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Der Praxisfall: Abfallwirtschaftsprogramm Berlin 307

ERFAHRUNGEN MIT AUSGEWÄHLTEN PRAXISFÄLLEN

2. Qualitative Mängel:

4.7. Der Praxisfall: Abfallwirtschaftsprogramm Berlin 307

Im Juni 1996 beschloss das Abgeordnetenhaus des Landes Berlin eine Initiative zur Überprüfung und Aktualisierung seines 1994 verabschiedeten Abfallwirtschaftsprogramms (AWP) anlässlich des Inkrafttretens des Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetzes (KrW-/AbfG). Ein wesentlicher Bestandteil des Beschlusses war die Aufforderung an den Senat des Landes Berlin, zur Bearbeitung des AWPs und des darauf basierenden Abfallentsorgungsplans für Berlin ein Umweltmediationsverfahrens durchzuführen.

Das Berliner Abgeordnetenhaus ging von der Erwartung aus, dass sich durch die Umsetzung des KrW-/AbfG die in Berlin zu entsorgende Müllmenge signifikant reduzieren würde, was mit entsprechenden Folgen für die abfallwirtschaftlichen Planungen einhergehen würde. Ziel des Auftrags war die Erreichung eines breiten gesellschaftlichen Konsenses für dieses Vorhaben. Die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umweltschutz des Landes Berlin fungierte als Auftraggeber auf der Grundlage eines Beschlusses des Abgeordnetenhauses von Berlin vom Juni 1996. Um die Voraussetzungen für die Durchführung des Mediationsverfahrens zur Überarbeitung des AWPs zu klären, forderte das Berliner Abgeordnetenhaus in einem Vorverfahren als vertrauensbildende Maßnahme die Kontaktaufnahme und die gemeinsame Vorbereitung des Mediationsverfahrens mit den wichtigsten aus der Vorgeschichte bereits bekannten Konfliktbeteiligten.

Konsequent wurde das Mediationsverfahren zum Berliner AWP in zwei organisatorisch und auch personell voneinander getrennte Teile aufgeteilt. Ein Vorverfahren sollte die Voraussetzungen für das Mediationsverfahrens klären, ehe in einem zweiten Teil – dem Hauptverfahren, der eigentlichen Umweltmediation – ein Konsens in Bezug auf das AWP und des Abfallentsorgungsplans erreicht werden sollte. Nach Abschluss des Vorverfahrens konkretisierte die Verwaltung des Berliner Senats die Empfehlungen des Abgeordnetenhauses des Landes Berlin dahingehend, dass unter Berücksichtigung der Ergebnisse des Vorverfahrens sowohl ein

„Beteiligungsschlüssel“ als auch ein Zeitrahmen für das Hauptverfahren der Umweltmediation vorgegeben wurde. Die Zweiteilung des Mediationsverfahrens und die Betreuung durch zwei verschiedene Mediatoren (-Teams) wurde in der Bundesrepublik Deutschland so zum ersten Mal vorgenommen. Die Abtrennung und damit die Eigenständigkeit des Vorverfahrens, das der Konzeptionsphase und der

307 Vgl. Kessen/Troja/Zilleßen (1998).

Phase der Verhandlungen des Diskursangebots entspricht, hebt deutlich die enorme Bedeutung einer sorgfältigen inhaltlichen und methodischen Vorbereitung des Mediationsverfahrens hervor. Das Vorverfahren fand als Vorbereitungsphase im Zeitraum von Oktober 1996 bis Januar 1997 unter Leitung des Mediators Dr. Hans-Joachim Fietkau vom Wissenschaftszentrum für Sozialforschung Berlin (WZB) statt.

Am Vorverfahren waren etwa 45 Personen aus unterschiedlichen Interessengruppen, Verbänden, Parteien und Arbeitsgruppen, die meist bereits in vorangegangenen abfallwirtschaftlichen Beteiligungsverfahren eingebunden waren, beteiligt. Der Ablauf des Vorverfahrens erstreckte sich auf drei Plenumssitzungen und mehrere Arbeitskreissitzungen. In diesem Vorverfahren legten die relevanten Konfliktbeteiligten gemeinsam die Rahmenbedingungen für das Hauptverfahren der Umweltmediation fest. Dazu zählten folgende Eckpunkte:

Der exakte Kreis der Teilnehmer aus den betroffenen Konfliktbeteiligten und deren Stimmrechte sowie Festlegung des zu bearbeitenden Themenkatalogs für die Verhandlungsphase im Sinne Reduktion der Komplexität und der systemtheoretischen Sichtweise;

Konkretisierung der inhaltlichen Schwerpunkte des von der Verwaltung des Berliner Senats in Auftrag zu gebenden Gutachtens über den Status quo der Abfallwirtschaftssituation im Land Berlin sowie über die zu erwartende Entwicklung der Abfallmengen bis zum Jahre 2005;

Festlegung der empfohlenen Kriterien für die Auswahl des Mediatoren-Teams für das Hauptverfahren;

Klärung des Selbstverständnisses des angestrebten Mediationsverfahrens und die Festlegung der methodischen und kommunikativen Grundregeln der Verfahrens-und Geschäftsordnung für die Verhandlungsphase;

Empfehlung von vier Personen an die Verwaltung des Senats, die stellvertretend um ein Angebot für die Mediation in der Verhandlungsphase gebeten werden sollten.

Vor dem Hintergrund der negativen Vorerfahrungen der Konfliktbeteiligten aus diversen vorangegangenen Beteiligungsverfahren, die sich vor allem in persönlichen Verletzungen, Enttäuschungen und Abwehrstrategien dokumentierten, bot sich mit dem Vorverfahren die Chance, ausführlich die Voraussetzungen für ein erfolgreiches Mediationsverfahren und die konkreten Ansprüche an den Mediator zu klären, was auch im Einvernehmen gelang.

Das Hauptverfahren der Umweltmediation fand von April bis Dezember 1997 statt und endete mit der Überreichung der schriftlichen Übereinkunft an den zuständigen Senator für Stadtentwicklung und Umweltschutz im Januar 1998. Die Leitung des Hauptverfahrens oblag Prof. Dr. Horst Zilleßen, Stefan Kessen und Markus Troja als Mediatoren von der MEDIATOR GmbH (Zentrum für Umweltkonfliktforschung und –management) Oldenburg. Im Hauptverfahren waren vier Umweltorganisationen, fünf Bürgerinitiativen, sechs regionale Entsorgungsfirmen, vier Handwerks-, Industrie- und Handelskammern, Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen, vier abfallerzeugende Wirtschaftsbetriebe, Verwaltungen, die Verbraucherzentrale, drei Bezirksvertreter, vier im Berliner Senat vertretene Parteien, zwei Berliner Senatsverwaltungen und das Ministerium für Umwelt, Naturschutz und Raumordnung des Landes Brandenburg vertreten. Hinsichtlich des im Vorverfahren konsensual festgelegten Stimmrechts waren jeweils vier beziehungsweise fünf Beteiligte als Vertreter von Interessengruppen stimmberechtigt. Daraus ergab sich in der Summe eine Anzahl von 22 stimmberechtigten Verfahrensbeteiligten (ohne die nicht stimmberechtigten Parteien- und Verwaltungsvertreter).

Darüber hinaus war im Vorverfahren einvernehmlich festgelegt worden, dass jede der 33 beteiligten Organisationen jeweils zwei Vertreter zu den Mediationssitzungen des Hauptverfahrens entsenden konnte. In der dritten Mediationssitzung beschloss das Plenum, Gäste zu den Mediationssitzungen des Hauptverfahrens zuzulassen. In Folge dieses Beschlusses erhöhte sich die Zahl der Anwesenden auf bis zu 70 Personen.

Die Sitzungen fanden vor diesem Hintergrund (teil-)öffentlich statt.

Neben 12 Sitzungen des Plenums innerhalb des Hauptverfahrens fanden sieben Sitzungen der beiden Arbeitsgruppen statt. Die eine beschäftigte sich mit der Gestaltung des Mediationsverfahrens, die andere mit der Entwicklung von konkreten Kriterien zur Beurteilung des aktualisierten Abfallwirtschaftsprogramms und des Abfallentsorgungsplans. Trotz der hohen Teilnehmerzahl konnten nicht mehr Arbeitsgruppen gebildet werden, da die Vertreter der Umweltgruppen und Bürgerinitiativen nicht von der Sinnhaftigkeit einer solchen Arbeitsteilung zu überzeugen waren.

Zur Betreuung des Hauptverfahrens wurde vor Ort ein Koordinierungs- und Bürgerbüro installiert, in dem regelmässig ein Vertreter der Mediatoren als Ansprechpartner für alle Verfahrensbeteiligte und interessierte Bürger zur Verfügung stand. Diese permanente Anlaufstelle erwies sich als wichtiges Strukturelement bei der Durchführung eines so komplexen Mediationsverfahrens und dort konnte

unmittelbar reagiert werden, wenn im politischen Alltagsgeschehen in Bezug auf die Abfallpolitik in Berlin unerwartet eine neue Situation eintrat.

Gegenstand des Hauptverfahrens sollten gemäß des Beschlusses des Abgeordnetenhauses die Schlussfolgerungen für die Aktualisierung des AWPs und des darauf aufbauenden Abfallentsorgungsplans sein. Im Verlauf des Mediationsverfahrens wurden dann die juristischen Rahmenbedingungen, Müllvermeidungs-, Müllverwertungs- und Müllentsorgungskonzeptionen sowie diverse Verfahrenstechniken vorgestellt und eingehend erörtert. Ein weiterer Schwerpunkt des Hauptverfahrens bildete die Auseinandersetzung um ein im August 1997 veröffentlichtes Gutachten zur Überprüfung und Aktualisierung des Mengengerüstes für Siedlungsabfall für das Land Berlin. Die entstandene kontroverse Diskussion im Rahmen des Hauptverfahrens der Mediation und der damit verbundene Interessenausgleich konnte nicht vollständig aufgearbeitet werden, weil das Umweltmediationsverfahren nach Vorgabe der Senatsverwaltung bis Ende 1997 abgeschlossen sein musste. Die inhaltlichen Schwerpunkte lagen bei folgenden Fragen und Themenkomplexen:

Welche konkrete Müllmenge ist für das Land Berlin im Jahr 2005 zu erwarten?

Welche Art und wie viele Abfallbehandlungsanlagen werden benötigt?

Nach welchen konkreten Kriterien sind die beiden unterschiedlichen Abfallbehandlungsarten - mechanisch-biologisch und thermisch - ökologisch zu bewerten? Lässt die „Technische Anleitung Siedlungsabfall (TASi)“ ab dem Jahr 2005 überhaupt noch Spielräume für die Genehmigung mechanisch-biologischer Anlagen im Regelbetrieb und wenn ja welche?

Die zuletzt genannte Frage wurde vor dem Hintergrund diskutiert, ob die Genehmigung einer nicht-experimentellen Anlage zur mechanisch-biologischen Abfallbehandlung für die dauerhafte Entsorgung gem. Ziffer 2.4. der TASi rechtlich tragfähig sei, zumal viele Experten der Meinung sind, dass ab 2005 auf der Basis von TASi nur die Müllverbrennung rechtlich zulässig sei.

Die sachliche Auseinandersetzung des Hauptverfahrens war überschattet von der langen Konfliktvorgeschichte. Die sogenannten „problemrelevanten Konfliktbeteiligten“ kannten sich teilweise schon jahrelang aus vorangegangenen abfallwirtschaftlichen Beteiligungsverfahren und partizipativen Bürgerforen.

Dementsprechend waren die Konfliktlinien aufgrund persönlicher Verletzungen und Enttäuschungen, die die Beziehungsgeschichte prägten, verhärtet. Daraus resultierten personenbezogene Empfindlichkeiten und strategisch-taktische Abwehrstrategien

gegenüber Aktionen und sachlichen Argumenten der jeweils anderen (Konflikt-) Seite, die weit in die konsensorientierte Arbeit innerhalb des Verfahrens hineinreichte und diese sehr schwierig gestaltete.

Ein wichtiges Ergebnis des Hauptverfahrens war die Ausarbeitung einer tragfähigen Diskussionsgrundlage über das in Auftrag gegebene Gutachten zur zukünftigen Entwicklung der Abfallwirtschaft im Land Berlin. Dieses gemeinschaftlich erarbeitete Ergebnis kam trotz eines enormen Zeitdrucks zustande, denn die Diskussion konnte erst Mitte 1997 beginnen und musste wegen der Terminvorgaben der Senatsverwaltung bereits Ende 1997 abgeschlossen werden. In der Folge konnte der notwendige Interessenausgleich nur unvollständig durchgeführt werden. Dennoch führten die divergierenden Präferenzen und Werteordnungen der am Verfahren beteiligten Gruppen zu einer konsensualen Einigung über die Struktur des Abschlussberichts. Der Abschlussbericht wurde dann auch in zwei Teilen ausgearbeitet. Zum einen wurden die Präferenzen und Handlungsempfehlungen der Bürgerinitiativen und Umweltgruppen umfassend dargelegt. Zum anderen erfolgte die gleiche Vorgehensweise bei den Vertretern der Wirtschaft. Es lassen sich eine Reihe von Konsensergebnissen konstatieren, die grundlegenden Charakter haben:

Die „Technische Anleitung Siedlungsabfall“ wird nicht in Frage gestellt und als eine wesentliche Rahmenbedingung akzeptiert.

Die gesetzlich verankerte sowie im AWP von 1994 festgeschriebene Zielhierarchie von Vermeidung-Verwertung-Beseitigung von Müll wurde einvernehmlich bestätigt.

Die Mediationsteilnehmer waren sich einig, dass eine länderübergreifende Abfallwirtschaftsplanung von Brandenburg und Berlin sinnvollerweise anzustreben ist, wobei der Bau von Überkapazitäten bei den Abfallentsorgungsanlagen zu vermeiden ist.

Neben den Konsensergebnissen sind auch Dissense nach Abschluss des Hauptverfahrens geblieben, die in zwei divergierenden Abschlussberichten der Umweltgruppen und Bürgerinitiativen einerseits und den Vertretern der Wirtschaftsseite andererseits, zum Ausdruck kamen. Diese grundlegende Divergenz lässt sich auf die sehr unterschiedlichen Einschätzungen und Prognosen zur Entwicklung der Abfallmengenentwicklung in Berlin zurückführen. Die unterschiedlichen Einschätzungen der Entwicklung der künftigen Abfallsituation hatten entscheidenden Einfluss aus den daraus zu schliessenden Folgen für die abfallwirtschaftliche Planung, insbesondere in Bezug auf die bereitzustellenden

Kapazitäten der Entsorgungseinrichtungen, haben den Verlauf des Mediationsverfahrens entscheidend mitgeprägt. Im Verlauf konnte jedoch erreicht werden, dass die unterschiedlichen Seiten die Präferenzen und Werteordnungen der jeweils anderen Seite bereitwilliger, unvoreingenommener anhörten und bereit waren, sich darauf einzulassen. Darüber hinaus liegt eine Absichtserklärung des verantwortlichen Senators für Stadtentwicklung und Umweltschutz vor, die konsensual erarbeiteten Ergebnisse des Verfahrens angemessen zu berücksichtigen.

Die Ergebnisse aus dem Hauptverfahren zeigen deutlich, dass Verfahrenserfolge nicht nur nach dem Kriterium der Art und Anzahl der inhaltlichen Konsense erfasst und bewertet werden können. Die erreichte relative Verbesserung der Kommunikationskultur der Konfliktbeteiligten, die in Berlin auch in Zukunft zu abfallwirtschaftlichen Fragestellungen zu Zusammenarbeit verpflichtet sind, kann vor dem Hintergrund der verfahrenen Ausgangssituation (Blockade) als Ergebnis des Mediationsverfahrens nicht hoch genug eingeschätzt werden.

Das Mediationshauptverfahren litt unter einigen von den beteiligten Konfliktparteien als nachteilig wahrgenommenen vorgegebenen Festlegungen und Einschränkungen:

Die konkrete Verfahrensgestaltung, die noch während des laufenden Prozesses vom Plenum geändert wurde, führte zu einer sehr großen Teilnehmerzahl mit allen (negativen) gruppendynamischen Implikationen.

Die Mediatoren mussten Vorgaben aus der Vorverfahrensphase übernehmen und Ansprüche von beteiligten Betroffenen einlösen, die sich als zum Teil sehr problematisch für die Arbeitsmöglichkeiten herausstellten.

Der (zu) enge Zeitplan für die Durchführung der Hauptverhandlung setzte alle Beteiligten hinsichtlich der inhaltlich-sachlichen Arbeit stark unter Druck.

Unter den Teilnehmern des Mediationsverfahrens rief der Wechsel der Mediatoren Irritationen hervor, da die Aufgaben der Konfliktmittlung abhängig von individuellen Persönlichkeitsmerkmalen unterschiedlich wahrgenommen wurden. Damit ergab sich durch den MediatorenWechsel neben den inhaltlichsachlichen Schwierigkeiten -auch gruppendynamisch und psychologisch erneut eine Startsituation, die einige der Mediationsteilnehmer als hinderlich wahrnahmen.