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Volksweisheiten im Gedicht von с Alī

Im Verlaufe der Verse сAlīs treten immer wieder Ausdrücke hervor, die man schlicht Volksweisheiten nennen kann. Es sind Sprüche, die ein Ereignis oder die

61 s. İA, s.v. Yusuf

62 S. den Abschnitt “Die Yūsuf-Legende bei den Turkvölkern, 2. Yūsuf-Legende von Xalīl Oġlı сAlī”

in dieser Arbeit oder İ. H. Ertaylan, “Türk Dilinde Yazılan İlk Yusuf ve Züleyha” S. 218 ff.

Lebenserfahrung sublimieren und gleichermaßen ein organischer Teil des Gedichtes bilden. сAlī hat sein Gedicht offenbar nicht für die gebildete soziale Schicht sondern, vielmehr für einfache Menschen verfasst, deshalb benutzte er eine einfache Sprache und klare, nicht symbolische und nicht allegorische Erzählweise. Das zeigt uns, dass

сAlī mehr als eine schöne Legende verfassen wollte, er wollte zugleich seine Vorstel-lung von idealen Menschen und seinen Glaube vermitteln. Das konnte er am besten erlangen, indem er die Sprache des Volkes benutzte und schwülstige stilistische Fi-guren vermied.

So sehen wir im Vers 54 z.B. den Satz “delīl seni dutanlara başarur yol”

(Wer dich (Gott) zu seinem Wegweiser macht, wird erfolgreich sein.) сAlī sagt am Anfang seiner Legende, dass man Gott auf dem Weg des Lebens als Wegweiser nehmen soll, damit man zum Ziel ankommt. Da haben wir vor unseren Augen ein Bild vom Leben als einem langen Weg und in der Steppe, der von Menschheit zurückgelegt werden soll. Man kann sich leicht vorstellen, wie wichtig es für damaligen Menschen war, einen kundigen Krawanenfürher zu haben. So wird der Autor für seine Leserschaft ein gutes und zum Nachahmen würdigen Beispiel.

Eine wichtige Eigenschaft ist die Geduld und die mussten Yūsuf aber auch Zelīxā reichlich üben. So erfahren wir von сAlī an den passenden Stellen weitere Sprüche, welche die Bedeutung der Geduld hervorheben: sabırsızlıq сazīzleri zelīl qılur (734)63 Wegen Ungeduld werden die Heiligen erniedrigt, sabır birle murād hāsıl olur (736 und 1797) Zeit bringt Rosen, sabur birle işlene işler başı (1692) Man soll jede Arbeit mit Geduld anfangen, murādına tėz tėger saburlu kişi (1693) Die geduldige Person erreicht seinen Wunsch schnell, sabır qılġıl Şeytān maqhūr olsun (2282) Sei geduldig, der Teufel möge zugrunde gehen.

Die alles umfassende Macht oder Barmherzigkeit Gottes werden in verschie-denen Sprichwörter thematisiert, z.B.: qażā kėlse basāret qoldan kėder (260) Gegen das Schicksal ist man machtlos, Allāhnıng hükmi olsa kim durıqır (261) Wenn Gott seine Entscheidung fällt, wer soll denn sie ändern, yoqları bay qılmaq anga kenges (1994) Ihm (Gott) ist es einfach, Arme zu Reichen zu machen, xıyānet ehlini hiç Xā-lıq sewmez (2307) Gott mag Undankbarkeit überhaupt nicht, düşmānlardan сazābın hiç kidermez (2308) Seine Qual gibt den Feinden keine Ruhe, dergāhına kėlenleri kėrü qowmaz (2309) Wer von Ihm Gnade bittet, den weist Er den nicht zurück, Samed oqı toqunsa hiç ongulmaz (2473) Wird jemand von Gottes Pfeil getroffen, so wird seine Wunde niemals geheilt.

Da ein wichtiger Teil der Yūsuf-Legende auf die Liebe bezogen ist, bekommt man selbstverständlich auch zu diesem Thema Sprüche zu lesen. Diese Weisheiten zeigen verschiedene Aspekte der Liebe; die Liebe ist immer verbunden mit Leid, der Liebende muss viel Geduld aufbringen oder die Ärzte haben kein Mittel gegen den

63 Die Zahlen in den Klammern geben die Nummer des jeweiligen Verses an, von dem die kursiv geschriebenen Sätze entnommen worden sind.

Liebeskummer. So treffen wir in einigen Strophen Verse, die sich sprichwortartig mit der Liebe befassen: mihr ġālib-i sabır qılur (2064) Liebe siegt über die Geduld,

сāşıqlıq сāşıqlara belādurur (2135) Verliebtsein ist Unheil der Liebenden, maсşūqıng ārzūsı belā durur (2136) der Wunsch des Geliebten führt zum Unheil, tabībler ol dārūya dermān bulmaz (2140) Ärzte finden kein Mittel gegen dieses Gift, сālem xurrem olur ise сāşıq külmez (2141) Wenn auch die ganze Welt froh ist, lacht der Liebende nicht, сāşıq kişi mālın fidā qılmaq kerek (2152) Der verliebte Mensch muss sein Vermögen ausgeben (opfern). Es gibt keine Liebe ohne Trennungsschmerz:

firqat odı bu cānıma qoyurdılar (1078) Das Feuer der Trennung hat man in meiner Seele gesteckt, ġurbet tonun ėgnime kėyürdiler (1079) Das Kleid des Fremdseins hat man mir angezogen.

Eine Reihe von Eigenschaften, die den Menschen ein gemeinsames Leben ermöglichen, werden vom Dichter der Yūsuf-Legende an den passenden Stellen be-wusst herausgestellt, so dass der Autor seinen didaktischen Vorsatz unauffällig und zwanglos erfüllen kann. Die Gerechtigkeit ist ein wichtiger Bestandteil des sozialen Lebens und so wird sie auch mittels Sprichwörter betont. Als Beispiel können wir mazlūmlar duсāsından qorqung (688) Habt Angst vor dem Stossgebet der ungerecht Behandelten, boruclı borcın anda öter (2385) Jeder begleicht seine Schulden im Jen-seits, kim ne qılsa qılduġın buldaçıdur (2389) Jeder erlebt das gleiche, was er ande-ren angetan hat, сādil kişi ġarīb-nevā(z) olur (3586) Gerechte Menschen behandeln die Fremden (die von ihrer Heimat fern sind) freundlich, сādil iken zālim olma (4198) Ändere dich nicht, sei kein Tyrann, denn du bist gerecht, suçlu öçün suçsuzdan alma (4199) Bestrafe keinen Unschuldigen anstelle des Schuldigen, nennen.

Dass man seinen Vater ehren soll, wird in zwei Fällen deutlich: ata qavlin sındurmaġa revā körme (194) Die Absprache mit dem Vater darfst du nicht brechen, oġul atasına nėte xıyānet qılur (2306) Wie kann ein Sohn seinem Vater undankbar werden! In einem anderen Falle wird das Intrigieren verpönt: qovcılardan beklesün Xālıq sizi (171) Gott schütze euch vor Klatschmäulern!

In zwei Versen erkennen wir den Volksglauben, dass jeder Mensch einen Doppelgänger in der Geisterwelt hat: ādem oġlı birle perī olur imiş (1265) Zu jedem Menschen gibt es einen Geist. Dass Yūsuf auch so einen Dschin hatte und die beiden am selben Tag geboren wurden, ließt man zwei Zeilen weiter unten: kim toġsa bir perī oġlan doġar imiş (1267) Wer auch immer geboren wird, kommt auch ein Elfen-junge zur Welt.

Dass diese Welt und ihre irdische Schönheiten vergänglich sind und eigent-lich das Jenseits unsere Aufmerksamkeit verdient, ist Heute noch unter muslimischer Bevölkerung als Glaube vorhanden. Dasselbe kommt auch bei сAlī zum Ausdruck:

uçmax vėrüb tamunı satun almang (441) Tauscht nicht das Paradies gegen die Hölle, sūretinden cān ırılsa şaxıs degül (2365) Wenn einem der Geist vom Körper ent-wischt, ist er kein Mensch mehr, gūr içre körüklü yüzüŋ körki şeşer (2371) Seine Schönheit verliert das Schöne Gesicht im Grab, gūr içinde telim körükler bozulıban

(2379) Viele Schönheiten werden im Grab verdorben, öldeçi qul bātıl işe daġı nėder (2384) Warum beschäftigt sich der sterbliche Mensch mit falschen, vergänglichen Sachen, körükli körüksüz cümle qamu öldeçidür (2387) Alle, die Schönen wie die Hässlichen werden sterben, bu dünyānıng vefāsı yoq kėlür keçer (2933) Diese Welt hat keine Beständigkeit und Treue, āxiret üçün duruşmaqlıq kerek (2934) Man soll sich um das Leben nach dem Tod kümmern.

Ferner gibt сAlī einige Ratschläge und übermittelt manche Weisheiten seinen Lesern als Lebenshilfe und Wegweiser: qul saġınduġı endīşe hergiz olmaz (1375) Es kommt nicht immer das vor, was man sich vorstellt, urma benim yüzüme ol сaybımnı (3492) Halte mir meinen Fehler nicht vor. Überall lauern Gefahren und auch der Teufel gibt sich Mühe, um Menschen zu verwirren, recīm Şeytān azdurmaġa öze-nübdür (2265) Der verdammte Teufel versucht, vom richtigen Weg abzubringen;

auch die Ungläubigen können einen vom Gottesweg entfernen so: kāfir ehlinden с uz-let qılmaq kerek (4822) Halte dich von den Ungläubigen fern. Genauso wenig edle Menschen wandeln auf der Erdkugel, wie die Edelsteine unter den Steinen sich be-finden, den Unterschied kennen jedoch nur noch wenige: her daş velākin gevher daş olmaz (4951) Nicht jeder Stein ist ein Edelstein, dükel kimse gevhering qadrin bilmez (4952) Nicht alle Menschen wissen den Wert des Edelsteins. Wenn man von einem Gastgeber bewirtet oder von einem König ernährt wird, darf man die Großzügigkeit des (Haus)Herren nicht sofort vergessen: tuz ötmek bizden yėdingiz (4251) Ihr habt von uns Salz und Brot bekommen.

Es ist allerdings nicht einfach, zwischen einem Weisheitsspruch und einem gewöhnlichen Vers zu unterscheiden. Einerseits sind gereimte Volksweisheiten, gar nicht so selten, andererseits hat der Verfasser keinen Vers als Sprichwort bezeichnet oder sonstwie darauf hingewiesen. Hinzu kommt noch, dass die Sprichwortsamm-lungen, die uns heute zu Verfügung stehen, viel später entstanden sind und daher sich zum Vergleich nicht eignen. Meine Bemühungen, Weisheitssprüche сAlīs anhand anderer Quellen zu bestimmen, sind leider so gut wie erfolglos geblieben. Ich konnte daher nicht mehr tun, als vorstehend einige Sprüche aufzulisten, die von mir als sol-che empfunden wurden.