1930, S. 267 und S. 270-274, hier S. 270. Ungewöhnlich war die Präsentation der genannten Sonderschau 1906 auf einem umgebauten Schiff in Kiel.

75 Viele Darstellungen der Vorgeschichte des Museums sehen in diesem ersten größeren Projekt Lingners aus dem Jahr 1903 den Beginn der Museumsentwicklung. Günter Heidel zieht die geistige Urheberschaft Lingners an der Idee der Errichtung eines Hygiene-Museums in Dresden in Zweifel und führt Quellen an, die einen der Ständeversammlung vorgebrachten Vorschlag zur Schaffung eines solchen Museums und eine entsprechende Diskussion schon für die Jahre 1883/84 und 1892/93 belegen. Aufgrund der sozialökonomisch-politischen Situation Ende des 19. Jahrhunderts, der hygienischen Folgen industrieller Arbeit und gedrängt durch die Forderungen der Arbeiterbewegung habe es gerade in Sachsen besonderen Handlungsbedarf seitens der Regierung gegeben. Neben frühen hygienischen Einrichtungen in Dresden wie der „Chemischen Zentralstelle für öffentliche Gesundheitspflege“ (1871), einem Lehrstuhl für Hygiene in Leipzig (1878) und einer Hygiene-Professur an der Technischen Hochschule Dresden (1894) habe es unter dem Eindruck der Allgemeinen Deutschen Ausstellung für Hygiene und Rettungswesen in Berlin 1883 noch im selben Jahr eine Debatte um die Errichtung eines Gesundheitsmuseums in Dresden gegeben, die acht Jahr später noch einmal aufgegriffen und schließlich nicht weiter verfolgt worden war. Schon damals waren mit der Forderung nach dem Aufbau einer hygienischen Mustersammlung, nach der Funktion einer öffentlichen Lehrinstitution, die weite Kreise insbesondere durch Vorträge (!) erreichen sollte, Ziele formuliert worden, die den Vorstellungen Lingners sehr ähneln, weshalb Heidel zu dem nahe liegenden Schluss kommt, dass der 1885 aus Paris zurückgekehrte Lingner von den Debatten Kenntnis

für die spätere Internationale Hygiene-Ausstellung 1911 geschaffen. Ende 1905 begann Lingner schon mit den ersten organisatorischen Vorarbeiten für eine große internationale Ausstellung, die spätere IHA. Aus dem 1906 gegründeten Ausstellungskomitee mit Lingner als organisatorisch hauptverantwortlichem Geschäftsführer wurde zwei Jahre später der „Verein zur Veranstaltung der I. Internationalen Hygiene-Ausstellung“76 unter seinem Vorsitz. An der Vorbereitung der Weltschau der Hygiene, die von Mai bis Oktober 1911 einen Überblick über die Geschichte der Hygiene und den aktuellen Stand der Forschung vermittelte, hatten viele renommierte Wissenschaftler mitgearbeitet.77 Die Hauptattraktion der IHA 191178 (Abb. IV/6,7) war der Pavillon „Der Mensch“ (Abb. IV/8), ein überkuppelter, säulenumstellter Rundbau, in dem das Kernstück der Sammlung, die Ausstellungsgruppe „Der Mensch“, präsentiert wurde. Über fünf Millionen Menschen besuchten diesen Pavillon während der IHA 1911.79

gehabt haben müsse. Vgl. Günter Heidel: Die I. Internationale Hygiene-Ausstellung in Dresden und die Gründung des Deutschen Hygiene-Museums. In: Zeitschrift für die gesamte Hygiene. Heft 8. Jg. 33. Berlin 1987, S. 411-415.

Dort detaillierte Quellenangaben. Der Umstand, dass das Stadtparlament bereits über ein Gesundheitsmuseum debattiert hatte, schmälert jedoch keinesfalls Lingners Leistung. Man könnte sagen, dass der reiche Odol-Fabrikant Lingner für die Umsetzung seiner Ideen in Dresden eine besonders günstige Ausgangssituation vorfand. Die sächsische Hauptstadt war schließlich nicht nur der Gesundheitspflege und Medizin gegenüber traditionell sehr aufgeschlossen, sondern auch vielen anderen Reformbewegungen in Kunst und Kultur.

76 Siehe: Beglaubigter Auszug aus dem Vereinsregister des Amtsgerichts Dresden. Abt. III. Bl. 121. Archiv des Deutschen Hygiene-Museums (Nr. 1932/14). In diesem Verein engagierten sich namhafte Wissenschaftler, darunter der Leipziger Medizinhistoriker Professor Karl Sudhoff (1853-1938), der Anatom Professor Werner Spalteholz, Dr.

Eugen Galewsky, der Kinderarzt Dr. Arthur Schloßmann und der Dresdner Augenarzt und spätere Direktor der historischen Abteilung des Deutschen Hygiene-Museums Dr. Otto Neustätter.

77 Georg Seiring bezeichnet eine Tagung, zu der sich am 12. Februar 1909 unter anderem Wissenschaftler wie Robert Koch, Behring, Abel, Bergmann, Czerny, Ehrlich, von Esmarch, Bumm, Fischer, Flügge, Kaufmann, Löffler, Neisser, Neufeld, Selter, Schmorl, Uhlenhut, Wassermann, Würzburger in Dresden eingefunden hatten, als Geburtstunde der IHA. Vgl. Georg Seiring: Unveröffentlichte Lebenserinnerungen. Typoskript nach einem Diktat Seirings vermutlich Ende der 1960er/Anfang der 1970er Jahre, 35 S., hier S. 6. Archiv des Deutschen Hygiene-Museums.

78 Zur IHA 1911 siehe: Willy Blanck: Als Dresden Mittelpunkt der Welt war... Eine Erinnerung an die Internationale Hygiene-Ausstellung 1911. In: Heinrich Zerkaulen: Das Deutsche Hygiene-Museum. Festschrift zur Eröffnung des Museums und der Internationalen Hygiene-Ausstellung Dresden 1930. Dresden 1930, S. 4-7. Siehe auch: Stefan Poser: Museum der Gefahren. Die gesellschaftliche Bedeutung der Sicherheitstechnik. Das Beispiel der Hygiene-Ausstellungen und Museen für Arbeitsschutz in Wien, Berlin und Dresden um die Jahrhundertwende.

Münster/New York/München/Berlin 1998. Posers Darstellung umfasst die Analyse von Inhalt und Grundkonzeption der einzelnen Abteilungen der IHA von 1911 (S. 140-158), wobei der Schwerpunkt auf der Untersuchung des Themenkomplexes „Beruf, Technik und Arbeit“ liegt (S. 158-192). Poser gibt einen interessanten Querschnitt der zeitgenössischen Rezeption der IHA unter Auswertung bisher noch nicht berücksichtigter Reiseberichte bayrischer Gewerbeinspektoren aus dem Bayrischen Hauptstaatsarchiv (S. 194-206).

79 Die Gestaltung des Ausstellungsgeländes am Großen Garten erfolgte unter der Leitung der Architekten William Lossow und Max Hans Kühne (1874-1942). Siehe hierzu: Die Architektur der Internationalen Hygieneausstellung zu Dresden im Jahre 1911. Von Dr.-Ing. Mackowsky, Oberbaukommissar Dresden. In: Der Profanbau. Heft 19-24.

Teil I. Leipzig 1911, S. 569-604; Globus Führer und Verkehrsbuch durch die Internationale Hygiene-Ausstellung Dresden 1911. Dresden 1911.

Neuartig bei der Ausstellungsorganisation war die Zusammenarbeit von Wissenschaft und Industrie.80 Dem Anspruch allgemein verständlicher, systematisch-anschaulicher Aufklärung über hygienische Zusammenhänge, den menschlichen Körper, seine Funktionen, seine Gesunderhaltung sowie über Möglichkeiten der körperlichen und seelischen Kräftigung wurde man gerecht, indem man das Auffassungsvermögen der breiten Masse bei der Präsentation zu Grunde legte.

„Lingner hatte als hervorragender Menschenkenner die Mentalität seiner Zeitgenossen richtig eingeschätzt, die mit dem Ausstellungsbegriff die Vorstellung einer Veranstaltung verbanden, bei der man etwas lernen, Neues und Allerneuestes sehen konnte, bei der aber auch dem Unterhaltungsbedürfnis entsprochen wurde, deren Besuch sich also unter allen Umständen lohnen mußte.“81

Der große Erfolg bei den Besucherzahlen der IHA fand seinen entsprechenden finanziellen Niederschlag in einem Reingewinn von über einer Million GM am Ende der Ausstellung, so dass das Projekt eines Hygiene-Museums82 auch finanziell gesehen näher gerückt war. Noch während der Ausstellung traf man Vorkehrungen, um das für dieses Projekt planmäßig zusammengetragene Schaumaterial nicht wieder komplett auflösen zu müssen, sondern für eine irgendwie geartete Präsentation dauerhaft zu erhalten. Zur Vorbereitung des geplanten Museums wurden in der Großenhainer Straße Räume gemietet, in denen man Anfang des Jahres 1912 großzügige Lehrmittelwerkstätten, Werkstätten des „Pathoplastischen Instituts“ sowie Lagerräume einrichtete. Ein Teil des in der IHA bewährten Personals wurde zur Einrichtung des Museums übernommen. Von Mai bis Oktober 1912 konnte schon die erste Ausstellung gezeigt werden. Zusätzlich dazu konnte man kleine Ausstellungen für das Ausland als Gegenleistung für die Überlassung bestimmter Objekte herstellen. Die im Zusammenhang mit der IHA

80 Unterstützt durch das Schweizer Serumwerk in Bern entstand zum Beispiel 1908 mit dem „Sächsischen Serumwerk und Institut für Bakteriotherapie GmbH“ aus der bakteriologischen Abteilung der Lingner-Werke ein weiteres erfolgreiches Unternehmen.

81 Willy Blanck: Als Dresden Mittelpunkt der Welt war... Eine Erinnerung an die Internationale Hygiene-Ausstellung 1911. In: Heinrich Zerkaulen (Hrsg.): Das Deutsche Hygiene-Museum. Festschrift zur Eröffnung des Museums und der Internationalen Hygiene-Ausstellung Dresden 1930. Dresden 1930, S. 4-7, hier S. 6.

82 Den schon wesentlich früher entstandenen Museumsgedanken hatte Lingner zunächst zurückgestellt in der klugen Überzeugung, dass man erst einmal durch eine groß angelegte Ausstellung die notwendige breite Basis für ein solches Museum schaffen müsse. Lingner wählte bewusst die werbewirksamere Form der temporären Ausstellung, um das Interesse der Bevölkerung für die Gesundheitspflege zu wecken, finanzielle Rücklagen zu erwirtschaften, die Herstellung von Ausstellungsobjekten und den Aufbau einer reichhaltigen Sammlung für eine Dauereinrichtung zu forcieren. Vgl. Georg Seiring: Lingner und sein Werk „Das Deutsche Hygiene-Museum“. In:

Hygiene. Sonderheft der Zeitschrift für Desinfektions- und Gesundheitswesen. Heft 5. Teil I (Mai). Jg. 22. Berlin 1930, S. 267 und S. 270-274, hier S. 270.