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(Verfahrensdesign) und Anforderungen an das Mediatoren-Team

4.2. Wertbaum-Analyse (WBA)

Die Wertbaum-Analyse (WBA)230 stützt sich auf ein entscheidungs- und nutzentheoretisches Gedankengebäude. Werte sind in diesem Kontext Dimensionen, an denen der individuelle Grad der Erwünschtheit von spezifischen Handlungsalternativen oder die Konsequenzen derselben getestet und abgeschätzt werden soll. Unter einem Wert wird ein bewusstes oder bewusst gewordenes mentales Konzept des Wünschenswerten und deren Gewichtungen verstanden, welches als Merkmal eines Individuums dessen Auswahl von Zielen und Kriterien sozialer Handlungen maßgeblich beeinflusst. Die WBA kann maßgeblich zur Unterscheidung von Wert- und Sachdebatten beitragen und damit einen höheren Grad an Rationalität ermöglichen. Der Entscheidungsprozeß innerhalb der WBA lässt sich in folgende Teilschritte gliedern:

· In einem ersten Schritt werden geeignete Kriterien gesucht, die einerseits die positiven und negativen potentiellen Wertbeziehungen des individuellen Beteiligten und andererseits die wichtigsten Folgen für jede Entscheidungsvariante darstellen.

· In der nächsten Stufe erfolgt die Übertragung der Kriterien in Indikatoren, um die Konsequenzen jeder denkbarer Option nach Maßgabe der festgelegten Kriterien abschätzen zu können.231

· Im dritten Teilschritt erfolgt die Abschätzung der indikatorspezifischen Konsequenzen nach dem Grad des Ausmaßes und dessen Eintrittswahrscheinlichkeit auf der Basis der Wahrscheinlichkeitsfunktion für unterschiedliche Ausmaße.

· Darauf folgt die Vergabe von relativen Gewichten für jedes Kriterium in „worst case“ und „best case“ nach dem Grad der individuellen Erwünschtheit.

· Der abschließende Teilschritt besteht in der Wahl eines Aggregationsverfahrens, um die Gewichtungen und die Indikatorabschätzungen zur Nutzenermittlung mit dem Ziel zu verknüpfen und um ein Gesamturteil aufgrund der Indikatorbeurteilungen zu finden.

Bei dieser Vorgehensweise ist die Gefahr des Zirkelschlusses implizit vorhanden.

Diese Gefahr lässt sich daran festmachen, dass einerseits die intuitiv denkbaren

230 Vgl. Keeney et al. (1984), S. 18-86, Keeney/Raiffa (1976) und Keeney (1992). Siehe dazu auch die Schaubilder IV, V, VI, VII im Anhang S. 212-215.

231 Renn (1994), S. 33.

Handlungskonsequenzen der einzelnen Entscheidungsoptionen überhaupt erst wertgeladene Dimensionen identifizierbar machen und andererseits dienen gerade diese Kriterien dazu, die Handlungskonsequenzen systematisch zu erfassen. Um dieser Gefahr zu begegnen, wird eine zweistufige Vorgehensweise gewählt, in der in einem bottom-up-Ansatz die intuitiv denkbaren Handlungskonsequenzen auf ihre Wertdimension hin abgeprüft und parallel auf der Basis der individuellen Präferenzen Ableitungen für die spezifischen Entscheidungskonstellationen in einem top-down-Ansatz entwickelt werden. Ein weiterer Schritt, um die Gefahr des Zirkelschlusses wirksam einzudämmen, besteht in der nochmaligen interaktiven und reflexiven Überprüfung der Kriterienliste auf Vollständigkeit hin im Anschluss an die Konsequenzenabschätzung. Darüber hinaus besteht die Möglichkeit für jeden Teilnehmer, ein zu Beginn des Prozesses genanntes Kriterium im weiteren Prozessverlauf mit dem hypothetischen Gewichtungswert von Null zu versehen und damit für die Entscheidungsfindung zwar sichtbar, aber nicht wirksam werden zu lassen. Diese Vorgehensweise verringert die Verzerrungseffekte, die ansonsten durch strategisches Verhalten zu erwarten wären. Zweck der WBA ist es, eine hierarchisch gegliederte Liste von wertunterlegten Kriterien - einen Wertbaum232 - gemeinsam aufzustellen. Ein Wertbaum umfasst daher eine geordnete Wertestruktur eines teilnehmenden Individuums oder einer sozialen Gruppe, für die ein Gruppenmitglied stellvertretend diesen Wertbaum erstellt. Diese Struktur wertgeladener Kriterien wird in einem ersten Schritt in einem offenen Prozess mittels eines nicht-standardisierten Interviews zusammen mit dem Mediator erstellt. Der Sinn des Interviews ist es, latente oder schon bewusste mentale Verbindungslinien zwischen den einzelnen Kriterien in eine sinnvolle Struktur einzubinden, die von dem teilnehmenden Individuum als einstellungsadäquat „richtig“ wahrgenommen wird. Zielführende Fragen des Mediators werden bewusst allgemein gehalten, um dem betroffenen Beteiligten die Möglichkeit zu geben, eine eigene Wertestruktur zu entwickeln und nach individuellen widerspruchsfreien Gesichtspunkten zu gliedern. Die allgemein gehaltenen Fragen führen zu einem offenen Dialog und haben folgende Inhalte:

· Welches sind die für sie wesentlichen Zielkriterien und Wertebereiche, die durch die Konfliktformulierung berührt werden?

· Welche Merkmale sind für Sie von Wichtigkeit, nach denen die verschiedenen Handlungskonsequenzen und Optionen differenziert werden können?

232 Im Anhang finden sich beispielhaft Wertbäume von betroffenen Beteiligten. Vgl. Schaubilder XIII – XVII S. 216-225.

· Warum wird von Ihnen eine Handlungskonsequenz bzw. Option als gut oder schlecht, als für sie wünschenswert oder nicht-wünschenswert eingestuft?

Ziel der Interviews ist es, zu einer hierarchisch gegliederten Baumstruktur mit den allgemeinen Werten an der Baumwurzel und den spezifizierten Kriterien und Indikatoren an der Spitze zu kommen. Trotz der Vielfalt von individuellen Wertbäumen ist es grundsätzlich immer möglich, einen integrierten qualitativen Wertbaum233 zu erstellen, der im Idealfall die komplette komplexe Konfliktstruktur und einen gesellschaftlichen Standpunkt berücksichtigt. Kennzeichnend für die WBA ist die iterative Vorgehensweise, die sich darin ausdrückt, dass nach der ersten Befragung durch den Mediator der individuelle Wertbaum aufgestellt und an den Aufsteller und an die anderen Beteiligten rückgekoppelt wird. Alle dabei auftretenden Änderungsvorschläge, die nicht zu Redundanzen oder Ausbrüchen aus der Strukturlogik führen, werden vom Mediator in den Wertbaum der befragten Beteiligten eingebaut. Dieser iterative Analyseprozess kann über mehrere Runden fortgesetzt werden, bis die Beteiligten den ergänzten Wertbaum als vollständig annehmen. Sinnvollerweise betreuen die Mediatoren schon einzeln die Teilnehmer bei der ersten Strukturierung.

Sinn des iterativen Prozesses ist es, die im Interview vergessenen oder unklar formulierten Wertaspekte aufzufinden und in den Wertbaum zu integrieren. Von einem befriedigenden Ergebnis kann dann gesprochen werden, wenn die Mehrdeutigkeit von Werten auf der Ebene von Unterwerten und -kriterien möglichst operational ausdifferenziert werden kann. Je ausgereifter und vollständiger einzelne Wertbäume das mentale Präferenzen- und Wertesystem eines Beteiligten repräsentieren, desto fruchtbarer ist dann die Zusammenfassung zu einem umfassenden Gesamtkatalog von Kriterien im Sinne einer fundierten Ausgangsbasis für eine zielführende Problembearbeitung. Zur Überprüfung der Wertbäume helfen dem Mediator folgende Prinzipien:

· Wie sieht die Ziel-Mittel-Beziehung aus?

· Sind die dargestellten Werte exklusiv, voneinander unabhängig oder gibt es Redundanzen?

· Ist die Werte- und Kriterienliste vollständig?

Diese Überprüfungskriterien sind auch für den Mediator zur Beurteilung des zusammengeführten Gesamtwertbaums hilfreich. Kommt es im Verlauf des Analyseprozesses zu Konflikten zwischen den betroffenen Beteiligten, lassen sich

233 Vgl. Schaubild XVIII im Anhang S. 226.

diese mit Hilfe der Sensitivitätsanalyse diagnostizieren. Der integrierte Gesamtwertbaum stellt eine wesentliche Identifikationskomponente für Konflikte dar. So können Konflikte auftreten, weil einzelne Teilnehmer das Fehlen bestimmter Kriterien anmahnen. Diese Konflikte können gelöst werden, indem die ausgelassenen Kriterien eingefügt werden oder indem die Ziel-Mittel-Beziehungsgeflechte weiter operationalisiert, ausdifferenziert und in den Gesamtwertbaum integriert werden.

In dieser Prozeduralisierung der Abwägung von Entscheidungsalternativen ist die WBA ein Instrument zur rationalen ethisch begründbaren Ergebnisfindung. Es geht um die Erarbeitung von Lösungsvorschlägen für normative Konflikte, die nicht nur auf den differierenden Vorstellungen über mögliche Folgen von Handlungsoptionen basieren, sondern die sich auch auf die Wünschbarkeiten dieser möglichen Handlungsfolgen in Bezug auf individuelle Präferenzen, Werteordnungen, Lebensentwürfe und soziale Normen beziehen.234

Die Rolle der Ökonomie in solchen Abwägungsprozessen wird wichtig, wenn auf der Grundlage des integrierten Gesamtwertbaums eine rationale Entscheidung über die verschiedenen zielführenden Handlungsoptionen gefunden werden sollen. Das dafür am besten geeignete und erprobte Instrumentarium in der Ökonomie ist die Nutzen-Kosten-Analyse (NKA).