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Zur Person des Autors с Alī

Normalerweise werden orientalische Dichter und ihre Werke in bibliographi-schen Lexika, den Tezkires, aufgeführt, die meistens von Literaten der nachfolgen-den Generationen verfasst wurnachfolgen-den. Leider fehlt in einschlägigen Quellen jede Spur von unserem Dichter. Da die schriftlichen Quellen also keine biographischen Daten liefern, sind wir in dieser Beziehung auf Rückschlüsse aus dem vorliegenden Werk angewiesen.

Anhand seines Werkes können wir feststellen, dass сAlī ein gebildeter Mann war. Seine Korankenntnisse und seine Beherrschung der arabischen Sprache beweist er damit, dass er stets passende Koranverse oder Bruchteile davon, manchmal mit Übersetzung, als Beweise für seine Erzählung zitiert. Außerdem war er sehr wahr-scheinlich der erste türkische Dichter, der die Yūsuf-Legende verfasst hat, so dass er in Ermangelung der einheimischen Vorbilder auf arabische und persische Quellen zurückgreifen musste. Letzteres bestätigt er, übrigens in folgenden Versen:

4935. Yūsuf sawçı qıssasın qılduq сayān 4936. сarab сacem dil yetdükçe qılduq beyān Wir haben die Legende vom Propheten Yūsuf erzählt,

und soweit [meine] arabischen und persischen Sprachkenntnisse reichten, gedeutet.

53 N. Xisamov, Qol Ğali Qıyssai Yosıf, Qazan 1997.

54 Н. Ш. Хисамов, Сюжет Йусуфа и Зулейфи в тюрко-татарской поэзии XIII-XV вв. (Проблема версий), Казань 2001.

In den folgenden Versen dagegen sind die Angaben etwas greifbarer und besser nachprüfbar, da er hier einen im Orient bekannten Namen erwähnt:

101. meşhūrdur rivāyetdür ol Cābirdan 102. bir cuhūd var idi adı Būsitān 103. su’āl sordı ol cuhūd haq rasūldan 104. dürüst cevāb sahih söz ister ėmdi Es ist bekannt, von Cābir wird es überliefert, es gab einen Juden namens Būsitān,

der den wahren Propheten fragte,

und eine korrekte und einwandfreie Antwort forderte.

Eine Überlieferung von Cābir bezüglich der Namen der Sterne findet man wirklich in Korankommentaren, etwa in Tabarīs Tafsīr55, Zamaxşarīs al-Kaşşāf56 und Baidāwīs Anwār al-Tanzīl57. Die besagte Überlieferung von Cābir lautet im Kom-mentar Baidāwīs wie folgt:

“Es ist nach Cābir überliefert: ein Jude kam zum Gesandten Gottes und sagte:

Muhammed! Erzähle mir von den Sternen, die Yūsuf sah! Da schwieg der Prophet.

Dann kam Gabriel herab und unterrichtete ihn darüber, worauf der Prophet zu dem Juden sagte: Wirst du Muslim, wenn ich dir darüber Kunde gebe? Als der Jude es bejahte, sagte der Prophet: Caryān, at-Tāriq, az-Zayyāl, Qābis, сAmūdān, Falīq, al-Musabbih, add-Darūh, al-Farс, Vassāb und Zul-katifayn. Yūsuf sah sie vom Himmel herabkommen und vor sich niederfallen. Da sagte der Jude: Bei Gott! Das sind ihre Namen.”

сAlī hat diesen Dialog zwischen dem Propheten und dem Juden in derselben Reihenfolge in seinem Gedicht wiedergegeben und sagt vorweg (Vers 101), dies sei eine bekannte Überlieferung. Daraus entsteht der Eindruck, dass сAlī diese Überliefe-rung in mehreren Büchern gelesen haben müsste.

Im Gedicht ist mehrere Male von den Überlieferern die Rede, die namentlich nicht genannt werden, z.B.:

1559. rāvilerden rivāyet eyle idi

So war die Überlieferung der Überlieferer.

2503. baсżı müfessirler aydur oldı bürhān

55 Tafsīr, Kairo 1960, Bd. 15 S. 555.

56 al-Kaşşāf, Beirut 1947, S. 443.

57 A.F.L. Beeston, Baidāwī’s Commentary on Sūrah 12 of Qur’ān, Oxford 1963, S. 3 und 76.

Einige Korankommentatoren sagen, dass Gott Yūsuf ein Zeichen eine Eingebung gegeben hat.

4838. bir nėçeler böyle rivāyet qılur ėmdi Einige überliefern es auf diese Weise.

4839. bir nėçeler aydur Reyyān telim сömür sürdi

Manche erzählen, dass Reyyān ein langes Leben gelebt hat.

Die Tatsache, dass im Gegensatz zur orientalischen Tradition сAlīs Gedicht keine Widmung aufweist, lässt darauf schließen, dass сAlī sich keinem Machtzent-rum verpflichtet fühlte und keine Bezahlung für seine Arbeit erwartete. Das ist im-merhin eine kleine Information über seine Lebensumstände. Er dürfte wohl kein Hofdichter gewesen sein, sondern wollte als frommer Mensch den Lesern einen lehr-reichen Text und eine schöne Erzählung aus dem Koran vermitteln. Ein solches Vor-gehen und die einfach verständliche Art des Autors erinnert uns an die Gedichte Yā-savīs oder auch an die von Yūnus Emre mit dem Unterschied, dass die beiden letzte-ren Mystiker waletzte-ren, wir in unserem Gedicht dagegen keine mystischen Elemente vorfinden. Diese Indizien sind freilich keine bahnbrechenden Erkenntnisse über сAlīs Person, aber beim Fehlen des biographischen Materials sind auch solche Kleinigkei-ten erwähnenswert.

In seinem Aufsatz “Ein Alttürkisches Gedicht” hat M. Th. Houtsma sich auch über die Herkunft der Yūsuf-Legende Gedanken gemacht. Da die Sprache des Wer-kes nach Houtsma weitgehend mit der Sprache von Rabġūzīs Qısasu-l-anbiyā über-einstimmt, verlegt er die Heimatstätte unseres Gedichtes nach Zentralasien mit der Bemerkung, dass der Dialekt des Werkes viele Berührungspunkte mit dem des Co-dex Cumanicus zeige. Die These von Houtsma konnte bisher nicht widerlegt werden.

In mehreren seiner Arbeiten hat sich auch Chisamov unter anderem mit der Herkunft von сAlī auseinandergesetzt. Das ist verständlich, wenn man weiß, dass die Geschichte von Yūsuf unter den Tataren in der Popularität einem Nationalepos gleich kommt. Chisamov stellte im folklorischen Werk Istoriya Bulgarii von Jalt-schigol-ugli (1763-1837) einen Kul Ali fest, auf den auch schon Almaz aufmerksam geworden war. Dieser Kul Ali habe sich von Bulgaria nach Chorasm begeben, um in einer Medrese zu unterrichten. Seiner Tätigkeit als Lehrer sei er bis zum Mongolen-einfall nachgegangen und er habe seine Yūsuf-Legende während seines Aufenthaltes in Chorasm verfasst.58 Die lange Abwesenheit des vermeintlichen Dichters von der Heimat ist nach Chisamov die Ursache für die Mischsprache der Legende. Chisamov hebt desweiteren die besondere Einfühlsamkeit des Dichters der Yūsuf-Legende bei der Beschreibung der Beziehung zwischen Vater und Sohn hervor, in der er

58 Н. Ш. Xисамов, Поэма “Кысса–и Йусуф” Кул‛али, S. 20

len zwischen dem Leben unseres Autors und dem Leben des beschriebenen Kul Ali sieht.

Es scheint jedoch logischer anzunehmen, dass das Wort qul (in russischer Umschrift kul bei Chisamov) im Vers 4965 ein Wortspiel ist, mit dem der Dichter seinen Namen von dem Namen Gottes abgrenzen wollte:

4965. rahmet qılġıl yā сAlī qul сAlīye

Erbarme dich, oh Du Erhabener, diesen Sklaven сAlī

Selbst wenn der Verfasser Qul als Beinamen gehabt hätte, würde dies immer noch nicht ausreichen um dessen Identität zu klären, so wie Chisamov es versucht hat, weil сAlī als Vor- und qul als Beiname im Mittelalter keine Seltenheit waren.

Mit dem obengenannten Werk Tävarychy Bolgarija (Istoriya Bulgarii) des Verfassers Tadjetdin Jaltschygol-ugly beschäftigt sich ein Artikel in Boryngy Tatar Ädäbijaty.59 Auf Seite 76 des Werkes Boryngy Tatar Ädäbijaty wird sogar der Teil zitiert, in dem sich die Geschichte von Kol Gali befindet. Es wird da folgendermaßen berichtet: Timur habe den König von Bulgaria, der angeblich Urgroßvater von Kol Gali sein soll, getötet. Kol Gali sei nach Chorasm gegangen und dort habe er 45 Jah-re an einer MedJah-rese unterrichtet, bis ein gewisser Tusi Chorasm angJah-reift. Daraufhin habe Kol Gali bei den Kirgisen Zuflucht gefunden. Von den Kirgisen flüchtete er weiter und kam in seine Heimat zurück. Dort wird er auch nicht in Ruhe gelassen;

nachdem ein Drache vor der Stadt erschien, verließ das ganze Volk die Stadt und wurde eine neue Stadt namens Büler gebaut. Er starb 110-jährig und war der Lehrer von Ibn Chadschib. Auf den ersten Blick wird klar, dass man diese Geschichte nicht ernst nehmen kann. Die ist historisch nicht begründet und sollte eher als eine folklo-rische Erzählung denn als eine Quelle für die Literaturgeschichte betrachtet werden.

Auch der aserbaidschanische Wissenschaftler Zeynalof dagegen findet die Theorien von Chisamov und Almaz, nach denen сAlī in der Medrese von Chorasm unterrichtet hätte und während des mongolischen Einfalls getötet sein sollte, unhalt-sam, da solide Beweise über das Leben сAlīs fehlten.60 Nach der Ablehnung dieser tatarischen These verweist Zeynalof auf die Tatsache, dass сAlīs Gedicht eine Reihe grammatischer und lexikalischer Elemente beinhaltet, die den südlichen Turkspra-chen zuzuordnen sind und zieht daraus den Schluss dass dieses Werk, wie auch die Geschichten von Dede Korkut, im Gebiet der Oghusen verfasst worden sei. Auch diese Argumentation überzeugt nicht gänzlich, weil in unserem Gedicht die osttürki-schen Elemente vielleicht noch stärker vertreten sind als die ogusiosttürki-schen.

A. S. Furat hat wohl eine plausiblere Erklärung für die Herkunft des Dichters:

er nimmt an, dass die Yūsuf-Legende von einem Oghusen aus Chorasm verfasst

59 X. Xисмтyллин, Tварихы Болгария, in: Борынгы Татар дбияты, Казан 1963, S. 444-466.

60 F. Zeynalof, Ali’nin Kıssa-yı Yūsuf’u, in: Kardaş Edebiyatlar, Sayı 9. Erzurum 1985, S. 43.

wurde.61 Somit könnte sich das Sprachgemisch erklären lassen. Seine These ist auch nicht unproblematisch. Warum sollte eigentlich ein Künstler, selbst wenn er in einer Sprachinsel lebte, im selben Vers z.B. unterschiedliche Suffixe benutzen? Liegt denn der wahre Grund nicht anderswo, z.B., dass сAlīs Werk womöglich von einem Ko-pierer für Oghusen übersetzt wurde oder sogar mehrere Abschreiber die Yūsuf-Legende jeweils ihrer Sprache angepasst haben? Auch die gedichtete Yūsufgeschich-te von Mahmūd wurde übersetzt und der Übersetzer gab im Gedicht seinen Namen an.62 In unserem Werk sehen wir zwar keinen Hinweis auf einen Übersetzer, doch lässt die Mischsprache gerade darauf schließen.

Die einzige zuverlässige Information über die Persönlichkeit des Dichters finden wir im Werk selbst:

4959. bunı qoşan żaсīf bende adı сAlī

wer dies gedichtet hat, ist der arme Diener Gottes namens сAlī 4965. rahmet qılġıl yā сAlī qul сAlīye

sei, oh Du Erhabener, diesem Sklaven сAlī gnädig

Wir erfahren vom Autor ferner dass, er sein Qıssa-i Yūsuf am 30. Receb des Jahres 630 nach der Hidschra bzw. am 12. Mai des Jahres 1233 nach unserer Zeitrechnung vollendet hat, das heißt um diese Zeit noch am Leben war.

4972 Receb ayı Calab otuzından 4973 tārixning altı yüz otuzından 4974 bu żaсīf bu kitabnı düzdi ėmdi

am 30. des edlen Monats Receb im Jahre 630

verfasste diese Wenigkeit nun dieses Buch.

Hätte сAlī eine irdische Macht gelobt, wäre das Werk einem Fürsten gewidmet oder hätte der Autor der Yūsuf-Legende im Verlauf des Gedichtes irgendwelche Hinweise über seine Heimat gegeben, wären uns die vielen Spekulationen, die wir anstellen mussten, erspart geblieben.