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Die Erforschung der ladinischen Literatur – ein geschichtlicher Überblickein geschichtlicher Überblick

Im Dokument Geschichte der ladinischen Literatur (Seite 95-112)

So wie die Reflexion über die bündnerromanische Literatur, entwickelt sich auch jene über die dolomitenladinische Literatur aus dem historisch-sprach-wissenschaftlichen Interesse an der ladinischen Sprache, das anfangs des 19. Jh. bereits deutlich ausgebildet ist.71 Dies bringt es aber auch mit sich, dass bei den ersten Abdrucken ladinischer Texte und Textpassagen nicht ihre ästhe-tische Komponente im Vordergrund steht, sondern das Bedürfnis, dem Leser Sprachbeispiele zu bieten.

Laut derzeitigem Wissensstand sind die sechs kurzen Anekdoten, die bei Steiner 1807, 45 – 49 abgedruckt sind, das erste Beispiel für einen gedruckten ladinischen Text. Sie bilden eine Art Anhang zu einem primär landeskundli-chen Text und sind eingebettet zwislandeskundli-chen einem Verzeichnis einiger Wörter der Grödner Sprache (S. 40 – 45) und der Verbesserung des Wörterverzeichnis des Freih. von Hormayr (S. 49 – 52).72 Die Anekdoten selbst stammen von → Matie Ploner (Belardi 1994, 156) und Josef David Insam (→ 2.1.0). Landrichter Josef Steiner und Matie Ploner waren gute Freunde, und ab dem Jahre 1803 riss der Kontakt nicht mehr ab (vgl. Sotriffer 2000 – 01, 113).73 Bis zum nächsten bekannten einschlägigen Beispiel einer Sprachstudie eines nicht ladi-nischen Forschers (aus dieser Zeit stammen aber die beiden Versuche einer Beschreibung des Grödnerischen von Josef David Insam und des Buchenstei-nischen von Piere Favai, → 2.1.0 bzw. 2.4.0) vergehen 25 Jahre: 1832 veröf-fentlicht Joseph Theodor Haller (1783 – 1853), ehemaliger Landrichter in Enneberg, im zweiten Teil seines Versuch[s] einer Parallele der ladinischen Mund-arten in Enneberg und Gröden in Tirol, dann im Engadin, und der romaunschen in Graubünden kurze Textproben in verschiedenen rätoromanischen Varietäten (vgl. Plangg 1991b, 309 – 324). Im Kapitel IV. Beispiele von prosaischen Aufsät-zen (vgl. Haller 1832, 132 – 160) finden sich folgende Übersetzungen aus dem Italienischen: Das Gebeth des Herrn, Nach Matth. VI. 9 – 13, nach der

Über-71 Zum Beginn der bündnerromanischen Literaturgeschichtsschreibung, die u. a. mit dem Namen des Bene-diktinerpaters Placi a Spescha (1752 – 1833) verbunden ist, vgl. Rausch 1870, 2 – 18 und Müller 1974;

zum Rätoromanischen im Allgemeinen und dem Dolomitenladinischen insbesondere als Forschungsge-genstand vgl. die beiden ausführlichen Überblicke von Decurtins 1964 und Goebl 1987.

72 Die von Hormayr 1806, 139 präsentierte Liste von „grödnerischen“ Wörtern enthält zahlreiche Formen, die entweder in einer sie vollkommen entstellenden Grafie geschrieben sind oder aus dem Gadertal stam-men (vgl. Steiner 1807, 38).

73 Josef Alexander Steiner (Stainer) (* 24.2.1772 Ehrenburg bei Kiens – † 15.7.1833 Bad Rohitsch, Kärnten), Landrichter von Kastelruth, dann Klausen und von 1819 – 1830 von Karneid, wird als Mann mit hervorra-genden Geistesgaben geschildert (Granichstaedten-Czerva 1962, 282 – 283). Er befasste sich in seiner Freizeit mit dem Studium der Kastelruther Mundart und veröffentlichte die erwähnte Studie über Gröden (Steiner 1807).

setzung der Bibel des Antonio Martini. Venezia 1786, auf Gadertalisch, Enneber-gisch, Grödnerisch, Fassanisch (Brach und Cazet), Buchensteinisch und Ampezzanisch (132 – 135) sowie in mehreren Varietäten des Friaulischen und des Bündnerromanischen74; Die Parabel vom verlorenen Sohne, Luk. XV. 15 – 32, in den Varianten des „Landgerichtes Enneberg“ (d. h.: Gadertalisch mit den wichtigsten ennebergischen Abweichungen in Klammern), Grödnerisch, Fas-sanisch und Buchensteinisch (139 – 153)75 sowie Die Ehebrecherin, Joh. VIII, in den gleichen Varietäten (154 – 160).

Textauszüge aus der Parabel vom verlorenen Sohne Ladinisch im Landgerichte Enneberg:

N tsert om avóa (háa) dui fis: E ‘l plö schòn de chi disch al père: ‘Père dáme la pert d’la facoltè, che me tocca’; e al (el) i hà desparti l’avai (avei) (139).

Ladinisch in Gröden:

Ung Uom avóva doí fions. Y el plu schoun de öi ha dit al pére: ‘Pére! dáme mi pert de béins, che me tocca.’ Y el ha parti i bein anter ei (öi) (141).

Nach dem Dialekte im Fassathale:

Un om avéa doi fí. E il pglu shon de chish a dit a so pére (pare): Pére! dáme la pert (part) della ere-ditá, che me tocca; e el a partí la sia facoltá fra idg (144).

Ladinisch nach dem Volksdialekte in Buchenstein (Livinalongo):

Engn hom ava doi fioi. E ‘l plu schoven de chi diss al pére: Pére! déme mia pert, che me tocca a mi. E

‘l ja fatt le pert ad ogni ung (151).

Im darauffolgenden Jahr 1833 fügt der Priester und Gelehrte → Micurà de Rü aus San Ćiascian/St. Kassian in seiner deutsch geschriebenen Grammatik Versuch einer Deütsch=Ladinischen Sprachlehre (vgl. Bacher 1995) ladinische Redensarten, Gespräche, Anekdoten, kurze Briefe und Reime als Lesestücke ein.

Die Parabel vom Verlorenen Sohn wurde auch vom Trentiner Priester, Physik- und Mathematikprofessor Francesco Lunelli (1792 – 1874) im Jahrzehnt zwi-schen 1840 – 1850 in zahlreichen Dialektvarianten erhoben, u. a. in allen fünf dolomitenladinischen Idiomen. Seine umfangreiche Sammlung blieb aber weitgehend ungedruckt (vgl. Ghetta/Chiocchetti 1986, 227 – 264; Belardi 1994, 155; Raffaelli 1986, 124 – 125; 138). Lunellis Gewährsleute waren:

• für das Fassanische der Priester Antonio Soraperra (1819 – 1889) aus Dèlba/

Alba;

74 Das gadertalische Vaterunser ist wieder abgedruckt in Sulzer 1855, 244; alle ladinischen Varietäten in Kalënder ladin 1915, 143 – 145.

75 Vgl. auch einen Abdruck der gadertalischen, grödnerischen und unterengadinischen Version in NL 1.8.1949, 2.

• für das Gadertalische der Lehrer Giovani Vangelista Flatscher (1823 – 1885) aus Badia/Abtei;

• für das Grödnerische der Priester Adam Senoner (1821 – 1849) aus Santa Cristina/St. Christina;

• für das Ampezzanische der Arzt Massimiliano Constantini de Mostacia (1823 – 1864; in Ghetta/Chiocchetti 1986, 235 als Costantini verschrie-ben); sowie

• für das Buchensteinische Marghi Deberto aus Ornela (erstmaliges Auftreten einer Frau im Zusammenhang mit der Beschreibung und Dokumentation der ladinischen Sprache), Giacomo Deberto und Isepp Costa.

Textbeispiel Fassanisch:

Una òuta l’era ung ong, che l’aèa doi fencc, e’l plu jong de chisc, stuf de stèr a cièsa coi sìe, l’ha preà so père, che’l ghiè dasèzza la sia pèrt, che ghiè tocchèa; e so père per el contentèr l’ha fat la divisiong dei sie avères, e’l ghiè l’ha data (Ghetta/Chiocchetti 1986, 245).

Gadertalisch:

Ung zert òm àa dui fiis, e’l pleù jon de chisc diss a so père: dèmme la pert de facoltè, che’m tòcca, e al i ha partì sua facoltè (Ghetta/Chiocchetti 1986, 248).

Grödnerisch:

Ung jade foa ung ùem, ch’òa doi fiongs, i ‘l plu jeun de chisc ha dit a si père: dasèmme la pert, chö me tocca. I ‘l ha spartì si roba, i gli l’ha data (Ghetta/Chiocchetti 1986, 251).

Ampezzanisch:

Una vota l’eva un on, e chesto l’avea doi fioi el pi zoven de lore dis a so pare: Pare dagème ra me parte de ra roba, che me tocca. E el pare fes ra division, e daira (Ghetta/Chiocchetti 1986, 255).

Buchensteinisch:

Na òuta l’eva ‘n père, che l’ava doi tozacc; el plu ŝoven de chisc, stuff de stè a cieŝa coi suoi, l’à priè ‘l père, che gliè dess la pèrt della sua facoltè, che gli tocca; e cast so père per l’ contentè gli ha fatt’fora le so pèrt de cal tant, che l’ava, e spò glie l’ha data (Ghetta/Chiocchetti 1986, 258).

Im Jahre 1846 veröffentlichte Ludwig Steub76 die erste Auflage seines Werks Drei Sommer in Tirol (Steub 1846), welches die Beschreibung seiner im Som-mer 1842 und 1843 durchgeführten Wanderungen durch Gröden, Gadertal und Buchenstein enthält77 und u. a. auch einen den damaligen Wissensstand

76 Zu Ludwig Steub (* 20.2.1812 Aichach [D] – † 16.3.1888 München), Schriftsteller und Jurist, „literari-scher Entdecker“ Tirols, vgl. Kramer 1983 sowie Schürr 1996 – 97.

77 In der Neuauflage von 1871 wurden weitere Reiseberichte nach Gröden 1868 (Steub 1871 III, 206 – 209), Ampezzo 1870 (II, 199 – 227) und Enneberg 1870 (III, 234 – 260) hinzugefügt. Steub traf in diesen Jahren auf Ujep Antone Vian (III, 206 – 208) und Janmatî Declara (III, 240; 244 – 245).

zum Ladinischen recht gut wiedergebenden Forschungsbericht (Steub 1846, 434 – 435). „Um hören zu lassen, wie die Sprache in fortlaufender Rede klingt“, druckt Steub 1846, 440 eine der sechs Anekdoten (Nr. 4: Una muta schöuna) von Steiner 1807 ab (die er fälschlicherweise Steiner selbst zuschreibt). Wei-ters bringt Steub S. 441 einen Auszug der La Stacions o’ la via della S. Crousch (Die Stationen oder der Hl. Kreuzweg) von → Johann Peter Rungaudie (vgl.

Dorsch-Craffonara 1974, 301 FN 1). In der Auflage von 1871 (III, 209) bringt Steub auch 2 Strophen zu je 4 Versen des Liedes La luna floresch… (Der Mond geht unter).

Für Sprachproben des Gadertalischen verweist Steub 1846, 441 „auf den Auf-satz des Landrichters Haller, wo nicht nur das Vater Unser und zwei Kapitel aus dem neuen Testamente in der Sprache von Enneberg [d. h.: Gadertal], sondern auch in jener von Buchenstein, Fassa und Ampezzo zur anziehenden Vergleichung sich gegenübergestellt sind.“

Ladinische Sprachbeispiele, darunter drei der Anekdoten aus Steiner 1807, druckt auch Johannes Chrysostomus Mitterrutzner78 in seiner Schrift Die rhä-toladinischen Dialekte in Tirol und ihre Lautbezeichnung (Mitterrutzner 1856) ab.79 Bei der Erläuterung des Graphems sh für [š] in deutschen Entleh-nungen auf S. 20 bringt er z. B. die erste Strophe des Schützenliedes von → Cyprian Pescosta.

Im Anhang (S. 23 – 29) folgen Textbeispiele in zehn romanischen Varianten:

Italienisch, Ennebergisch, Badiotisch, Grödnerisch, Ampezzanisch, Buchensteinisch, Nonsbergisch, Sulzbergisch, Bergamaskisch, Parmesanisch. Es handelt sich dabei um drei (Nr. 1, 2, 5) der bereits erwähnten Anekdoten aus Steiner 1807, 45 – 48.

Textbeispiele Ennebergisch:

Òn slomenâ uŋ âter, ch’ël raĝióna da matt y da musciatt. Ël é vei, respogn l’âter, mo ju baji inŝò, accióche m’enteneise.

Grödnerisch:

Uŋ craugnióva uŋ auter, ch’èl reĝióna da matt y da musciatt. ‘Gli é vèira, respúend l’auter, ma reĝióne inŝí, accióchè vo m’entendèise.

78 Zu Johannes Chrysostomus (eigentlich Josef) Mitterrutzner (* 30.5.1818 Tils bei Brixen – † 15.4.1903 Neustift), Polyglott und Erforscher zentralafrikanischer Sprachen, vgl. Mitterrutzner 1903; Innerho-fer 1982, 192; Sauser 2002, 1035 – 1037.

79 Zu dieser Schrift, die sich sehr stark an die Grammatik von Micurà de Rü anlehnt, vgl. Kattenbusch 1994, 75 sowie Craffonara 1994b, 188 – 197.

Ampezzanisch:

Un i cridava a un autro, ch’el parlava da matto e da musciatto. L’é vero, responde st’autro, ma parlo coŝi, perché vos m’intendede (alle: Mitterrutzner 1856, 23).

Einer wirft einem anderen vor, dass er blöd und dumm rede. Das stimmt, antwortet der andere, doch ich spreche so, damit ihr mich verstehen könnt.

Badiotisch:

Uŋ moler a tùt sèu uŋ dè a depënĝe dui omi, ch’â ‘na litiga tra d’ëi, l’uŋ ch’ l’â perdùda, e l’âter, ch’

l’â vënta. Ël s’a resolt de depënĝe l’uŋ d’l tùtt deŝnù, e l’âter in ćhamëscia (Mitterrutzner 1856, 24).

Ein Maler hat eines Tages den Auftrag angenommen, zwei Männer zu malen, die einen Pro-zess hatten, wobei einer gewonnen und der andere verloren hatte. Er entschloss sich, den einen völlig nackt und den anderen im Unterhemd zu malen.

Als Abschluss der Textbeispiele folgen S. 28 – 29 sechs Proben badiotischer Poe-sie. Es handelt sich dabei um Aphorismen, die Mitterrutzner ohne Quellenan-gabe aus der Grammatik Bachers übernommen hat.80

I.Ne te dodé Schäme dich nicht

A confessé, Zu bekennen,

Śe t’has tort Wenn du unrecht hast,

Che dó mort. Denn nach dem Tode

Ne te ĵô nia Nützt dir

La superbia. Der Stolz nichts mehr.

V. Intla graŋ passiuŋ Handle nie

Ne fá mai ‘n’aziuŋ, In großer Leidenschaft,

Porçhi t’arrisçhié Wieso solltest du dich Gefahren aussetzen

Sèul màr irrité. Auf dem erzürnten Meer.

1864 erscheint die erste gedruckte Grammatik eines ladinischen Idioms, Grö-den, der Grödner und seine Sprache von → Ujep Antone Vian. In ihr finden wir 21 adaptierte Leseproben und ein Gedicht auf Grödnerisch (La vödla mutta) (vgl. Vian 1864, 191 – 201), die so gut wie alle von Gartner 1879 übernom-men worden sind.

1867 veröffentlichte Christian Schneller81 in Innsbruck das Werk Märchen und Sagen aus Wälschtyrol. Dafür hatte er von → Giovan Battista Zacchia fassani-sche Märchen erhalten, die er in deutfassani-scher Übersetzung abdruckte (vgl.

80 Vgl. Bacher 1995, 289 – 290. Wiederabdruck der Mitterrutzner’schen Versionen in Dapunt 1949, 62.

Mitterrutzner hatte eine vollständige Abschrift der Grammatik de Rüs angefertigt. Zum Schicksal die-ser Kopie vgl. Boehmer 1885, 209 sowie Videsott 2011a, 179 – 180.

81 Zu Christian Schneller (* 5.11.1831 Holzgau bei Reutte – † 8.8.1908 Cornacalda bei Rovereto), Sprach-forscher und Tiroler Landesschulinspektor, vgl. Kramer 1974.

Chiocchetti/Ghetta 1987, 99 FN 6). Auch konnte er einen kurzen buchensteinischen Vers aus der ätiologischen Sage rund um die Entstehung des Marmolada-Gletschers aufzeichnen (vgl. Kattenbusch 1994, 243):

Santa Maria majou de quà quà, Mariä Himmelfahrt hin, Santa Maria majou de là là, Mariä Himmelfahrt her,

Nos ongh el fengh en te tablà Wir haben das Heu bereits im Stadel, E i autri sul prà! Und die anderen haben es noch auf der Wiese!

Von Bedeutung für die internationale Romanistik wurde das Buch Die romani-schen Volksmundarten in Südtirol, in dem Schneller als erster einen eigenständi-gen „friaulisch-ladinisch-churwälschen Kreis […] der romanischen Sprachen“

postulierte (Schneller 1870, 9). In seinem Wörterverzeichnis (218 – 260) sind auch kurze ladinische Textbeispiele eingestreut:

S. 233 s.v. Diolaŋ (auch giolaŋ), enb. bad. ‘vergelt’s Gott’: So heisst es in einem Gedichte in Abteier Mundart bezüglich eines um arme Kirchen verdienten Geistlichen:

Trouppes dlisies fesć paróra Viele Kirchen zeugen

Di diolaŋs, ch’i gnuŋ debit. vom Dank, den wir ihm schulden.

Im Auftrag Giovanni Papantis (1830 – 1893) wurde für die 1875 in Livorno aus Anlass des 500. Todesjahres von Giovanni Boccaccio erschienene Fest-schrift I parlari italiani in Certaldo alla festa del V centenario di Messer Bocacci eine Novelle des Decameron (9. Novelle, 1. Tag) auch in unterschiedliche dolomitenladinische Idiome übersetzt:

• Moenatisch von Hw. Andrea Sommavilla (Papanti 1875, 639 – 640),

• Brach von Hw. Johann Baptist Rifesser (649 – 650),

• Ennebergisch von Hw. → Cyprian Pescosta (650 – 651),

• Gadertalisch von Hw. → Cyprian Pescosta (651 – 652),

• Grödnerisch von Hw. Johann Baptist Rifesser (654 – 655) (von Gartner 1879, 108 – 109 übernommen)

• Buchensteinisch von Hw. → Cyprian Pescosta (655).

Der dritte Band der von Eduard Böhmer82 herausgegebenen Zeitschrift Roma-nische Studien enthält einen Aufsatz des Herausgebers selbst mit dem Titel Gred-nerisches (Boehmer 1878). Neben phonetischen und bibliografischen Angaben enthält er auch zwei grödnerische Texte: die Anekdote Doi uemes (Zwei Männer) aus Vian 1864, 197 – 198 in phonetischer Transkription sowie den Abdruck der La Stacions, o’ la Via dêlla S. Crôush von → Johann Peter Rungaudie. Böhmer ist aber v. a. wegen seines Verzeichniss Rätoromanischer Litteratur (Boehmer 1885)

82 Zu Carl Eduard Böhmer (* 24.5.1827 Stettin – † 5.2.1906 Lichtenthal bei Baden-Baden), evangelischer Theologe und Romanist, vgl. Voretzsch 1905, 9 – 12; Kramer 2009 und Videsott 2011a, 151 – 154.

bekannt, das eine erste systematische Zusammenstellung des damals bekannten rätoromanischen Schrifttums enthält, unter Einschluss mehrerer dolomitenladi-nischer Manuskripte, die er seiner berühmten Bibliothek einverleibt hatte.83 Mit der 1879 veröffentlichten Monografie Die Gredner Mundart von Theodor Gartner84 beginnt die wissenschaftliche Beschreibung der einzelnen dolomi-tenladinischen Idiome.85 Als Lesestücke bringt Gartner 1879, 99 – 109 grödne-rische Texte, die er größtenteils der Grammatik von → Ujep Antone Vian (Vian 1864) entnommen und phonetisch transkribiert hat:

1. l filiuól pródigo (Der verlorene Sohn) (S. 99),

2. mädälénä lä pitxädóurä (Magdalena, die Sünderin) (S. 99 – 100), 3. i ouréies t’lä vínyä (Die Tagelöhner im Weinberg) (S. 100), 4. lä sumäntsä i käl kę sänä (Die Aussaat und der Säer) (S. 100 – 101), 5. bis 14. Kurze Anekdoten und Witze (S. 101 – 102),

15. žaŋ i tónę su lä fíerä (Johann und Anton auf dem Markt. Ein absurder Dialog zwischen einem Kunden und einem Bauern beim Kauf einer Kuh) (S. 102 – 103),

16. žaŋ ämälá (Der kranke Johann) (S. 103),

17. lä védlä mútä (Die alte Jungfer. Gedicht von Matie Ploner) (S. 103 – 104),

18. ŋsęnyämänt pęr lä žovęntú dę męrk äntónę muręt (Lehrgang für die Jugend von Muret.

Übersetzung von Johann Angelus Perathoner) (S. 104 – 107).

Die Texte 19 – 24 wurden von Johann Baptist Rifesser86 ins Grödnerische über-setzt:

19. l surädl (Die Sonne) (S. 107), 20. lä plúeiä (Der Regen) (S. 107),

21. surädl i plúeiä (Sonne und Regen) (S. 107 – 108), 22. l tóunę (Der Donner) (S. 108),

23. lä špíęs (Die Ähren) (S. 108),

24. 9. Novelle des 1. Tages aus dem Decameron (S. 108 – 109) (bereits in: Papanti 1875, 654 – 655).

1881 verbrachte der Trentiner Rechtsanwalt Gustavo Venturi87 einen Sommer auf den Almen von Fedaia. An einem verregneten Tag hörte er einigen Sen-nern und Sennerinnen aus Penia beim Singen zu. Daraufhin bat er seinen

fas-83 Zum Schicksal dieser Manuskripte, die sich heute in der Universitätsbibliothek Krakau befinden, vgl.

Vide sott 2011a.

84 Zu Theodor Gartner (* 4.11.1843 Wien – † 24.4.1925 Innsbruck), Romanist und erster Ordinarius für ro-manische Philologie an der Universität Innsbruck, vgl. Mair 1983; Videsott 2009b, 72 – 78.

85 Vorausgegangen sind bekanntlich 1873 die Saggi Ladini von Graziadio Isaia Ascoli (Ascoli 1873) mit ei-ner v. a. phonetischen Beschreibung aller rätoromanischen Idiome von Graubünden bis Friaul, die er zum Geotyp „Ladino“ zusammengefasst und von den anderen romanischen Sprachen abgegrenzt hatte. Das Werk enthält aber keinen ladinischen Text.

86 Zu Johann Baptist Rifesser (* 14.7.1819 Sacun – † 20.2.1905 Urtijëi/St. Ulrich), Grödnerisch-Informant von Böhmer, Gartner und Ascoli, vgl. Videsott 2011a, 152.

87 Zu Gustavo Venturi (* 4.2.1830 Rovereto – † 4.2.1898 Trient), Rechtsanwalt mit ausgedehnten Interessen im Bereich der Biologie (vgl. sein Buch Le muscinee del Trentino, Trient 1899), vgl. Chiocchetti 1995b, 231 FN 108.

sanischen Bergführer Anton Bernard aus Ciampedel/Campitello, die Lieder aufzuzeichnen, und veröffentlichte sie als Anhang seiner ladinischen Studien im Annuario della Società degli Alpinisti Tridentini 1881 – 82.88 Neben Liedern, die in ganz Norditalien bekannt sind, findet sich auch eine kleine Gruppe autochthoner fassanischer Lieder (in der folgenden Incipit-Liste nach Ven-turi 1981 fett hervorgehoben):

1. Je son nasciuda verginela (Ich bin jungfräulich geboren) (S. 16 – 20), 2. O Marmoleda (Oh, Marmolada) (S. 20 – 21),

3. Ductes femenes che l’è al mondo (Alle Frauen auf der Welt) (S. 22),

4. Son de sass, e non me meve (Ich bin aus Stein und rühre mich nicht) (S. 22 – 23)89, 5. Alles belles trenta soldi (Den Schönen dreißig Taler) (S. 23),

6. Son gi da chella vedua (Ich bin zu jener Witwe gegangen) (S. 23), 7. Duchenc me dis (Alle sagen zu mir) (S. 24),

8. Chan che son in fora (Wenn wir fort sind) (S. 25), 9. L’ucelin del bosc (Das Waldvögelchen) (S. 26), 10. Vaà vaà touses (Weint Mädchen, weint) (S. 26 – 27), 11. Cotan bela l’è Carlota (Carlota ist so schön) (S. 27 – 28), 12. De contentezza e festa (Zufrieden und feierlich) (S. 28 – 29), 13. Teresina gei de fora (Teresina komm heraus) (S. 28 – 29), 14. Evviva Noè (Es lebe Noah) (S. 29),

15. Cara mere voi siede matta (Liebe Mutter, ihr seid verrückt) (S. 29 – 30), 16. Cara Marianna (Liebe Marianna) (S. 30 – 31),

17. Son jona (jon ?) e ai egn (Ich bin jung und meinem Alter entsprechend) (S. 31), 18. La piazza de Penia (Der Dorfplatz von Penia) (S. 32 – 33),

19. Chis fenc (Diese Burschen) (S. 33 – 34),

20. La luna f iores (Der Mond geht unter) (S. 34 – 35)90, 21. Amò sta settemena (Noch diese Woche) (S. 35).

Duchenc me dis 91 Alle sagen zu mir

Duchenc me dis che ‘l temp l’è fresc, Alle sagen zu mir, dass das Wetter kalt ist, verda ‘l chiapel che a chel todesc. schau dir den Hut jenes Deutschen an.

Duchenc me dis che ‘l temp le mat, Alle sagen zu mir, dass das Wetter verrückt spielt, verda ‘l chiapel che a ‘l sior curat. schau dir den Hut des Pfarrers an.

Duchenc me dis che ‘l temp le bon, Alle sagen zu mir, dass das Wetter gut ist, verda ‘l chiapel che a nos Simon. schau dir den Hut unseres Simon an.

88 Anastatischer Nachdruck 1981, Bozen: Arcoboan-Film (Venturi 1981). Zur Entstehungsgeschichte der Sammlung vgl. ausführlich Chiocchetti 1995b, 231 – 280.

89 Es handelt sich um das sogenannte Conturina-Lied ( 1.2.2., Massimiliano Mazzel, vgl. Kindl 1997, 266; Verra/Willeit 2008, 11).

90 Das Lied ist in Gröden (Chiocchetti 2007b, 434 – 435 und 461), Gadertal (Chiocchetti 2007b, 653) und Fassa (Chiocchetti 2007b, 274) bis heute bekannt (vgl. Demetz 1982, 78; Chiocchetti 1995b, 193 – 205; Macchiarella 1996, 486 – 492). 2 Strophen der grödnerischen Version bereits in Steub 1871, 3, 209.

91 Text laut Venturi 1981, 24.

La luna f iores 92 Der Mond geht unter

La luna fiores Der Mond geht unter

s’un col de Medel; dort auf dem Hügel von Medel;

anchè l’anel heute den Ring

e doman el dedel. und morgen den Fingerhut.

La luna fiores Jetzt geht der Mond unter

s’un col de Siadoi dort auf dem Hügel von Jiadoi,

de doman no i ab Morgen haben sie

già più fasoi. keine Bohnen mehr.

La luna fiores Jetzt geht der Mond unter

da lenc e da lerch ganz lang und breit,

la braà zareda die Hose zerrissen

e ‘l chiapel s’una pert. und der Hut schief auf dem Kopf.

La luna fiores Jetzt geht der Mond unter

s’un pian de Fesura dort auf Pian de Fessura,

maridete pura verheirate dich nur,

che je no te voi. denn ich will dich nicht.

1899 wurde Theodor Gartner auf den neu geschaffenen Lehrstuhl für romani-sche Philologie an der Universität Innsbruck berufen. Seinem rätoromanisti-schen Forschungsschwerpunkt blieb er bis zu seiner Emeritierung 1911 und darüber hinaus treu. Das literaturgeschichtlich wichtigste Werk aus Gartners Innsbrucker Zeit ist das 1910 veröffentlichte Handbuch der rätoromanischen Sprache und Literatur (Gartner 1910). Das 3. Kapitel (345 – 371) ist dem Schrifttum in Tirol gewidmet: A. Nonsberg (S. 346), B. Fassa (S. 352), C. Gre-den (S. 355 – 356), D. Gadertal (S. 356 – 361), E. Buchenstein und Colle (S.

361 – 369) und F. Ampezzo (S. 370 – 371). Es enthält folgende dolomitenladini-sche Textproben:

Gröden: Die ersten sechs Verse des Nsenyamént per la zoventù (Lehrgang für die Jugend) von → Johann Angelus Perathoner;

• Gadertal: Zwei Stellen aus einer Handschrift aus dem Jahr 1836 mit einer Erklärung der Zehn Gebote und der sieben Sakramente (vgl. dazu Plangg 1991a; → 2.2.0), ein Auzug aus der Übersetzung des L Gran Catechismo por les scoles popolares catoliches von Iaco Pitscheider, Karl Maneschg und Paul [Dapoz]/

Putzer (→ Janmatî Declara), alle 6 Strophen des Schützenliedes und die erste Strophe des Primizgedichtes für Giovanni Pescosta von → Cyprian Pescosta sowie einen Auszug aus der Storia d’ S. Genofefa von → Janmatî Declara;

92 Text laut Venturi 1981, 34 – 35.

Buchenstein und Colle: I. Sagen aus Buchenstein; II. Matia Cisò va a Persenòn.

Diese Texte hatte Gartner von Christian Schneller erhalten (vgl. Gartner 1910, 361). Zumindest für den Text aus Colle, Matia Cisò, konnte die Frage nach dem möglichen Autor auf zwei Personen eingeschränkt werden: → Michele Agostini oder → Antonio Chizzali (vgl. Bernardi/Videsott 2011, 123 – 153; → 2.4.6);

• Ampezzo: Die erste Strophe des ältesten Drucks in der Mundart von Ampezzo Za che ancuoi sto nosc’i benedeto piovan e calonego Don Zuane Batista Rudiferia l’ha ra bela sorte de c’iantá ra so seconda messa novela (→ Bortolo Zar-dini) sowie die erste Strophe des Gedichtes Par r’occasion ch’el Piovan d’Ampezzo D. Agostino Constantini fesc el so Ingresso inze el paes agnò che l’è nasciù (→ Firmiliano Degaspar Meneguto).

Untrennbar mit dem Namen Theodor Gartner ist auch der ladinische Teil der groß angelegten Sammlung Das Volkslied in Österreich verbunden. Das Monu-mentalwerk hätte insgesamt 60 Bände umfassen sollen, doch der Zusammen-bruch der Monarchie zerschlug das Projekt. Das ladinische Material schien verloren gegangen, bis es 1995 im Tiroler Landesarchiv in Innsbruck aufgefun-den und 2007 in einer dreibändigen Ausgabe Il canto popolare ladino. I. Dolo-miti; II: Val di Non; III: Friuli) veröffentlicht wurde (vgl. Chiocchetti 2007b, Starec 2007, Vinati/Zanolli 2007).93 Die Sammlung enthält nicht nur Lieder im eigentlichen Sinn, sondern auch Kinderreime, Anekdoten und andere volkstümliche Erzählungen. Als Beispiel dafür sei die bissige Anekdote Na Gherdena che fo pur maride ŋ Fassaŋ angeführt, die Alois Vittur94 am 2. Feb-ruar 1910 Theodor Gartner nach Innsbruck geschickt hat:

Untrennbar mit dem Namen Theodor Gartner ist auch der ladinische Teil der groß angelegten Sammlung Das Volkslied in Österreich verbunden. Das Monu-mentalwerk hätte insgesamt 60 Bände umfassen sollen, doch der Zusammen-bruch der Monarchie zerschlug das Projekt. Das ladinische Material schien verloren gegangen, bis es 1995 im Tiroler Landesarchiv in Innsbruck aufgefun-den und 2007 in einer dreibändigen Ausgabe Il canto popolare ladino. I. Dolo-miti; II: Val di Non; III: Friuli) veröffentlicht wurde (vgl. Chiocchetti 2007b, Starec 2007, Vinati/Zanolli 2007).93 Die Sammlung enthält nicht nur Lieder im eigentlichen Sinn, sondern auch Kinderreime, Anekdoten und andere volkstümliche Erzählungen. Als Beispiel dafür sei die bissige Anekdote Na Gherdena che fo pur maride ŋ Fassaŋ angeführt, die Alois Vittur94 am 2. Feb-ruar 1910 Theodor Gartner nach Innsbruck geschickt hat:

Im Dokument Geschichte der ladinischen Literatur (Seite 95-112)