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Psychologie des Schmerzes: Aufmerksamkeit und Placebo

Im Dokument Und es schrie aus den Wunden (Seite 29-35)

gleichzeitig Mechanismen zur Stabilisierung des neuen Operationsmodus in Gang gesetzt.

3.6 Psychologie des Schmerzes: Aufmerksamkeit und Placebo

Die Psyche spielt im Schmerzgeschehen eine herausragende Rolle. Der emotionale Distress beim Schmerz gilt als seine unangenehmste Komponente. Angst, Zorn und Depression, aber auch Frustration, Schuld und Ekel sind nicht ungewöhnlich. Es ist der negative Affekt, der Schmerz in Leid verwandelt. In seiner Abwesenheit wären Betroffene nicht unbedingt als leidend zu bezeichnen. So hat sich gezeigt, daß Operationen am Frontalhirn den Verlust der unangenehmen Begleitgefühle des Schmerzes zur Folge haben können.55

Von sehr großer Bedeutung für die Schmerzwahrnehmung sind die Faktoren Aufmerksamkeit und Kontext. Ein Stimulus, dem keine Aufmerksamkeit zuteil wird, hat kaum Chancen, wahrgenommen zu werden. Worauf sich die Aufmerksamkeit gerade richtet, hängt in besonderem Maße von der jeweiligen Situation ab. Der Kontext bestimmt die Bedeutung des Stimulus und dadurch seinen Anteil an der Aufmerksamkeit. Wieviel das ist, wird durch den Thalamus festgelegt. Melzack und Wall sehen hierin eine mögliche Erklärung für anscheinend schmerzlose Verletzungen während Sportveranstaltungen oder im Krieg.56

Jede Sekunde des Tages treffen tausende Informationen über Umwelt und Körperfunktionen ein. Das Gehirn wird angesichts dieser Datenmengen vor eine sehr schwierige Aufgabe gestellt, da aufgrund limitierter Kapazitäten nur ein kleiner Bruchteil davon ins Bewußtsein gelangen kann. Es ist Obliegenheit des Gehirns, alle Meldungen zu prüfen und nur die Wichtigsten ins Bewußtsein weiterzuleiten. Da nur bewußt gemacht wird, was Aufmerksamkeit auf sich zieht, wäre Bewußtsein ohne Aufmerksamkeit nicht möglich. Das Bewußtsein besteht also mit anderen Worten aus der Summe aller Sinneseindrücke, die Aufmerksamkeit verdienen. Worauf sie sich letztlich richtet, orientiert sich an teils angeborenen, teils antrainierten Kriterien.

So merken beispielsweise Migränekranke sofort auf, wenn sie kleine Lichtblitze sehen, weil sie gelernt haben, daß ein Migräneanfall bevorsteht. Aufmerksamkeit kann sich nicht auf zwei Dinge gleichzeitig richten. Zwar ist ein schneller Wechsel zwischen verschiedenen Bewußtseinsinhalten möglich, doch simultane Verarbeitung

55 Freeman & Watts 1942; 1946.

56 Melzack, Wall & Ty 1982.

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von Sinneseindrücken ist ausgeschlossen. Man kann die Arbeitsweise der Aufmerksamkeit mit der eines Kellners im Restaurant vergleichen. Unter den zu Tisch sitzenden „Gästen“ (= ins Bewußtsein gelangende Sinneseindrücke) wird er da tätig, wo seine Dienste gefordert sind, kann aber immer nur einen Gast auf einmal bedienen. Zwar ist es möglich, erst Gast A ein Schnitzel zu servieren und dann Gast B die Rechnung zu bringen; beides gleichzeitig geht jedoch nicht. Autofahren und Unterhaltung mit dem Beifahrer sind beispielsweise parallel möglich. Der Fahrer kann jedoch entweder nur dem Gespräch oder nur der Straße folgen. Konzentriert er sich auf die Unterhaltung, übernimmt der „Autopilot im Gehirn“ das Fahren. Bremst jedoch das dicht vor ihm fahrende Auto plötzlich ab, ist die Unterhaltung vergessen.

Die volle Aufmerksamkeit gilt wieder dem Verkehr, bis die Gefahrensituation vorbei ist und das Gespräch von neuem aufgenommen werden kann. Verlangt die Aufgabe verstärkte Konzentration, werden auch parallele Abläufe erschwert. So beschränkt sich die Konversation eines Rallye-Piloten mit seinem Beifahrer auf dessen Anweisungen zum Streckenverlauf.

Gemäß Wall gründet sich diese Eigenart menschlicher Psyche auf die wichtigste Aufgabe der Aufmerksamkeit als Motor für Handlungsreaktionen.57 Das Gehirn, so Wall, prüft bei allen Sinneseindrücken, ob eine körperliche Reaktion erforderlich ist.

Der jeweils wichtigste Sinneseindruck wird der Aufmerksamkeit präsentiert, welche die Analyse durchführt und gegebenenfalls eine Reaktion anordnet. Da die Aufmerksamkeit aber nur einen Sinneseindruck auf einmal verarbeiten kann, ist im Ergebnis auch nur eine Handlung möglich. Man könne nicht gleichzeitig vor- und rückwärts gehen: „You must »make up your mind«.“58 Indem sämtliche Umweltinformationen gemäß ihrer biologischen Wichtigkeit fortlaufend neu hierarchisch gegliedert werden, wird das Überleben gesichert. Was biologisch wichtig ist, richtet sich nach angeborenen, erlernten und kulturellen Strukturen die im Thalamus verankert sind. Würde der Autofahrer seine Unterhaltung einfach fortsetzen, anstatt zu bremsen, wäre ein Auffahrunfall die Folge. Nur weil sich seine Aufmerksamkeit blitzschnell wieder dem Verkehr zuwendet und die Handlung

„Bremsen“ einleitet, kann ein Unfall abgewendet werden.

Dieser Mechanismus spielt wie gesagt für das Schmerzempfinden eine Rolle. Wenn das Leben in Gefahr ist und man sich z.B. aus einem brennenden Flugzeug retten

57 Wall 1999b, 2.

58 Wall 1999b, 2.

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muß, ist der Schmerz des bei der Bruchlandung verstauchten Fußes ohne Belang.

Überleben ist wichtiger als die Verletzung. Die Aufmerksamkeit gilt dem Entkommen der gefährlichen Situation und lenkt dadurch vom Schmerz ab.

Möglicherweise aus diesem Grund verspüren manche Verletzte in der Notsituation selbst und unmittelbar danach keine Schmerzen. Dieses Phänomen wäre zumindest ein Erklärungsansatz für das mangelnde Schmerzempfinden Þóroddrs in der Eyrbyggja saga:

Der Knecht des Goden Snorri sollte ihn entkleiden; und als er die Hose zurückziehen wollte, bekam er sie nicht von ihm herunter. Da sprach er: „Das ist nicht gelogen über euch Þorbrandssöhne, daß ihr ganz außergewöhnlich modisch gekleidete Menschen seid, da ihr so enge Kleidung tragt, daß sie nicht mehr von euch herunter kommt.” Þóroddr sprach: „Es wird nicht richtig angefaßt worden sein.” Danach stemmte er sich er mit dem einen Fuß gegen den Bettpfosten und zog mit aller Kraft, aber die Hose ging nicht herunter. Da ging der Gode Snorri hinzu und befühlte das Bein und entdeckte, daß ein Speer das Bein zwischen der Achillessehne und dem Schienbein durchbohrt und alles zusammengeheftet hatte, den Fuß und die Hose. Snorri sprach da, er sei ein rechter Trottel, daß er so etwas nicht bemerkt habe.59

Ablenkung stellt generell ein wirksames Mittel dar, Schmerz zumindest kurzfristig zu lindern. Manche alten Hausmittel basieren auf diesem Prinzip, z.B. Senfpflaster.

In Abhängigkeit individuell etablierter Prioritätsstrukturen sind auch eine Partie Schach, ein Spaziergang, etc. in der Lage, für die nötige Ablenkung zu sorgen.

Bischof Guðmundr läßt sich z.B. vorlesen und singt, um sich von seinem Gesichtsschmerz abzulenken:

Er hatte ein Gesichtsleiden und Schmerzen in der rechten Wange oberhalb des Auges. Lange sang er oder er ließ sich die Apostelgeschichten auf Latein vorlesen, wenn er wach war.60

Auch der gegenteilige Effekt ist möglich. Je mehr Aufmerksamkeit einem Schmerz gewidmet wird, desto stärker wird er wahrgenommen. Ein bedeutender Verstärker ist Angst, die bei schmerzhaften Ereignissen eine unausweichliche Begleiterscheinung darstellt: „Anyone who senses an unexpected new pain and does not feel fear is not

59 Heimamaðr Snorra goða skyldi draga af honum; ok er hann skyldi kippa brókinni, fekk hann eigi af honum komit. Þá mælti hann: „Eigi er þat logit af yðr Þorbrandssonum, er þér eruð sundrgørðamenn miklir, at þér hafið klæði svá þrông, at eigi verðr af yðr komit.“ Þóroddr mælti: „Vantekit mun á vera.“ Eptir þat spyrndi sá ôðrum fœti í stokkinn ok togaði af ôllu afli, ok gekk eigi af brókin. Þá gekk til Snorri goði ok þreifaði um fótinn ok fann, at spjót stóð í gegnum fótinn milli hásinarinnar ok fótleggsins ok hafði níst allt samt, fótinn ok brókina. Mælti Snorri þá, at hann væri eigi meðalsnápr, at hann hafði eigi hugsat slíkt. Eyrbyggja saga, 129 f. (Einar Ól. Sveinsson & Matthías Þórðarson 1935 [ÍF 4]).

60 Anlits mein hafði hann, ok lá verkr í kinn hans enni hægri ofan frá auganu. Löngum söng hann, eða lèt lesa firir sèr helgra manna sögur á latínu, þá er hann vakti. Brot úr miðsögu Guðmundar, 584 (Jón Sigurðsson & Guðbrandur Vigfússon 1858).

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normal. There is a natural fear of the unknown in all of us and this is coupled with a fear of the consequent future.“61 Es ist in erster Linie die Angst vor dem Unbekannten, die schmerzverstärkend wirkt. Ihre Ausprägung hängt dabei ganz entscheidend von den Umständen, der betroffenen Person und deren individueller Lebenserfahrung ab. Viele Patienten sind erleichtert, wenn sie mit Schmerzen einen Arzt aufsuchen und erfahren, daß ihre Beschwerden harmloser Natur sind. Sofort empfinden sie auch ihre Beschwerden als nicht mehr so stark und bedrohlich.

Inwieweit sich Ablenkung als effektive Maßnahme zur Schmerzbekämpfung einsetzen läßt, ist zur Zeit noch Gegenstand der Diskussion.62 Als alleinige Maßnahme hat sie im Experiment lediglich bei Stimuli geringer Intensität ihre Wirksamkeit erwiesen.63

Unter den Einflußmöglichkeiten der Psyche auf das Schmerzphänomen nimmt der Placeboeffekt eine herausragende Stellung ein. Seine naturwissenschaftliche Seriosität gilt mittlerweile als gesichert. Beim Placebo wirkt allein der Glaube, eine schmerzlindernde Handlung auszuführen.64 Der Begriff entstammt dem Lateinischen und bedeutet: „ich werde gefallen“. Hinter dem Placeboeffekt verbirgt sich eine therapeutisch eingesetzte Täuschung des Patienten. Verabreichung eines Placebos erzeugt denselben therapeutischen Erfolg als hätte es sich um den Wirkstoff selbst gehandelt. Bekannt ist der Placeboeffekt schon seit dem 17. Jahrhundert. Seit dem 18. Jahrhundert steht Placebo für pharmakologisch unwirksame Medizin.65 In Bezug auf Schmerz wurde er erst Ende der siebziger Jahre wissenschaftlich genauer ergründet. Man konnte nachweisen, daß seine Wirksamkeit auf Endorphinen beruht.66 Endorphinausschüttung allein reicht als Erklärung aber nicht aus, um das Rätsel des Placeboeffektes zu lüften. Er ist weit mehr als ein Schmerzmodulator, da er auch in Bereichen beobachtet wird, in denen Endorphine keine Rolle spielen.

Beispielsweise hat man Versuchspersonen aromatisiertes Wasser zu trinken gegeben, und ihnen suggeriert, es handele sich um Alkohol. Daraufhin waren 27-29 % der Versuchspersonen nach entsprechendem Genuß einer gewissen Menge

61 Wall 1999b, 6.

62 Eccleston 1995.

63 McCaul & Malott 1984.

64 Wall 1999b, 5.

65 Wall 1999a, 1419.

66 Levine & al. 1978; Levine, Gordon & Fields 1978; Grevert & Goldstein 1985.

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„betrunken“.67 Persönliche Erwartung scheint demnach die treibende Kraft des Wirkmechanismus von Placebos zu sein. Dementsprechend kann man schon vor einem Versuch herausfinden, bei wem der Placeboeffekt auftreten wird, nämlich bei Personen, die mit hohen Erwartungen teilnehmen. Bei Skeptikern bleibt er aus.68 Erwartung ist das Resultat eines Lernprozesses. Aus diesem Grund sprechen kleine Kinder auch nicht auf Placebos an. Sie hatten noch keine Zeit, Erfahrungen zu sammeln und daraus zu lernen. Der Lerneffekt hängt maßgeblich ab von Kultur, allgemeinem Hintergrund, Erfahrung und Persönlichkeit.69

Es gibt auch Erklärungsansätze, die den Placeboeffekt in den Bereich klassischer Konditionierung ansiedeln.70 Die Überlegung basiert auf Experimenten, bei denen man Versuchstieren im Rahmen einer festgelegten Versuchsanordnung Insulin injizierte, woraufhin der Blutzuckerspiegel sank. Wurde nach einiger Zeit innerhalb derselben Versuchsanordnung das Insulin durch eine Salzlösung ersetzt, beobachtete man ebenfalls ein Absinken des Blutzuckers. Neuere Untersuchungen deuten in der Tat darauf hin, daß beim Menschen der Placeboeffekt konditionierbar ist und dabei im Unterbewußtsein bestimmte Mechanismen ablaufen.71

Von dieser Warte aus betrachtet könnte man auch die in der untersuchten Sagaliteratur vorkommenden Reliquien, das geweihte Wasser oder die Salben als klassische Placebos charakterisieren. Aus theologischer Sicht verbietet sich dieser Ansatz jedoch, da es hier nicht um Placeboeffekte, sondern um Wunder geht. In der Guðmundar saga Arasonar findet sich z.B.:

Und als sie glaubten, für diesmal aus der gröbsten Gefahr für einen Kampf heraus zu sein, da untersucht der Priester Árni Arons Wunden und findet drei Schwertwunden und sein Bauch war weiträumig blau und voller Schnittverletzungen; sie gießen dann durch den Bischof geheiligtes Wasser hinein und legen danach einen Verband an. […] Danach löst der Priester Árni die Bandagen von Arons Wunden und alle Blutgerinnsel waren lose in den Wunden, so als ob dort die beste Salbe verwendet worden wäre. Aron gab auch wenig Schmerzen in seinen Wunden an, wie es zu erwarten gewesen wäre. Er führte das in erster Linie auf den allmächtigen Gott zurück und auf die Wasserweihe des Bischofs Guðmundr. Es wurde für seine Wunden auch keine andere Behandlung verwendet als das Wasser, das der Bischof

67 O‘Boyle, Binns & Summer 1994.

68 Bootzin 1985.

69 Wall 1999a, 1427.

70 Wickramasekera 1980; Reiss 1980.

71 Price & Fields 1997.

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Guðmundr geweiht hatte und sie heilten besser und schneller als es meist üblich war.72

3.7 Zusammenfassung

Schmerz ist ein multidimensionales Phänomen, das in seiner Komplexität vor allem auf den Einfluß einer Reihe psychischer Faktoren zurückzuführen ist. Besonders zu nennen sind: kultureller Hintergrund, Beobachtung (Lernen am Modell), kognitive Verarbeitung (Bedeutung des Schmerzes), Furcht und Angst, neurotische Persönlichkeitsstruktur, Grad der Extrovertiertheit, Grad der Kontrolle, Aufmerksamkeit, bzw. Ablenkung und persönliche Strategien im Umgang mit Schmerz.73 Darüber hinaus ist die Schmerzleitung von der Peripherie ins Gehirn nicht statisch, sondern unterliegt einer gewissen Plastizität, was auf den steuernden Einfluß des Zentralen Nervensystems zurückzuführen ist. Auf diese Weise können Schmerzreize verstärkt oder abgeschwächt wahrgenommen werden. An diesen Mechanismen sind sowohl anatomische Strukturen als auch biochemische Prozesse beteiligt. Schmerzmodulierende Mechanismen sind sinnvoll, weil von ihnen im Einzelfall das Überleben abhängen kann. In Bezug auf die Sagaliteratur stellt sich die elementare Frage nach dem Schmerz der Helden. Anscheinend gleichgültig ertragen sie selbst schwerste Verletzungen. Vorausgesetzt, es handelt sich hier nicht bloß um ein literarisches Topos, wären z.B. herabgesetztes Schmerzempfinden durch Abhärtung von Jugend an, abtrainiertes Schmerzverhalten, Endorphine, mangelnde Aufmerksamkeit oder Operationsmodus 2 im Hinterhorn denkbar.

72 Enn er þeir þottuz komnir or enum mesta haska firi ofriðe at sinne. þa leitar Arne prestr til sara Arons. ok finnaz iij. eggbitin. enn bukr hans var uiða blar ok eggbitinn. Steypa i siþan byskups uatne.

ok binda um eptir þat. […] Eptir þat leysir Arne prestr bond af sarum Arons. ok voro allar bloð lifrar láusár isaronum. sua sem þar v©re en bezsto smyrsl við høfð. Aron kallaðe ok litla verke fylgia sarum s(inum). eptir þui sem likende þottu. til vera. Kende hann þat fyrst allzualldanda Guði ok uatn vigslu G(uðmundar) byskups. Hann hafðe ok enga l©cning. aðra við sin sar. enn uatn þat er G(uðmundr) byskup hafðe vigt. ok grero b©ðe uel ok skiotara enn optaz var uánt. Guðmundar saga Arasonar, 218 (Stefán Karlsson 1983 [EA B 6]).

73 Cousins & Power 1999, 465.

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4 Sagaliteratur

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