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Änderungen der politischen Machtstrukturen

Im Dokument Und es schrie aus den Wunden (Seite 62-65)

5 Die soziale Ordnung im mittelalterlichen Island als normenstiftende Instanz gruppenspezifischen Schmerzverhaltens

5.9 Änderungen der politischen Machtstrukturen

Noch dazu herrschte die allgemeine Auffassung, das Land nicht für immer übereignet zu haben, denn nach isländischer Besitzauffassung gehörte es ja der Familie. Die Kirche hingegen forderte Ende des 12. Jahrhunderts im Rahmen der libertas ecclesiae Kontrolle über die Kirchen und Herausgabe des dazugehörigen Landes. Vertreten wurde sie durch den Bischof von Skálholt, Þorlákr Þórhallsson (im Amt 1178–1193). Er setzte sich für die Ernennung Geistlicher durch die Kirche ein.

Bisher wurden die Priester vom jeweiligen Kirchenbesitzer „angestellt“. Weiterhin wollte er übereignetes Land in den permanenten Besitz der Kirche bringen. Hierüber entbrannte ein 100-jähriger Streit (staðamál) mit den wohlhabenden Familien des Landes. Die Auseinandersetzung wurde keineswegs friedlich geführt. Die Sturlunga saga legt beredt Zeugnis ab über einige dieser Kämpfe. „[…]; these conflicts tore apart society, the constitution of which was based upon solidarity and equality.“175 Erst nach Ende des Freistaates wurde im Jahre 1297 mit dem sættargerð von Avaldsnes ein Kompromiß erzielt. Mit diesem Abkommen setzte sich die kirchliche Besitzauffassung durch. Hatte ein Bauer mehr als 50 % seines Landes übereignet, fiel es an die Kirche. Waren weniger als 50 % abgetreten worden, fiel es an seinen ursprünglichen Besitzer. Die neue Regelung bedeutete empfindliche Verluste für einige der größeren Höfe.

5.9 Änderungen der politischen Machtstrukturen

Die Vermögensunterschiede der freien Bauern veränderten auch die politischen Strukturen. Um ihre Machtpositionen zu festigen und auszubauen, mußten die Häuptlinge ihre Gefolgsleute bei Laune halten, was mit erheblichen finanziellen Belastungen verbunden war. Aufgrund dessen war es ihnen kaum möglich, genug Kapital anzusparen, um dauerhafte Machstrukturen zu etablieren. Das änderte sich erst durch die neuen Verdienstmöglichkeiten nach der Christianisierung. Die Haukdœlir in Südisland schafften es als erste, generationenübergreifende Machtzentren zu errichten.176 Dadurch ermöglichte der Zehnte im Endeffekt die Etablierung feudaler Strukturen, mit langfristig destabilisierenden Auswirkungen auf

Nachbarländern nicht zum Protest kam, vermag er nur zu spekulieren (Orri Vésteinsson 2000, 69).

Auch ist nicht geklärt, in welchem Umfang das Gesetz Anwendung fand. Möglicherweise fand in großen Landesteilen über längere Zeiträume gar keine Zahlung statt, was auch an der Abgelegenheit mancher Wohnsiedlungen gelegen haben mag (ebd., 89 f.).

175 Hastrup 1985, 196.

176 Orri Vésteinsson 2000, 15.

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die gesamte Gesellschaftsordnung.177 Die Nachbarn von Kirchenbesitzern wurden durch die neuen Zahlungsverpflichtungen plötzlich zu „Schuldnern”.178 Orri Vésteinsson betont, daß sich diese Abhängigkeit weniger finanziell als vielmehr sozial auswirkte und vertritt damit eine etwas andere Position als Björn Þorsteinsson.

Durch den Zehnten brauchten die Häuptlinge nicht mehr so viel Energie in die Etablierung und Konsolidierung von Abhängigkeitsverhältnissen zu stecken, weil ihnen nun alle zu ihrem Kirchenbereich zählenden Bauern per Gesetz verpflichtet waren:

While the tithe did contribute to power consolidation, it did not do so by putting cash in the hands of chieftains but by creating social units which could be manipulated for political ends.179

Konflikte zwischen ursprünglich gleichgestellten freien Bauern waren in jedem Fall vorprogrammiert:

However, as all householders, church-owners or not, are supposed to have had equal political rights, it seems unlikely that all those who did not own churches were from the outset happy to place themselves in a subordinate relationship with neighbours whom they had previously regarded as equals.180 Die Goden als lediglich formelle Machthaber büßten unter den neuen Verhältnissen schnell ihren politischen Einfluß ein. Allmählich avancierten die Reichen zu den wahren Herrschern des Landes,181 denn durch die freie Godenwahl bestimmten sie, wem sie sich mit ihren Pächtern anschlossen. Das Ansehen eines Goden richtete sich nach der Anzahl seiner þingmenn und reiche Bauern brachten viele þingmenn mit.182 Um sich aus der Abhängigkeit zu befreien, mußten die Goden versuchen, materiell gleichzuziehen, doch ihr Erfolg hielt sich in Grenzen.183 Die einmal in Gang gesetzte Entwicklung konnte nicht mehr gestoppt werden und die Reichen begannen, das Gesetz für eigene Interessen zu mißbrauchen. „The result was a gradual dislocation of the law.”184 Man darf in diesem Zusammenhang auch die starke Stellung der Familie in der isländischen Gesellschaft nicht vergessen Die Familienclans

177 Björn Þorsteinsson 1953, 205 ff; 1966, 171,191.

178 Orri Vésteinsson 2000, 90.

179 Orri Vésteinsson 2000, 91.

180 Orri Vésteinsson 2000, 89.

181 Gunnar Karlsson 1975, 31 ff.

182 Hastrup 1985, 197.

183 Hastrup 1985, 197.

184 Hastrup 1985, 197.

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profitierten von ihren einfluß- und erfolgreichen Mitgliedern. Durch Anhäufung von Godenämtern gelangten einige zu Macht und Einfluß. Bis zum Jahr 1220 hatten eine Handvoll Clans Island unter sich aufgeteilt und am Ende der Freistaatzeit stellten sechs Familien alle Goden.185 Zu dieser Zeit hatte die politische Bedeutung des Amtes jedoch schon so sehr gelitten, daß es ihnen in erster Linie auf die Legalisierung ihres Führungsanspruches ankam.186 Eine dieser Familien, die Sturlungen, gab einer ganzen Epoche ihren Namen. Sie war obendrein schrifstellerisch sehr aktiv und stand für die umfangreichste Literaturproduktion ihrer Zeit.187

Um 1220 begann der norwegische König Hákon Hákonarson stärker als bisher Besitzansprüche auf Island anzumelden. Durch geschicktes Taktieren mit den isländischen Machthabern schürte er die beginnende Unruhe im Land. Die Folge waren politische Machtkämpfe, Intrigen und blutige Auseinandersetzungen, die schließlich das Ende des Freistaates herbeiführten. Im Gizurarsáttmáli von 1262/64 erwirkte Snorri Sturlusons ehemaliger Schwiegersohn Gizurr Þorvaldsson den friedlichen Beitritt Islands zu Norwegen.188 Erst 1944189 erhielt das Land seine Unabhängigkeit zurück.

185 Hastrup 1985, 120.

186 Orri Vésteinsson 2000, 9.

187 Meulengracht Sørensen 1977, 81.

188 Bestandteil des Vertrages war eine Klausel, die Gizurr zum Herrscher Islands machte. Von nun an bestimmte der König das isländische Recht. Die Isländer wurden den Norwegern rechtlich gleichgestellt. Im Gegenzug verpflichtete sich der König, in den ersten zwei Jahren jeweils sechs Versorgungsschiffe nach Island zu schicken.

189 Bereits 1918 wurde Island im Sambandslögin zu einem selbständigen Staat in Union mit Dänemark und erhielt den Namen Konungsríkið Ísland. Während es damit innenpolitisch souverän war, wurde seine Außenpolitik weiterhin von Dänemark bestimmt. Endgültig autonom wurde das Land erst 1944 (Byock 1992, 51).

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6 Das Christentum und seine Auswirkungen auf die

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