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Modulationsmöglichkeiten der Schmerzempfindung

Im Dokument Und es schrie aus den Wunden (Seite 25-29)

physiologischen Wundheilung ist. Unter den klassischen Entzündungszeichen befindet sich auch Schmerz: Rubor (Rötung), Calor (Wärme), Dolor (Schmerz), Tumor (Geschwulst) und Funktio laesia (Funktionsstörung).40 Auch in diesem Zusammenhang erfüllt er eine Schutzfunktion, indem er Schonung des betroffenen Körperteils erzwingt und dadurch verhindert, daß bereits geschädigtes Gewebe zusätzlich traumatisiert wird. Auf diese Weise erhalten die Reparaturmechanismen des Körpers Gelegenheit, den Schaden zu beheben. Die Ruhigstellung bewirkt Schmerzlosigkeit, was mit den chemischen Abläufen vor Ort zusammenhängt. Im entzündeten Gebiet werden bestimmte Substanzen freigesetzt (Bradykinin, Prostaglandin, etc.), die einerseits zur Heilung beitragen, andererseits aber auch die Nozizeptoren sensibilisieren. Aus diesem Grund sind schon geringe Berührungen oder Bewegungen schmerzhaft.41 Dieses Phänomen wird als Hyperalgesie bezeichnet. Wird der entzündete Bereich nicht beansprucht, herrscht Schmerzlosigkeit. Kommt es zu wiederholter Reizung der verletzten oder entzündeten Stelle, wird der Entzündungsprozeß durch zusätzlich freigesetzte Neurotransmitter gesteigert.42 Es handelt sich um eine Neurogene Entzündung.43 Entzündungsschmerz spielt in den Sagas eine große Rolle und wird hauptsächlich vertreten durch das Wort verkr.44

3.5 Modulationsmöglichkeiten der Schmerzempfindung

Der menschliche Körper verfügt über ein vielfältiges Instrumentarium um Schmerzreize zu blockieren, abzuschwächen oder gar zu verstärken. Es handelt sich hierbei teils um spezielle neuronale Strukturen, teils um Gewebshormone und körpereigene Opiate (Endorphine). Ihr Zusammenspiel ist überaus vielschichtig und erst ansatzweise erforscht. Es folgt ein kurzer Überblick ausgewählter Aspekte des aktuellen Forschungsstandes, um die Komplexität dieses Themas zu verdeutlichen.

Die Notwendigkeit hierzu ergibt sich aus dem Problem der „schmerzlosen Verletzung“. An vielen Stellen der untersuchten Sagaliteratur erleiden die handelnden Personen schwere Verletzungen, ohne daß der zu erwartende

40 Riede & Schaefer 1993, 209 f.

41 Cervero 1995; Perl 1996.

42 Lembeck & Holzer 1979; Holzer 1988; Maggi & Meli 1988.

43 Lynn 1996.

44 Vgl. auch Kap. 10.2

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Begleitschmerz auch nur mit einem Wort erwähnt würde. Zwar ergeben sich vereinzelte Hinweise, daß Wunden im allgemeinen schmerzhaft sind, doch darf in diesem Zusammenhang eine Untersuchung von Beecher nicht außer Acht gelassen werden. Im Jahre 1946 veröffentlichte er seinen viel beachteten Artikel „Pain in Men Wounded in Battle“ über seine Beobachtungen bei verwundeten Frontsoldaten des 2. Weltkrieges.45 Er stellte fest, daß eine große Anzahl der in der Schlacht Versehrten erstaunlich wenig über Schmerz klagte. Dieses Phänomen interpretierte er dahingehend, daß der Schmerz von der Erleichterung überlagert sein müsse, der unmittelbaren Lebensgefahr im Schützengraben entkommen zu sein. Die Beobachtungen ließen sich in einer weiteren Untersuchung Beechers reproduzieren:

„The incidence of severe pain was surprisingly low”46 ist eine der Hauptaussagen dieser Publikation. Möglicherweise läßt sich Beechers Beobachtung zu einem großen Teil auf die Ausschüttung körpereigener Opiate in extremen Streßsituationen zurückführen.47 Unterdrückung von Schmerz ist in diesen Situationen sinnvoll, um den Körper bei Flucht oder Kampf nicht zu behindern. Die schmerzlindernde Wirkung des Opiums ist zwar seit dem Alterum bekannt, doch erst vor wenigen Jahrzehnten gelang es der Molekularbiologie, den Nachweis körpereigener Opiate (Endorphine und Enkephaline) und der dazugehörigen Rezeptoren zu führen. Man fand heraus, daß Opioidrezeptoren nicht nur im gesamten Körper vorkommen, sondern auch vermehrt in den Schmerzzentren: im Hinterhorn des Rückenmarkes, im Thalamus und im Limbischem System.48 Hieraus folgerte man, daß Opioide eine bedeutende Rolle für die Schmerzmodulation durch Rückenmark und Thalamus spielen müssen. Mittlerweile wurde eine Reihe verschiedener Endorphinvarianten und Rezeptor-Untertypen entdeckt. Ihr Zusammenspiel innerhalb des Schmerzgeschehens ist bislang jedoch noch nicht ausreichend erforscht. Klar ist lediglich, daß sie in gewissen Situationen in der Lage sind, Schmerz zu unterdrücken.49

Wichtige Bedeutung unter den anatomischen Strukturen kommt dem Hinterhorn des Rückenmarks zu. Mittlerweile weiß man, daß hier die Reizverarbeitung nicht

45 Beecher 1946.

46 Beecher 1952, 27.

47 Van der Kolk & al.1989; Pitman & al. 1990.

48 Schwob 1999, 41.

49 Yaksh 1999, 266.

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statisch, sondern dynamisch erfolgt. Ein und derselbe Reiz kann somit unterschiedliche Qualitäten annehmen und sowohl schmerzhaft als auch schmerzlos sein. Sogar normalerweise schmerzlose Reize können hier vielfache Verstärkung erfahren, so daß sie Schmerzcharakter annehmen. Wie ein Nervenimpuls der Peripherie im Hinterhorn verarbeitet wird, hängt ganz vom aktuellen Operationsmodus ab. Nach derzeitigen Erkenntnissen arbeitet der Körper in vier verschiedenen Wahrnehmungszuständen.50

Modus 1 ist der Normalzustand eines gesunden Individuums. Geringe Reize, wie z.B.

leichte Berührungen sind schmerzlos und werden durch Rezeptoren geringer Reizschwelle vermittelt. Starke Stimuli aktivieren Nozizeptoren und sorgen damit vorübergehend für Schmerz. Die Nozizeptoren treten in Aktion, noch bevor Gewebe verletzt wird. Dadurch ist dieser Modus in der Lage, verläßlich vor Verletzungen zu warnen, bzw. diese anzuzeigen. Gewebeschäden rufen protektive Verhaltensweisen hervor, die als physiologische Schutzmechanismen eine Schlüsselrolle im Schmerzverhalten einnehmen. Reflexartiges Entfernen der Noxe (= schädigender Reiz) und anschließendes Vermeidungsverhalten verhindern weitere Verletzung.

Modus 2 ist durch Schmerzlosigkeit bei erregten Nozizeptoren und gleichzeitig blockierter Schmerzleitung gekennzeichnet. Erreicht wird dies hauptsächlich durch inhibitorische Synapsen im Hinterhorn. Die daraus resultierende herabgesetzte Empfindung wird auch „Hyposensibilität“ genannt und kann in Notfallsituationen das Überleben sichern. Schmerz stellt z.B. im Kampf ein Handicap dar, weil er die Bewegungsfähigkeit hemmt. Schmerzlosigkeit ermöglicht Verteidigung und evt.

auch Flucht. Dieser Modus ist von Bedeutung für die Kampfverletzungen der Sagas und steht obendrein in Beziehung zur bereits geschilderten Endorphinausschüttung.

Die verantwortlichen Zentren für die Inhibition von Schmerzimpulsen sitzen teils im Gehirn, teils im Hinterhorn. Über Anatomie und Pharmakologie hemmender spinaler Systeme ist bereits einiges bekannt. Unklar ist jedoch noch, wie sie im Detail aktiviert werden und Schmerzunterdrückung bewirken.

Modus 3 ist durch verstärkte Erregbarkeit der Schmerzverarbeitung im Hinterhorn gekennzeichnet. Schon leichte Sinnesreize lösen Schmerz aus (Allodynie) und normale Schmerzreize werden um so stärker wahrgenommen (Hyperalgesie). Man beobachtet diesen Zustand nach Abschluß der Wundheilung in ehemals verletztem Gewebe, bei Entzündungen als Entzündungsschmerz und bei Schädigung des

50 Doubell, Mannion & Woolf 1999, 165 ff.

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peripheren oder zentralen Nervensystems. Er ist nicht zu verwechseln mit entzündungsbedingter peripherer Sensibilisierung von Nozizeptoren. Auch Hypersensibilität kann sich als wertvoll für das Überleben erweisen. Sie ruft Schonverhalten hervor, das betroffene Körperregionen vor weiterer Verletzung schützt und auf diese Weise Regenerations- und Heilungsprozesse fördert.

Die drei Modi können fließend ineinander übergehen und es ist das erklärte Ziel von Schmerzbehandlung, Modus 1 herbeizuführen.

Bei Modus 4 findet eine nicht mehr rückgängig zu machende Umprogrammierung von Nervenverschaltungen statt. Als Auslöser gelten Verletzungen des peripheren und/oder zentralen Nervensystems. Die betroffenen Nerven verkümmern,51 wodurch ihre Schaltstellen im Hinterhorn frei werden.52 Gesunde Nerven sprossen daraufhin aus und besetzen die freien Plätze.53 Diese Umbauvorgänge sind bereits 2 Wochen nach einer Nervenverletzung abgeschlossen.54 Es resultiert eine Fehlverschaltung der Schmerzleitung. Die Folge: sensorische Fehlfunktionen, u.a. permanente Hypersensibilität oder andauernder Nervenschmerz (Neuropathien). Diese Schmerzzustände dauern auch dann noch an, wenn die ursprüngliche Verletzung schon lange verheilt ist.

Das Modell verdeutlicht, daß es aufgrund der verschiedenen Modi nicht immer möglich ist, von der Stärke der Noxe Rückschlüsse auf den resultierenden Schmerz zu ziehen und umgekehrt. Daher darf sich effektive Schmerzbehandlung nicht an Symptomen allein orientieren, sondern muß auch den zentralen Schaltzuständen Rechnung tragen. Die Modi sind jeweils sehr stabil, so daß Wechsel nicht ohne weiteres möglich sind. Dadurch kann Reizverarbeitung innerhalb eines Modus verläßlich und reproduzierbar stattfinden. Gleichzeitig werden zuverlässige Abläufe auch in Grenzbereichen der Reizskala zu benachbarten Zuständen gewährleistet, ohne daß bei extremeren Stimuli gleich der ganze Modus geändert werden muß.

Beim Übergang von einem Modus in einen anderen findet ein kompletter Austausch zweier stabiler Zustände statt, die sich stark voneinander unterscheiden. Damit der Körper solche Sprünge vollziehen kann, ist eine gewisse Instabilität des Systems vonnöten. Bei Erreichen eines bestimmten Schwellenwertes wird umgeschaltet und

51 Castro-Lopes & al. 1990.

52 Coggeshall & al. 1997.

53 Skene 1989.

54 Woolf, Shortland & Coggeshall 1992; Doubell & Woolf 1997.

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gleichzeitig Mechanismen zur Stabilisierung des neuen Operationsmodus in Gang gesetzt.

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