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1.3 Die literarischen Gattungen und Themen der ladinischen Literatur

1.3.1 Die Lyrik

Laut Vittur 1970, 7 sind I prümz componimënć scrić de vigni lingaz […] soli ta-mënter in poesia (die ersten literarischen Texte in jeder Sprache meist in Gedichtform). Dies gilt auch für das Ladinische: In allen dolomitenladinischen Tälern mit Ausnahme des Fassatals (→ 2.3.0) wurden die ersten uns heute bekannten Texte mit ästhetischem Anspruch in Versform geschrieben. Die vor-dergründige Absicht dieser ersten Gedichte war v. a. inhaltlicher (moralisch-erzieherischer, unterhaltend-anklagender oder satirischer) und weniger formaler Natur, da es sich zum Großteil um Gelegenheitsdichtung handelte: Schulschluss-gedichte (→ Jan Francësch Pezzei, → Janmatî Declara), Hochzeitgedichte (→ Anton Agreiter), Glückwunschgedichte (→ Matie Ploner), Primiz- und Antrittsgedichte für Geistliche (→ Giosef Brunel, → Cyprian Pescosta), Satiren über das Dorfgeschehen (→ Joani Gregorio Demenego) u. Ä. m.64 Ähnlich wie, aber viel später als im deutschen Sprachraum, entwickelte sich auch im Ladini-schen das Gelegenheitsgedicht immer mehr zur Privatsache und lebt heute auf Festen und privaten Anlässen als lustiges oder lobendes Gedicht fort, das meist in Form einer Rede in Versen vorgetragen wird.

Insbesondere aus der Anfangsphase der ladinischen Literatur sind auch Texte in Versform überliefert, deren rezeptive Umsetzung in gesungener Form belegt ist, also Liedtexte (z. B. La vedla Muta und L vedl Mut von → Matie Ploner oder das Badiotische Schützenlied von → Cyprian Pescosta). Aus den uns erhal-tenen Liedern geht hervor, dass diese poetisch-musikalischen Werke eine starke Bindung an das soziale Leben und dessen symbolische Vorstellungen hatten. Ein weiteres Beispiel gesungener ladinischer Volksüberlieferung sind die vielen Wiegenlieder und Kinderreime (vgl. Chiocchetti 1995b, 320;

Kostner/Vinati 2004; Vinati 2012).65

Aufgrund der schwierigen Abgrenzung haben wir die repräsentativsten und bekanntesten Lieder in der vorliegenden Arbeit berücksichtigt und verweisen im Übrigen auf die inzwischen veröffentlichten umfangreichen Liedsammlun-gen für das ladinische Gebiet.66

64 Es ist anzunehmen, dass viele frühe Gelegenheitsgedichte verloren gegangen sind, weil die meisten von ihnen nur zum einmaligen Vorlesen bestimmt waren und deshalb nur in seltenen Fällen aufbewahrt bzw.

gedruckt worden sind.

65 Einige Wiegenlieder wurden auch von Autoren geschrieben: Nina nana ladina von Vinzenz Maria De-metz, Ciantia dant na pitla bambina (Lied für ein kleines Mädchen) auf Grödnerisch von J. L. (NL 15.5.1952, 4), Nina, nana, pitl mut (Schlaf gut, kleines Kind) von Toni Senoner, Nina Nana auf Fassa-nisch von Catarina Degasper (Usc 1.9.1984, 23).

66 Wir beschränken uns hier auf die Sammlungen mit wissenschaftlichem Anspruch: Dorsch-Craffonara 1974; Chiocchetti 1995a; Chiocchetti 1996; Kostner 2001; Kostner/Vinati 2004; Chiocchetti 2007b; Chizzali/Comploi/Gasser 2011; Vinati 2012. Überwogen in Ladinien Ende des 19. Jh. und bis weit in das 20. Jh. hinein Lieder, deren Texte und/oder Melodie sich an ein fremdsprachiges, meist deut-sches Modell anlehnten, so trägt die heutige ladinische Liedszene deutlich autonomere Züge.

Nach den Gelegenheitsgedichten, den Liedtexten und den ersten Beispielen lyrischer Prosa (I tempe de ades von → Firmiliano Degaspar Meneguto, 1862) entstehen schließlich in der 2. Hälfte des 19. Jh. vereinzelt lyrische Texte, die wir als gefühlsbetonte, sentimentale bzw. subjektive Lyrik im Stil einer verspä-teten Romantik definieren können. Mit der Zeit befreit sich auch die ladini-sche Lyrik von ihren äußeren Entstehungsbedingungen und wird immer bewusster ihrer selbst willen geschrieben. Herausragender Vertreter dafür ist der Enneberger → Angelo Trebo mit seinen schmerzerfüllten Natur- und Heimwehgedichten; in der gleichen Tradition steht der Fassaner → Giovan Battista Musner. Das erste uns bisher bekannte ladinische Liebesgedicht Ara mé noviza wird um 1860 vom bereits erwähnten Ampezzaner → Firmiliano Degaspar Meneguto geschrieben.

Nach den schweren Kriegs- und Zwischenkriegsjahren zwischen 1914 und 1945 wird nach dem Zweiten Weltkrieg die Lyrik als erste Literaturgattung von den umliegenden Literaturen stark beeinflusst und macht dadurch einen großen Wandel durch. Der bedeutendste Vertreter dieser Zeit ist der Wahl-grödner → Max Tosi. Die freie Form und der stark individualisierte Inhalt fin-den nun Eingang in die ladinische Lyrik, aber die Jahrzehnte bis 1970 werfin-den noch stark von der Sorge um die Wiederbelebung und Erhaltung der Sprache (→ Frida Piazza), des Glaubens (→ M. Theresia Gruber, → Ujöp Pizzinini) und der moralischen Erziehung (→ Lejio Baldissera, → Angel Morlang) geprägt. Erwähnenswert sind hier v. a. die poec’ del mal de ciasa (Heimwehpoe-ten) der aishuda fashana, des fassanischen Frühlings der 1960er- und 1970er-Jahre in Moena, wie → Valentino Dell’Antonio, → Elsa Daprà, → Valentino Chiocchetti, → Alberto Sommavilla und → Giacomin Ganz.

Ab den 1970er-Jahren vollzieht sich bei vielen Autoren, trotz Verhaftung in der heimischen Tradition und ihrer Liebe zur Muttersprache, ein Bruch mit dem harmonischen und idyllischen Weltbild der heilen Heimat. Diese Zerris-senheit veranschaulichen am deutlichsten der Fassaner → Luciano Jellici, der Gadertaler → Felix Dapoz und der Grödner → Josef Kostner. Die gequälte und verlassene Kreatur tritt in den Vordergrund.67

Parallel zur zeitgenössischen und modernen ladinischen Lyrik haben wir in der ladinischen Literatur, wie in allen Bereichen unserer pluralistischen Gesell-schaft, bis heute das Weiterbestehen von klassischen und traditionellen

For-67 Dies führt öfters dazu, dass Leser die ladinische Lyrik dieser Zeit als zu ernst oder zu negativ, als zu „pessi-mistisch“ bezeichnen. Zu unangenehmen Missverständnissen führt bis heute die Tatsache, dass ein wesent-licher Teil der ladinischen Leserschaft mangels literarischer Abstraktion der Ansicht ist, der Autor sei auch der Protagonist der literarischen Texte. Vgl. dazu Belardi 1984c, 3: Il tema del bene perduto è il tema domi-nante presso i veri poeti della lirica dolomitica, […]. Ma personalmente mi guarderei dal giudicare pessimistico il carattere della maggioranza di questi poeti: „tema“ non va confuso con „personalità“, né lo stato sentimentale ogget-tivizzato con il sentire che lo genera. Non possiamo infatti giudicare pessimistico il poeta che riesce a esprimere il suo

„continuo affermarsi“ nell’„infinito svanire“ delle cose e della loro memoria.

men. Die moderne und zeitgenössische ladinische Lyrik ab den 1990er-Jahren ist einerseits durch die Öffnung der Gesellschaftsstrukturen charakterisiert, andererseits durch die vermehrten Möglichkeiten zur Bildung, die es immer mehr Ladinern – und nun auch Ladinerinnen – erlauben, sich ihrer Mutter-sprache mit bewusstem literarischem Interesse hinzuwenden. Die zeitgenössi-schen Autoren der Dolomitenladinia haben ihre Themen erheblich erweitert und schreiben auch nicht mehr ausschließlich auf Ladinisch. Die traditionelle Werteskala spielt kaum noch eine Rolle, das subjektive Ich löst sich in ein Kol-lektiv oder ins Nichts auf, der Inhalt wird in assoziativen Bildern in freier Form dargestellt. Metrik, Rhythmus und Reim sind frei, neue Ausdrucksfor-men komAusdrucksfor-men auf, wie z. B. Lyrik in Prosaform (→ Leo Crepaz) oder Haiku (→ Johann Matthias Comploj).

Von den klassischen Gedichtformen spielt in Ladinien insbesondere das Sonett eine Rolle.68 Die ersten uns bekannten Beispiele, die Schulschlussgedichte aus zwei Quartetten und zwei Terzetten von → Janmatî Declara aus den 1860er-Jahren, weisen zwar noch nicht das klassische Versmaß des endecasillabo (Elf-silbler) auf, doch bereits das ampezzanische Primizgedicht von 1868 von → Firmiliano Degaspar Meneguto entspricht in seinem Versmaß und der Reim-struktur dem klassischen Sonett, was das Wort Sonett im Titel (Sonett. Cele-brando ra so prima messa padre Basilio Ghedina) wohl bewusst unterstreichen will.

Im Jahre 1939 reflektiert → Ermanno Zanoner in seinem Essay Breve saggio di versificazione ladina. Traduzione dal Tedesco di un frammento di W. Göthe [sic!]

con prefazione e note illustrative über die ladinische Verskunst. Im dreiseitigen Vorwort argumentiert er gegen die gängige Meinung, im Ladinischen seien Metrum und Rhythmus fast nicht möglich, sondern nur der Reim. Noch in den 1960er-Jahren kehrt → Ermanno Zanoner zum Thema der Metrik zurück, um die Stärke des Elfsilblers – den er vers da undesh colps (Vers der elf Schläge, vgl. Chiocchetti 2000a, 25 – 26) nennt – im Ladinischen zu betonen. Zano-ner ist sogar der Meinung, dass das Ladinische für das klassische Sonett gera-dezu prädestiniert sei: „Il ladino, fra le lingue romanze, è ritenuto particolarmente adatto a concentrare in poche sillabe molti concetti, in virtù della spiccata tendenza all’abbreviazione delle parole: i versi che si possono ottenere risultano così particolar-mente ,ricchi‘ di pensieri, come è difficile riscontrare in altre lingue del mondo civile“

(Chiocchetti 2000a, 30).

Von → Ermanno Zanoner wurden erst kürzlich zwei klassische, inhaltlich zusammenhängende Sonette auf Fassanisch aufgefunden, die er in jungen Jah-ren, wohl zwischen 1922 – 1927, geschrieben hat: Me scuserede, fiöi, ma co’ ve

68 Ein klassisches Sonett besteht aus zwei Quartetten und zwei Terzetten mit insgesamt 14 elfsilbigen Versen und einer strikten Reimordnung. Die übrigen klassischen Gedichtformen sind in der ladinischen Literatur nur marginal vertreten (vgl. etwa ein Rondeau bei Rafael Prugger).

dighe… (Entschuldigt mich, Kinder, aber ich sage euch…) und Cotante oite se aon troà su l’or… (Wie oft schon befanden wir uns am Rand…) (vgl. NJ 2, 6/2008, 10). Das erste Sonett reflektiert das Schreiben von Sonetten selbst; ein Thema, das wir später bei → Max Tosi (Coche n fesc n sunet, Wie man ein Sonett macht, vgl. Belardi 1985a, 66), → Marco Dibona (El sonetto, Das Sonett, vgl. Usc 15.4.1986, 17) und Rut Bernardi (Scrì n sunet, Ein Sonett schreiben, vgl. Tras 6/1999, 49) wiederfinden. Gerade die letztgenannte Auto-rin hat mit ihren Gherlandes de sunëc/Sonettenkränze (Bernardi 2003a) das bisher inhaltlich (60 Sonette) und formal (die vier Zyklen werden jeweils durch ein sogenanntes Meistersonett abgeschlossen) ausgereifteste Werk dieser Art in der ladinischen Literatur vorgelegt.

Im Dokument Geschichte der ladinischen Literatur (Seite 84-87)