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Was verstehen die Sagas unter Schmerz?

Im Dokument Und es schrie aus den Wunden (Seite 146-149)

Konungasögur

10 Zum Schmerzverständnis der Sagas

10.3 Was verstehen die Sagas unter Schmerz?

Da der ved kveisa i Folkesproget oftere betegnes en Maddik, et Insekt […], har Betydningen: Byld, Værk sandsynligvis sin Grund deri, at man ansaa denne for at være en Følge af, at der havde sat sig en giftig Orm (eitrkveisa) i den af Værk angrebne Legemsdel, […].431

Grøn gibt eine deutsche Übersetzung dieser Stelle, unterläßt es aber, Værk zu übersetzen:

Weil in der Volkssprache öfters mit „kveisa“ eine Made oder ein Insekt bezeichnet wird, hat die Bedeutung „Geschwür“ wahrscheinlich darin ihre Begründung dass man dasselbe als eine Folge davon betrachtete, dass ein giftiger Wurm („eitrkveisa“) sich in dem angegriffenen Theile des Leibes eingenistet hatte.432

Auch im ODS stellt Schmerz die Hauptbedeutung von værk dar. In einer Fußnote heißt es jedoch: „Værk bedeutet in anderen dänischen Provinzen ‚Schwellung’.”433

In einer weiteren Spezialanwendung wird der Begriff auch mit Krankheiten aus dem rheumatischen Formenkreis in Verbindung gebracht: „Leiden, das mit (besonders: intermittierenden) Schmerzen verbunden ist; nun besonders bezogen auf Gicht(schmerz); Rheumatismus.”434 Grøn435 und Reichborn-Kjennerud436 verweisen ebenfalls auf diesen Umstand.

10.3 Was verstehen die Sagas unter Schmerz?

An den zuletzt behandelten Textbeispielen läßt sich ein Schmerzverständnis ablesen, das nicht mit der heute gängigen Auffassung im Einklang steht. Die Faustregel:

Schmerz ist alles, was weh tut, scheint zumindest für diese Sagas nicht zuzutreffen.

Þórðr Folason verliert zwar fast seinen Finger, kümmert sich aber nicht darum. Erst als sich die Wunde entzündet, hat er auf einmal so starke Schmerzen, daß er es kaum ertragen kann („[…]; [der Finger] beginnt nun so zu schmerzen, daß er es kaum ertragen kann.”).437 Da er also augenscheinlich rein physisch in der Lage ist, Schmerz zu empfinden, muß er auch etwas gefühlt haben als er verletzt wurde.

Dieser Verletzungsschmerz verfügt offenbar über eine ganz andere Dimension als

431 Fritzner 1973 (2), 368.

432 Grøn 1907-1908, 142; siehe auch Reichborn-Kjennerud 1927-1947 (2), 140 f.

433 ODS 1954, 928.: „Værk betyder i andre danske Provindser Hævelse.”

434 ODS 1954, 928: „lidelse, der er forbundet m. (især: intermitterende) smerter; nu især om gigt(smerter); reumatisme.”

435 Grøn 1907-1908, 505 f.

436 Reichborn-Kjennerud 1927-1947 (2), 116 f.

437 […]. líútr nu õværk úva at hann fær var|la þolat. Olafs saga hins helga, 89 (Johnsen 1922).

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der Entzündungsschmerz oder der Therapieschmerz, den der heilige Óláfr ihm zufügt. Es liegt nahe, daß der Verletzungsschmerz nicht extra genannt zu werden braucht; er ist selbstverständlich vorhanden. Ausgedrückt wird dies im Wort sár. Wie bereits dargestellt, bedeutet das Substantiv sár ‚Wunde’, während das Adjektiv sárr neben ‚verwundet’ auch mit ‚schmerzhaft’ übersetzt werden kann. Zudem hat sich die Bedeutung des Substantivs von ‚Schmerz’ zu ‚Wunde’ gewandelt. Es schwingt also jedes Mal unterschwellig Schmerz mit, wenn von einer Wunde die Rede ist.

Damit wird seine Erwähnung überflüssig, denn, wie Rüttimann im Zusammenhang mit Kriegsverletzungen bemerkt: „Der Schmerz wird gewissermaßen zu einer Gegebenheit, als zum Leben gehörig betrachtet.“438 Das antike Schmerzverständnis geht sogar so weit, ihn als zum Ereignis gehörig zu fordern: „Seine Ausschaltung hätte als widersinnig, als sinnlos gelten müssen.“439

Hieraus kann nur geschlossen werden, daß Þórðr den obligatorischen Wundschmerz nicht als Schmerz im eigentlichen Sinne interpretiert. Die Wunde tut zwar weh, doch das empfindet er als normal. Es gilt der Verhaltenscodex des nordischen Männlichkeitsideals: „Tja, was soll man machen? Man muß es aushalten.“440

In den Sagas finden sich zum verletzungsbegleitenden Schmerz dennoch vereinzelte Hinweise. Es wurde beispielsweise bereits an anderer Stelle auf folgenden Satz aus der FóstbrÍðra saga hingewiesen: „[…] und es schrie laut aus den Hohlwunden, wie es die Natur der Wunden ist.“441 In der Gull-Þóris saga bekommt Þórir im Traum ein paar Handschuhe geschenkt, mit denen sich Wundschmerz lindern läßt:

Ich werde dir auch Handschuhe geben, wie du sie nicht wieder bekommen wirst, weil deine Leute unverwundbar werden, wenn du sie mit ihnen bestreichst. Diese Handschuhe sollst du auch tragen, wenn du die Wunden der Leute verbindest und der Schmerz wird dann schnell verschwinden.442 Abgesehen davon, daß es sich bei diesen Zauberhandschuhen um ein phantastisches Element handelt, wird doch deutlich, daß Wunden generell mit Schmerzen einhergehen. Ohne schmerzende Wunden gäbe es diese Handschuhe wahrscheinlich

438 Rüttimann 1987, 153.

439 Rüttimann 1987, 154.

440 Zborowski 1960, 193.

441 […] ok lét hátt í holsárum, sem náttúra er til sáranna. FóstbrÍðra saga, 272 (Björn K. Þórolfsson &

Guðni Jónsson 1958 [ÍF 6]).

442 Eg skal ok gefa þér glófa þá, er þú mant enga fá slíka, því at liði þínu mun óklaksárt verða, ef þú strýkr þeim með. Þessa glófa skaltu á höndum hafa, þá er þú bindr sár manna, ok man skjótt verk ór taka. Gull-Þóris saga, 184 (Þórhallur Vilmundarson & Bjarni Vilhjálmsson 1991 [ÍF 13]).

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nicht; ihre Existenz hätte sich erübrigt. Þorbjôrn aus der Heiðarvíga saga weiß ebenfalls, daß Wunden schmerzen: „Es ist kein Trolltum, wenn jemand Wunden erträgt […].”443

Eine Nachricht wert ist Schmerz erst, wenn Ereignisse außerhalb des Normalen eintreten. Erst als bei Þórðr die Entzündung einsetzt und der heilige Óláfr den Finger zurück an seinen Platz stößt, wird Schmerz zum Thema. Nun sprengt das Geschehen die Grenzen des Alltäglichen. Auf der einen Seite bedroht die Wundinfektion sein Leben, denn ohne die Möglichkeit zu antibiotischer Therapie ist die Prognose infaust. Auf der anderen Seite erscheint ihm König Óláfr. Beides ist angsteinflößend und lenkt die Aufmerksamkeit auf den verletzten Finger.444 Daß es hierdurch zu einer Schmerzverstärkung kommen kann, ist erwiesen.445 Anders ließe sich nur schwerlich erklären, warum Óláfrs chiropraktisches Eingreifen schmerzhaft sein sollte, das Verletzungstrauma inklusive der folgenden drei Tage aber nicht.

Ähnlich verhält sich Grettir angesichts seiner Beinwunde. Zwar steckt die Axt im Knochen446 und es ist eine große Wunde, aber er wirkt unbeteiligt.447 Erst als sich die Infektion manifestiert, ändert sich die Situation. Der Held und stärkste Mann Islands kann vor Schmerz nicht mehr ruhig liegen und gibt in indirekter Rede zu, unter Schmerzen zu leiden: „Grettir sagt, daß ihm das Bein weh täte.“448 Im Normalfall wäre eine solche Schmerzreaktion mit dem Heldenstatus unvereinbar. Grettir verliert nur deshalb nicht sein Gesicht, weil die Ursache seiner Beschwerden übernatürlicher Natur ist. Er weiß selbst, daß sein Leiden auf den Zauber von Þuríðr zurückgeht und

443 „Eigi er það trollskapr, at maðr þoli sár […].”Heiðarvíga saga, 303 (Sigurður Nordal & Guðni Jónsson 1956 [ÍF 3]).

444 Wall 1999b, 6: „Anyone who senses an unexpected new pain and does not feel fear is not normal.

There is a natural fear of the unknown in all of us and this is coupled with a fear of the consequent future.”

445 Cousins & Power 1999, 465.

446 Und im selben Augenblick als die Axt das Holz berührte, drehte sie sich so, daß sie flach auftraf und prallte vom Holz ab und ins rechte Bein Grettirs oberhalb des Knies und so, daß sie im Knochen steckte und das war eine große Wunde.

(Ok jafnskjótt sem øxin kom við tréit, snerisk hon flôt ok stôkk af trénu ok á fót Grettis inn hœgra fyrir ofan kné, ok svá at stóð í beini, ok var þat sár mikit.). Grettis saga, 251 Ásmundarsonar (Guðni Jónsson 1936 [ÍF 7]).

447 Da betrachtete er das Holz und sprach: „Derjenige erwies sich nun als überlegen, der Schlimmeres wollte und das wird nicht das einzige Mal sein. Hierher ist nun dasselbe Holz gekommen, das ich vor zwei Tagen hinausgeworfen habe.“

(Þá leit hann á tréit ok mælti: „Sá varð nú drjúgari, er verr vildi, ok mun þetta eigi eitt saman fara. Er hér nú komit þat sama tré, sem ek hefi út kastat tvá daga.“). Grettis saga Ásmundarsonar, 251 (Guðni Jónsson 1936 [ÍF 7]).

140 fühlt gleichzeitig, daß es sich bei dem Entzündungsschmerz nicht länger um den obligatorischen Wundschmerz handelt, da sich dessen Charakter verändert hat. Auch ein Held wie Grettir kann gegen diese übernatürlichen Mächte nichts ausrichten und ist gezwungen, Schmerzverhalten zu zeigen. Hierdurch werden dem Leser die unvorstellbaren Dimensionen dieses Schmerzes vor Augen geführt, denn im Laufe der Saga hat er erfahren, zu welch grandioser Selbstbeherrschung Grettir in Sachen Schmerz fähig ist. Unterstrichen wird die Macht des Zaubers durch die gleichzeitigen optischen Veränderungen der Verletzung. Das Bein ist innerhalb kurzer Zeit stark angeschwollen, blauschwarz verfärbt und die Wunde hat sich geöffnet.

Im Dokument Und es schrie aus den Wunden (Seite 146-149)