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Vergleich der literarischen Anfänge in den Dolomiten, Graubünden und FriaulGraubünden und Friaul

Im Dokument Geschichte der ladinischen Literatur (Seite 48-52)

1.2 Die Anfänge der ladinischen Literatur

1.2.1 Vergleich der literarischen Anfänge in den Dolomiten, Graubünden und FriaulGraubünden und Friaul

Innerhalb der heutigen rätoromanischen Sprachinseln entwickelten sich die Literaturen sehr unterschiedlich. Die ältesten romanischen Schriftproben weist das Bündnerromanische auf: die Würzburger Federprobe aus dem 10./11. Jh.

(vgl. Liver 2002, 178 – 180; Liver 2010, 86 – 87) und die Einsiedler Interlinear-version aus dem 11./12. Jh. (vgl. Liver 1969, 209 – 236; Liver 2010, 87 – 91).

Als erster sicher datierbarer literarischer Text größeren Umfangs wird das 1527 entstandene, 704 Verse lange und meist in Elfsilblern verfasste Epos Chianzun da la guerra dagl Chiastè d’Müs (Lied des Krieges um das Schloss Musso) des Oberengadiners Gian Travers angesehen. Es entstand 33 Jahre früher als die Übersetzung des Neuen Testaments von Giachem Bifrun, doch lag es lange Zeit nur als Manuskript vor und wurde erst 1865 gedruckt.

26 Zwei markante Beispiele dafür sind das Gedicht ‘Na tgiantzong per la xent bona von Giosef Brunel und das Primizgedicht Per la Mëssa Novela del Reverendo Signur Giovanni Pescosta da Corvara i 5 d’agost 1879 von Cyprian Pescosta.

Gian Travers wurde 1483 in Zuoz geboren. Mit acht Jahren verließ er seine Heimat und kehrte nach abgeschlossener Ausbildung in Deutschland wieder ins Oberengadin zurück, wo er als angesehener Mann zahlreiche Ämter über-nahm. Als Unterhändler einer Bündner Gesandtschaft geriet er aber im Jahr 1525 bei der Rückkehr aus Mailand in Gefangenschaft und wurde im Schloss Musso am Comer See festgehalten. Erst ein Jahr später kam er gegen ein hohes Lösegeld wieder frei.

Im Bergell kursierte inzwischen ein Spottlied über die gefangenen Gesandten.

Travers muss dieser Angriff sehr getroffen haben, so dass er die Chianzun da la guerra dagl Chiastè d’Müs als Antwort und Selbstverteidigung schrieb:27

In que têmp sur la puntaglia, Zu jener Zeit wurde oberhalb von Puntaglia Aint in l’g Cummöen d’Bragaglia, im Gericht Bergell

Fat füt ‘na svargugnusa chianzun, ein schändliches Lied gedichtet

Da quels pouvers chi eiran in praschun, über jene Unglücklichen, die im Gefängnis waren.

Quel maister zuond fick ho fallô Jener Meister, der im Bergell diesen Stoff Ch’argumaint d’Bregaglia ho pigliô. aufgegriffen hat, hat sich schwer verfehlt.

Im Prolog wendet sich der Autor zuerst an Gott und bittet um Gnade für sein Werk. Dann erzählt er in mehreren Episoden den Ablauf des Krieges um das Schloss Musso. Schließlich endet das Lied mit einem Epilog, der eine captatio benevolentiae enthält in Form einer Entschuldigung seitens des Autors und eine Huldigung an Gott und die Jungfrau Maria (vgl. Liver 2010, 99 – 100).

Wenn man bedenkt, dass Gian Travers eine der einflussreichsten Persönlich-keiten seines Tales und seiner Zeit war, kann man sich gut vorstellen, dass auch seine Werke einen bedeutenden Einfluss auf die ladinische Sprache des Enga-dins ausgeübt haben (vgl. Deplazes 1987 I, 53 – 63; Bezzola 1979, 152 – 162).

Die ersten gedruckten bündnerromanischen Bücher sind hingegen religiösen Inhalts und stehen im Zusammenhang mit der Reformation und deren Anspruch, die evangelische Botschaft an die Gläubigen in ihrer Muttersprache heranzutragen (vgl. Liver 2010, 94 – 95): Im Jahre 1560 erscheint die ober-engadinische Übersetzung des Neuen Testaments von Giachem Bifrun (1506 – 1572) und 1562 die unterengadinische Übersetzung der Psalmen von Durich Chiampel (1510 – 1582). Diese Begründer der engadinischen Schrift-sprache bewegen sich in der neuen Schriftlichkeit mit erstaunlicher Gewandt-heit – Zeugnis und Folge einer profunden humanistischen Bildung (vgl. Liver 2010, 103), die wir – wenn auch fast drei Jahrhunderte später – auch bei vielen Pionieren der Verschriftung des Dolomitenladinischen feststellen können.

27 Text laut Bezzola 1979, 160 V. 623 – 628; deutsche Übersetzung in Liver 2010, 97 FN 85.

Diese Texte waren der Beginn einer bedeutenden religiösen Literatur auf Bündnerromanisch, die auch den Wettstreit zwischen dem zum Protestantis-mus bekehrten Engadin und der katholisch verbliebenen Surselva widerspie-gelt. Die frühen Bibelübersetzungen ebneten im Bündnerromanischen auch anderen Genres recht früh den Weg, etwa Reiseberichten und medizinischen Abhandlungen. Charakteristisch für das Engadin ist die Tradition der bibli-schen Dramen. Von „schöngeistiger Literatur“ im engeren Wortsinn kann man aber erst ab dem 18. Jh. sprechen. Es wurden Abenteuerromane und Erzählun-gen auf Bündnerromanisch verfasst oder ins Bündnerromanische übersetzt.

Die Manuskripte dieser Werke kursierten meist von Dorf zu Dorf, da ein Druck in der Regel zu teuer war. Freilich war bereits seit 1650 in Scuol im Unterengadin eine Druckpresse und seit 1680 in Tschlin eine Druckerei aktiv, die der Gründer Nuot Clà Janett später nach Strada verlegte. Hier wurden zahlreiche frühe bündnerromanische Schriften und Bücher gedruckt: religiöse Bücher, Liederbücher (oft mit Noten) und seit 1843 auch Zeitschriften (vgl.

Deplazes 1988 II, 33).28

Die Literatur in Gaubünden bzw. im Engadin stand Anfang des 20. Jh. noch stark unter dem Einfluss der Generation der im Engadin als randulins ‘Schwal-ben’ bezeichneten Emigranten. Die Horizonterweiterung der zurückkehrenden randulins – die meisten aus Italien – hat der rätoromanischen Literatur neue Kräfte gebracht, die auch nach dem Ende der Emigration wegen des Ersten Weltkrieges noch lange Zeit nachwirkten. Trotz der europaweiten Handelsbe-ziehungen, wie sie z. B. die Grödner Schnitzer hatten, lässt sich in den Dolo-miten ein derartiges Phänomen in der Literatur nicht beobachten. In der neu-tra len Schweiz, die am Zweiten Weltkrieg nicht „aktiv“ teilnahm, finden wir im Gegensatz zu den Dolomiten im 20. Jh. eine gewisse Kontinuität im litera-rischen Schaffen.

Ein überaus wichtiger Meilenstein für die bündnerromanische Literatur stellt die Rätoromanische Chrestomathie von Caspar Decurtins (1855 – 1916) dar, die zwischen 1896 und 1919 in 13 Bänden erschienen ist (Nachdruck 1982 – 1986, Chur: Octopus). Geplant und realisiert als ina raccolta dil meglier, eine Samm-lung der besten bündnerromanischen Texte, stellt sie ein „rätisches Monu-ment“ dar (P. Maurus Carnot).29 Ihr größter Wert besteht darin, dass durch sie viele traditionelle mündliche Überlieferungen, Manuskripte und Auszüge aus gedruckten Werken gesammelt und somit vor dem Verlorengehen gerettet worden sind (vgl. Decurtins 1993, 106 – 111).

28 Die Druckerei bestand bis 1880; heute ist darin ein Buchdruckmuseum eingerichtet.

29 Zur Rätoromanischen Chrestomathie vgl. Deplazes 1990 III, 50 – 54. Das Werk wird wegen seiner Wichtig-keit derzeit vollständig digitalisiert (Projekt Digitale Rätoromanische Chrestomathie, http://www.spinfo.phil-fak.uni-koeln.de/forschung-drc.html).

Aus den Dolomiten ist mit jenem Werk nur die sogenannte Gartner-Samm-lung Das Volkslied in Österreich aus dem Anfang des 20. Jh. vergleichbar (→ 1.4).

Friaul

Die ersten Texte des bereits von Dante in seinem Traktat De vulgari eloquentia erwähnten Friaulischen stammen aus dem Ende des 13. Jh. und sind ad mi nis-tra ti ver Natur (vgl. Vicario 2000, 259 – 274). Aus dem nachfolgenden Jahr-hundert stammen aber bereits die ersten literarischen Texte: die zwei Balladen Piruç myo doç inculurit (1380; die Autorschaft des zwischen 1365 und 1430 in Cividât/Cividale tätigen Notars Antonio Porenzoni ist umstritten) und Biello dumlo di valor (1416; die Autorschaft des Notars Simon Victoris da Feltro ist ebenfalls umstritten). Die ersten namentlich bekannten Dichter sind der Geistliche Nicolò da Cereseto (erstes bekanntes Gedicht 1431) und Nicolò de Portis, ein Arzt aus Cividât/Cividale (1413 – nach 1484). In der Gegenre-formation findet ein genereller Aufschwung des Friaulischen statt, u. a. daran erkennbar, dass mit Giuseppe Strassoldo (1520 – 1597) auch die Aristokratie beginnt, Literatur auf Friaulisch zu schreiben.

Doch das große Jahrhundert der friaulischen Literatur ist das 17. mit dem her-ausragenden Autor Graf Ermis di Colorêt/Ermes di Colloredo (1622 – 1692).

Er schreibt zwar in den klassischen Formen seiner Zeit, doch er befreit sich von den barocken Zwängen; seine Liebesgedichte atmen eine gesunde Sensua-lität und bringen eine erstaunliche Frische in die Sprache (vgl. Verone 2000, 50 – 57). Ermis di Colorêt gilt als der Erneuerer der friaulischen Lyrik. Seine Literatursprache wirkte auf ganze Dichtergenerationen nach und wurde im 19.  Jh. insbesondere von Pietro Zorutti (1792 – 1867) als friaulische Koine durchgesetzt (vgl. Verone 2000, 69 – 80). Der bekannteste Vertreter der friauli-schen Literatur im 20. Jh. ist ohne Zweifel Pier Paolo Pasolini (1922 – 1975) (vgl. Verone 2000, 186 – 193).

Ermis di Colorêt: Nicolò, lassi alfin l’amor tiràn30

1.Nicolò, lassi alfin l’amór tiràn Nicolò, ich verlasse endlich die tyrannische Liebe, Di cuié che tant timp mi à tormentât; Derjenigen, die mich für so lange Zeit gequält hat;

Reste il miò cur culì, va il pît lontàn. Mein Herz bleibt hier, mein Fuß geht weit fort – Di chel mostro crudél d’infedeltât Von jenem so ungeheuerlich untreuen Biest;

Memorabil al mont sarà l’ingian Stets wird die Welt des Trugs gedenken, A la prisint e a la future etât; Jetzt und auch in künftiger Zeit;

Ognùn racontarà cun gran stupór Jeder wird mit großem Erstaunen erzählen La so incostanze e il miò tradît amór. Über ihre Unbeständigkeit und meine verratene

Liebe.

30 Text laut Straulino 1996, Track 1.

Refrain

Se ài amât, se ài penât, se ài suspirât Ob ich geliebt, ob ich gelitten, ob ich geseufzt habe, Lu sa il cil, lu sa je, lu sa il miò cur; Das weiß der Himmel, das weiß sie, das weiß mein

Herz;

E pur mai une glozze di pietât Trotzdem ist niemals ein bisschen Mitleid

Issude è di chel pèt spietât e dur, Aus jener abweisenden und harten Brust entwichen;

Ma ogni ore mal gradît e disprezzât Aber immerzu unerwünscht und verabscheut, E cussì sarà simpri fin ch’jo mur; Und so wird es immer bleiben bis ich sterbe, Nè viôt al miò tormènt altri confuart Ich sehe in meinem Leid keinen anderen Ausweg, Che disperât butámi in braz de muart. Als mich hoffnungslos in die Arme des Todes zu

stürzen.

Dolomiten

Die Haupttriebfeder für die Verschriftung des Bündnerromanischen, die Reformation, hatte auf die katholisch gebliebenen Dolomitentäler keinen Ein-fluss. Man kann sogar davon ausgehen, dass gerade die Angst vor der Ausbrei-tung des Protestantismus mittels des Ladinischen, wie sie uns aus dem oberen Vinschgau bezeugt ist und dort schließlich zur endgültigen Germanisierung dieser Talschaft geführt hat, die geistliche und weltliche Obrigkeit damals ver-anlasst hat, ein ladinisches religiöses Schrifttum möglichst nicht aufkommen zu lassen. Im Gegenzug ist aus dem 17. Jh. der administrative Gebrauch des Ladinischen bezeugt (→ 1.2.3). Insbesondere im 19. Jh. wird dann die katholi-sche Geistlichkeit als intellektuelle Elite führend bei der Verschriftung des Dolomitenladinischen sein.31

1.2.2 Die Dolomitensagen: der verkannte Beginn der

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