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Die Dolomitensagen: der verkannte Beginn der ladinischen Literaturladinischen Literatur

Im Dokument Geschichte der ladinischen Literatur (Seite 52-75)

1.2 Die Anfänge der ladinischen Literatur

1.2.2 Die Dolomitensagen: der verkannte Beginn der ladinischen Literaturladinischen Literatur

Wenn von der Sagenwelt Ladiniens die Rede ist, bedarf es vorerst einiger Begriffsbestimmungen, da die einschlägige ladinische Terminologie nicht immer mit der entsprechenden im Deutschen und im Italienischen überein-stimmt. Die in den fünf ladinischen Talidiomen als Entsprechung für dt. Sage

‘mündlich überlieferte Erzählung historischen oder mythologischen Inhalts’

(Wahrig 1989) bzw. it. leggenda ‘fatto che esiste nella tradizione, ma senza

31 Vgl. dazu Steubs 1871 III, 246 zeitgenössische Feststellung: „[…] Die Seelsorger in Ladinien werden nämlich der Verständlichkeit wegen alle aus den Landeskindern genommen und geben sich, zumal in der endlosen Langeweile des Winters, gerne mit ihrer Muttersprache ab, versuchen auch, dies und jenes schriftlich darzustellen. Schade nur, daß jeder auf eigene Faust arbeitet und daß ihnen alle Hülfsmittel feh-len. Was die Quellen der Wissenschaft betrifft, sind die abgelegenen Seitenthäler in Tirol fast wasserdicht zu nennen. Bis nach Ladinien hinein sickert selten ein Tropfen aus jenem Strom der Gelehrsamkeit, der so mächtig durch Innsbruck fluthet. […]“

documenti che lo comprovino’ (Palazzi 1957) gebräuchlichen Termini sind v. a. Varianten von lijenda oder contia, wie aus den Wörterbüchern hervorgeht:

grd.: lijënda ‘Sage’ (Forni 2002);

gad.: liënda ‘Legende’ (Mischì 2000);

mar.: lionda ‘Legende’, fabola ‘Fabel, Legende [im Sinn von: ‘unwahre Geschichte’], Lüge’

(Videsott/plangg 1998);

fas.: lejenda ‘leggenda’, contìa ‘lungo racconto, fabola, leggende’ (DILF 1999);

fod.: lejenda ‘leggenda’ (Masarei 2005a);

amp.: lejenda ‘leggenda’ (Spell 2002), storia ‘leggenda, favola’ (Comitato del Vocabolario 1997);

LD: lijenda ‘Legende, leggenda’ (Spell 2002).32

Zu beachten ist, dass der italienische Terminus leggenda im normalen Sprach-gebrauch die beiden deutschen Begriffe Sage und Legende subsumiert; das ladinische lijenda semantisch jedoch eher den deutschen Termini Sage und Märchen, ja sogar Fabel entspricht. Der Begriff contia bezieht sich mehr auf die Erzählung und die Geschichte, italienisch racconto, storia.

Auffällig ist die Tatsache, dass in den ladinischen Wortlisten und Wörterbü-chern, die älter als 50 Jahre sind, das Stichwort lijenda gar nicht und contia nur selten für dt. Sage oder it. leggenda vorkommt:

Alton 1879 enthält storia ‘Geschichte, Erzählung’ und favola (fabula) für ‘Fabel’.

Gartner 1879: Die Stichwörter Legende und Sage kommen nicht vor. Belegt ist nur štǭriä

‘Geschichte’.

Rossi 1914 [1999]: Belege für kontía ‘Geschichte, Erzählung’ und stória ‘Geschichte’.

Gartner 1923: rakónt ‘Erzählung’, filaštǫka ‘Märchen’, štǫria ‘Geschichte’, uštǫria

‘Geschichtchen’.

Majoni 1929: Die Stichwörter leggenda, racconto und storia kommen nicht vor.

Lardschneider-Ciampac 1933: Die Stichwörter lijenda und contia kommen nicht vor.

Belege nur für fabula ‘Fabel, unwahre Erzählung’ und stòria ‘Geschichte, Erzählung’.

Elwert 1943: Beleg nur für contìa ‘Märchen’.

Martini 1950: Die Stichwörter lijenda und contia kommen nicht vor.

Martini 1953. Die Stichwörter lijenda und contia kommen nicht vor. Beleg nur für stòria

‘storia, favola, racconto’.

Moroder Doss 1953/1955 – 71 [2002]: Belege für štoria, kunteda ‘Erzählung’, štoria

‘Geschichte’, fabula ‘Märchen’, nuvela ‘Mär’, legende, libr d’la vita di sanč’ ‘Legende’, soge, lėđënda ‘Sage’.

Pizzinini/Plangg 1966: Belege für fabola ‘Fabel, unwahre Geschichte’, stòria ‘Geschichte, Erzählung’, legènda ‘Legende’.

Mazzel 1976: Belege für patòfiå ‘racconto che ha dell’inverosimile’; contìå ‘lungo racconto, favola, leggenda’, falòpå ‘breve racconto inverosimile’. Es fehlt: lijenda.

32 Die Entsprechungen in den anderen rätoromanischen Varianten sind: Rumantsch Grischun: ditga ‘Sage’

(Pledari grond); Friaulisch: lïènde; lejende ‘leggenda, racconto’ (Nuovo Pirona).

Erst in den 1950er-Jahren finden wir also im Wörterbuch-Manuskript von Gottfried Moroder Doss erste Versuche, die Begriffe dt. Sage, it. leggenda zu ladinisieren, wobei die orthografische und konzeptuelle Unsicherheit noch deutlich zu sehen ist.

Hervorzuheben ist einzig das Manuskript Märchen und Sagen aus dem Fassatal von → Hugo de Rossi, welchem der Autor in den 20er-Jahren des letzten Jahr-hunderts den ladinischen Titel Veies dič e kontie de Val de Faša (Alte Redensar-ten und Erzählungen aus dem Fassatal) hinzugefügt hat (vgl. Kindl 1984, 41).

Rossi führt kontía auch in seinem 1914 fertiggestellten Wörterbuch an.

Daraus ist zu folgern, dass die Begriffe lijenda und contia relativ junge Wort-schöpfungen in den ladinischen Idiomen sind, die als Entsprechung für die deutschen Begriffe Sage und Erzählung eingeführt wurden. In der Tat wurde das gad. Wort liënda (mar. lionda) in den 1950er-Jahren als Ableitung von lì

‘lesen’ gebildet (Hinweis Lois Craffonara) und hat sich von dort in die anderen ladinischen Idiome ausgebreitet. Seit den 1980er-Jahren wird im Grödneri-schen durchgehend der Begriff liejënda (Runggaldier 1982, 1985) und spä-terhin lijënda (Forni 2002) gebraucht.33 Das im Fassanischen bevorzugte Wort contia (grd. cuntia; gad. cuntia; fas. contìa; LD contia) ist hingegen vom gesamtladinischen Verb conté ‘erzählen’ (grd. cunté; gad. cuntè; fas. contèr; fod.

conté; amp. contà; LD conté) abgeleitet.

Weiters ist für das Fassanische der Begriff patofia für it. ‘favola; fiaba; racconto (storiella)’ (DILF 1999) hervorzuheben. Im Fassatal scheint patofia, laut Aus-kunft von Nadia Chiocchetti, ein relativ alter Ausdruck für eine sagenhafte Erzählung zu sein, im alltäglichen Gebrauch auch für eine Erzählung mit zweifelhaftem Wahrheitsgehalt. Der Fassaner → Simon Soraperra de Giulio, Verfasser vieler ladinischer Reime, Erzählungen und Komödien, definiert pato-fia als ‘erzählende Gattung humoristischer Natur, die sich im Gegensatz zur contia immer auf eine historische Gestalt oder Tatsache bezieht’ (vgl. Tomasi 2003 – 04, 16 – 18).34

33 Im Band 4 des Etymologischen Wörterbuchs des Dolomitenladinischen (Kramer 1991, 189) wird nur der Itali-anismus legenda angeführt mit der Erklärung: „Schriftsprachlicher ItaliItali-anismus, der in letzter Zeit zur Be-zeichnung der mündlichen Erzählung (besonders in der Umformung durch Karl Felix Wolff) einige Popu-larität gewinnt.“

34 Erhellend ist der Vergleich mit dem unterengadinischen Parallelwort patafcha ‘kleine impertinente Parodie einer pompösen-offiziellen Textsorte’ und seinem Etymon epitaphiu (Clà Riatsch), woraus sich der Be-deutungswandel auch des ladinischen Wortes erschließt. Innerhalb der Gattungen der sogenannten „Einfa-chen Formen“ scheint die ladinische patofia dem Schwank des deuts„Einfa-chen Traditionsraums zu entspre„Einfa-chen:

„eine kleine Erzählung mit humorvollem Inhalt, oft an realen Personen festgemacht“ (U. Kindl). In den Sammlungen von Massimiliano Mazzel und Simon Soraperra de Giulio kommt der Typus der contia am häufigsten vor. Ebenfalls zahlreich sind die patofies sowie die dialogischen und prosaischen mascherèdes.

Eine contia oder patofia, die ein Überraschungsmoment als zentrales Element enthält, bezeichnet man als falòpa. Weniger zahlreich sind die ätiologischen Sagen, am seltensten die fiaba, das Märchen (vgl. Poppi 1987a, 26 – 31; 54 – 55).

Beleuchten wir nun einen weiteren Aspekt der eben genannten Begriffe! Dabei halten wir uns wegen des Nahverhältnisses zwischen dem deutschen und dem ladinischen Kulturraum an die deutschsprachige Fachliteratur.

Die Textsorte Sage wird von Lüthi 1978, 8 folgendermaßen definiert: „die Sage […] blickt gebannt nach der anderen Welt hin. Sie erzählt von der erre-genden und verwirrenden Begegnung des Menschen mit Jenseitigen aller Art:

mit Toten und Unterirdischen, mit Wald- und Wasserwesen, Felddämonen, Hauskobolden, mit Berggeistern, Riesen und Zwergen.“

Die im Deutschen mit dem Begriff Legende benannte Erzählprosa wird laut Kindl 1983, 54 nach der Budapester Konferenz von 1963 auch als Unterform der Sage laut folgendem Klassifizierungsschema eingestuft: 1. Ätiologische Sage; 2. Historische und kulturhistorische Sage; 3. Mythische Sage; 4. Legen-den. „Ausnahmslos alle Sagen, die sich in den großen Sammlungen des XIX.

Jh. finden, lassen sich unter der einen oder anderen Klasse subsumieren, und auch die ladinischen Sagen, die uns Alton, Schneller, Vittur usw. überliefert haben, lassen keinen Zweifel an ihrer unproblematischen Sagentypie. Da wim-melt es von Teufels-, Hexen- und Totensagen, von Spukerzählungen und Schatzsagen, kurzum: es ist alles da, was eine Sagentradition rund und ganz macht“ (Kindl 1983, 54).

Kindl 1983, 59 klassifiziert die ladinischen Dolomitensagen in „jenem dritten Erzählsubstrat […], das von den Systematikern verlegen in die Ecke der

‘Mythischen Erzählungen’ abgeschoben wird.“ Doch jegliche – nach Maßgabe deutscher Definitionsgründlichkeit verwirrende – Mehrdeutigkeit störte Karl Felix Wolff überhaupt nicht. Er machte „zwischen ‘Sagen’ und ‘Märchen’ im volkskundlichen Sinn keinen großen Unterschied […]; vermutlich unterschied er höchstens im Sinne der Brüder Grimm die mehr ‘poetischen’ Märchen von den eher ‘historischen’ Sagen, und was ihm vorschwebte, war so etwas wie eine

‘poetische’ Sage“ (Kindl 1983, 21).35

In der ladinischen Erzählprosa gibt es also ebenfalls keine so klare Begriffsun-terscheidung zwischen Sage, Legende, Erzählung und Märchen. In „diesem Prozeß wechselseitiger Einflüsse gewinnt eine nach deutschem Verständnis eindeutige Sage oder historische Legende märchenhafte Züge, so daß ein Mischtyp entsteht, den der italienische Begriff der ‘leggenda’ noch am ehesten umreißt“ (Kindl 1992b, 290). Die Ladiner unterscheiden also keineswegs zwi-schen „poetischerem Märchen“ und „historischerer Sage“, denn, wie Kindl 1997, 148 hervorhebt, kann eine mündlich überlieferte Erzähltradition wie die

35 „Das Märchen ist poetischer, die Sage historischer; jenes stehet beinahe nur in sich selber fest, in seiner an-geborenen Blüte und Vollendung; die Sage, von einer geringern Mannigfaltigkeit der Farbe, hat noch das Besondere, dass sie an etwas Bekanntem und Bewusstem haftet, an einem Ort oder einem durch die Ge-schichte gesicherten Namen“ (Grimm 1816, Vorrede).

ladinische keine geschichtlich verifizierbaren Tatsachen aufweisen.36 Der Geschichtsbegriff unseres heutigen Weltbildes, mit dem Prinzip der histori-schen Verifizierbarkeit, kann nicht auf die Geschichtsvorstellung einer mündli-chen Erzählkultur übertragen werden (vgl. Kindl 1997, 148).

Mittlerweile herrscht aber in sämtlichen ladinischen Idiomen weitgehend Konsens über die Semantik des Begriffes lijenda: damit sind die Wolff ’schen Dolomitensagen, Les lijendes dles Dolomites, gemeint.

Die Verlegenheit von Seiten der Fachwelt, für die Erzählprosa Ladiniens eine systematische Einteilung zu finden, kann durchaus daher rühren, dass kaum eine „schützende Einschmelzung in den christlichen Kosmos“ (Kindl 1983, 59) stattgefunden hat. Diese ‘verpasste’ Einschmelzung könnte das Überleben unverständlicher Motive, wie die der ‘Mondtochter’ oder der ‘Sonnentochter’, die sich nur schwer den gängigen Kategorien zuordnen lassen, erklären. Die deutsch-tirolerischen mythischen Vorstellungen sind demgegenüber bruchlos in den gängigen Verständnishorizont eingeschmolzen (vgl. Kindl 1983, 60).

Es könnte sein, dass die Einschmelzung der ladinischen Sagen in den patriar-chalen bzw. christlichen Kosmos zur damaligen Zeit auch aus sprachlichem Unverständnis nicht stattgefunden hat. Ladinisches Erzählgut, von Generation zu Generation mündlich überliefert, wurde von den Mächtigen nicht verstan-den und somit nicht verwandelt, eingenommen oder vereinnahmt. Die ersten schriftlichen Übersetzungen ins Deutsche oder ins Italienische der ladinischen Sagen und Legenden erfolgten frühestens Anfang des 19. Jh.

Doch auch im Ladinischen selbst scheinen die Motive der ältesten Sagen nicht mehr verstanden worden sein, denn ansonsten hätte der historisierende Zwang der Textsorte Sage sie bald zeitgemäß verwandelt: Mond- und Sonnentochter wären zu einer Saligen, Gana oder Vivena geworden (vgl. Kindl 1983, 60). So hingegen sind z. B. in der Sage der Mondprinzessin das Prinzip der Matriloka-lität und im Faneszyklus jenes der Matrilinearität noch unverkennbar vorhan-den.37 Die Mondprinzessin hält es auf der Erde nicht aus. Sie muss nach Hause, auf den Mond, zurückkehren, bis die dunklen Berge in bleiche verwan-delt werden. Und im Reich der Fanes sind die Zwillingsmädchen Dolasila und Luianta die Erstgeborenen und somit die Erbinnen.

Mit der Entsprechung lad. lijenda – dt. Sage vereinbar erweist sich auch fol-gende Begriffsdefinition von Friedrich Ranke: „Inhaltlich umfaßt sie [die Sage, RB/PV] das breite Spektrum menschlicher Auseinandersetzungen mit seiner

36 Einen Sonderfall stellen hier die „ätiologischen Sagen“ dar, die „Sichtbares“ (d. h. „Historisches“) legendär erklären (C. Riatsch) (vgl. unten).

37 Matrilokalität bedeutet, dass die direkten Verwandten, auch wenn sie erwachsen sind, im Sippenhaus der Mutter verbleiben, und Matrilinearität, dass die Kinder den Namen der mütterlichen Sippe erhalten und das Eigentum von der Mutter auf die Tochter vererbt wird (vgl. Göttner-Abendroth 1991, 22 – 23).

eigenen und der ihn umgebenden Natur, mit der historischen Realität und der transzendenten Welt.“ Und: „Eine große Anzahl von Volkssagen verdankt ihre Entstehung dem Bedürfnis des Volkes nach einer Erklärung für gewisse auffal-lende reale Gegebenheiten seiner Umwelt. Eine Erscheinung in der Natur, […] aber auch auffallende Formen etwa eines Steines oder Berges, […] deren ganzer Sinn und Wert kein anderer ist als eben die Beantwortung der Frage nach dem Warum?“ ist laut Ranke 1969, 6 das Prinzip der ätiologischen Sagenentstehung.

Gerade diese „Auseinandersetzungen mit seiner eigenen und der ihn umge-benden Natur“ und die „Grundbedürfnisse der menschlichen Psyche nach Erklärungen“ haben die Ladiner in ihren Sagen zahlreich entwickelt. Die Orte, an denen die Sagen spielen, werden durchwegs benannt, wie z. B. das Fanesge-biet, der Monte Pore, die Ortschaften Pera und Moncion im Fassatal, das Duron-Tal, die Mastlé-Alm oder der Limo-See (dies ist ein deutlicher Unter-schied zu den nicht verorteten Märchen). Auch Sagen mit Erklärungen für Naturerscheinungen sind unübersehbar, wie z. B. die rote und warme Croda Rossa, das Blühen des Rosengartens oder der Bergsturz der Torwände von Pontives in Gröden.

Die Poesie der Dolomitensagen

Die Sage der Mondprinzessin trägt in den Dolomitensagen von Karl Felix Wolff den Titel Die bleichen Berge (Wolff 1981, 31 – 4238), und kann als eine der Schlüsselsagen erachtet werden.

Ntance vala de se rënder cont che on danter la mans n giuel culturel che se desferenzieia da truepa autra tradizions y che à l potenzial de na gran leteratura y de na mitologia zënza cunfront (vgl. Verra/Willeit 2008, 2).

Es gilt zu erkennen, dass wir ein kulturelles Juwel in Händen halten, welches sich von vielen anderen Traditionen unterscheidet und die Kraft zu einer großen Litera-tur und einer Mythologie ohne Vergleich in sich birgt.

Es war einmal ein Prinz, der sich nichts sehnlicher wünschte, als einmal auf den Mond zu gelangen. Eines Tages, als er im Wald eingeschlafen war, begeg-nete er wirklich zwei Mondbewohnern, die ihn auf den Mond mitnahmen.

Dort machte er die Bekanntschaft der Königstochter, der Mondprinzessin. Sie verliebten sich ineinander und heirateten.

Doch das silbrige, helle Licht auf dem Mond ließ die Augen des Erdenprinzen erblinden, und so kehrte er mit seiner Frau auf die Erde zurück. Aber inmitten

38 Der ursprüngliche Titel der Sage, erstmals abgedruckt 1905 im L’amik di Ladiŋs ( 1.6.), war noch weni-ger poetisch: Die weißen Berge. Eine fassanische Version I monc’ arjentei (Die bleichen Berge) in NL 15.11.1965, 3 – 4 (1. Teil), NL 1.12.1965, 3 – 4 (2. Teil), NL 15.12.1965, 3 – 4 (3. Teil), gad. I crëp slauris, grd. I crëps majarei (Ties/Anderlan-Obletter 1981), fod. I crâp sclauris (Grones 1981).

der finsteren Berge und Wälder wurde die Mondprinzessin traurig. Sie erkrankte so schwer, dass sie wieder auf den Mond zurück musste.

Nun waren die beiden Liebenden getrennt. Der Prinz war sehr unglücklich, bis er eines Tages im Wald einem Zwergenkönig begegnete und mit ihm einen Pakt schloss: der Prinz sicherte dem Zwergenvolk freien Aufenthalt in seinem Reich zu, und im Gegenzug spannen die Zwerge in einer Nacht die Mond-strahlen zu dünnen silbernen Fäden, womit sie alle Berge umwickelten, so dass sie in silbrig-heller Farbe leuchteten.39 Nun konnte der Prinz endlich die Mondprinzessin vom Mond holen und in seine Heimat führen, wo sie sich inmitten der bleichen Berge der Dolomiten wie zu Hause fühlte (vgl. Wolff 1981, 31 – 42).

Prinzëssa dla luna 40 Die Mondprinzessin

Cun duc cuntënc ai pudù se maridé, Als alle glücklich waren, konnten sie heiraten, Do i gran spavënc ch’i a messù patì, Nach den Schrecken, die sie erleiden mussten, Na muta blancia y dla tiera n fi, Ein weißes Mädchen und ein Erdensohn, Tl ncësa dl auter sentivi n melsté. Im Zuhause des anderen erging es ihnen schlecht.

La luna l fajova vierc deventé, Der Mond erblindete ihn,

Da si lum d’arjënt messovel se n jì, Er musste fort von seinem silbernen Licht, La prinzëssa à pò sun tiera patì, Dann litt die Prinzessin auf der Erde, Dl scur di bosc ch’la à messù s’amalé. Am Dunkel der Wälder, das sie erkranken ließ.

L fi dl rë fova sëul dut desperà, Allein war der Königssohn völlig verzweifelt, Canche l rë di morcs ti ie cumparì, Als der König der Zwerge ihm erschien, Per jì ite n pat ch’a duc à juà. Um mit ihm einen allerseits nützlichen Pakt

einzugehen.

I crëps fosc à i morcs te blanc stramudà, Die Zwerge verwandelten die dunklen Berge in weiße, Filan duc d’arjënt per la fëna dl fi, Für die Prinzessin spannen sie alle in Silber, La tiera à na bela muta giatà. Die Erde bekam ein schönes Mädchen.

Karl Felix Wolff, der zum Erhalt der ladinischen Sagen unbestritten den größ-ten Beitrag geleistet hat, hörte schon als Kind „ladinische Erzählungen des Dolomitenvolkes“ von seiner fancela, der Hausmagd Lena, und begann 1903, sie planmäßig zu sammeln und ab 1908 zu veröffentlichen. Wie Wolff selbst bitter feststellen musste, wären sie schon wenige Jahre später für immer

verges-39 Der „Zwergenkönig“ ist – worauf U. Kindl in ihren Publikationen mehrmals hingewiesen hat – ein Pro-dukt eines kulturellen Cross-overs von Wolff: denn die ursprüngliche Überlieferung spricht von einem Sal-van („Waldmensch“, „Wilder Mann“), somit von einem Naturgeist, dem in der deutschen Tradition diverse Fruchtbarkeitsgeister der niederen Mythologie (z. B. die Saligen), aber eben nicht die Zwerge entsprechen.

Wolffs problematische Übernahme ist heute unausrottbar und hat der Glaubwürdigkeit der ladinischen Autochthonie schwer geschadet.

40 Text laut Bernardi 2003a, 43.

sen gewesen oder hätten nicht mehr vervollständigt werden können, weil es keine Gewährsleute mehr gab.

Die Sammelarbeit von Karl Felix Wolff erfolgte in der Tradition der Brüder Grimm, d. h. Wolff hat das Gehörte jeweils ziemlich frei zusammengestellt und interpretiert. Die ursprüngliche Form der Sagen lässt sich deshalb nicht mehr genau rekonstruieren. Wolff konzentrierte sich auf Sagen, die ihm typisch für Ladinien erschienen, während er jene Sagen, die auch anderswo ähnlich erzählt wurden, weitgehend ausklammerte (vgl. Kindl 1983, 21 – 36).

Die Hauptinformanten Wolffs waren die Fassaner Tita Cassan, Professor an der Handelsschule in Bozen, der Fotograf Franz Dantone und der Postoffizial

→ Hugo de Rossi, der in Innsbruck lebte. Wolff hatte jedoch auch Kontakt mit dem Grödner → Wilhelm Moroder-Lusenberg, der damals in Innsbruck an der Universität studierte, sowie mit dem Geistlichen Karl Staudacher aus Bruneck, der im Gadertal viel über den Faneszyklus in Erfahrung gebracht hatte. Weitere Sagen aus Gröden bezog Wolff von → Leo Runggaldier.

Die gesamte Sammelarbeit Wolffs geschah nicht ohne politisch-ideologische Hintergedanken, die mit den Wirren der Zeit zusammenhingen. Sein Haupt-anliegen war die Beweisführung, dass die Ladiner ein selbstständiges Volk seien und von den alten Rätern und weniger von den Römern (was eine grö-ßere Nähe zu den Italienern bedeutet hätte) abstammten. Er suchte in den Sagen die echte Substanz der Ladiner. Als Kind seiner Zeit sympathisierte Wolff auch mit alldeutschen Gedanken (vgl. Verra/Willeit 2008, 8 – 11), was einen nicht zu vernachlässigenden Schlüssel zum Verständnis seiner Sammel-arbeit darstellt.

Doch Karl Felix Wolff war nicht der erste, der sich mit ladinischen Sagen beschäftigte. Bereits 1867 hatte Christian Schneller in Innsbruck das Werk Märchen und Sagen aus Wälschtyrol (→ 1.4) veröffentlicht. Im Jahre 1897 publi-zierte Johann Adolf Heyl seine Volkssagen, Bräuche und Meinungen aus Tirol, mit ladinischen Sagen, die er v. a. von → Cyprian Pescosta und → Angelo Trebo erhalten hatte.

Weitere ladinische Autoren, die sich mit dem Sagenstoff auseinander gesetzt hatten, waren → Giosef Brunel, der nach 1850 Sagen, Erzählungen und Anek-doten jeglicher Art aus seinem Heimattal Fassa sammelte, sowie → Jan Batista Alton, der dazu beigetragen hat, dass wir bis heute Erzählungen vom Orco, Bao, Pavaró, den Ganes, Crestanes, Susanes41 und Salvans, den Vivenes und Vivans, den Bregosténes und Bregostans, der Dona Quelína, Taratà und Taraton, dem Dragon, den Stries und Strions, den Signai, dem Malan und den Anes ken-nen (vgl. Alton 1881, 4 – 21).

41 Bei den Susanes handelt es sich um böse Waldfeen, die im Fassatal den Bregostenes entsprechen (vgl. Forni 1997, 82).

Das Werk Legendes y credënzes ladines (Ladinische Sagen und Aberglaube) von

→ Franz Pizzinini bietet zu den einzelnen Sagenfiguren, Örtlichkeiten und mythischen Ereignissen aus mehreren Tälern ausführliche Prosabeschreibun-gen bzw. ProsaerzählunProsabeschreibun-gen. Pizzinini 1969 teilt seine ErzählunProsabeschreibun-gen in fünf Kapitel ein: I. Salvans y ganes (Die Waldmenschen) (S. 12 – 24), II. L’orco y süs furbaries (Der Orco und seine Listen) (S. 25 – 31), III. I draguns di lec dles Dolo-mites (Die Drachen der Dolomitenseen) (S. 32 – 34), IV. Stries y striuns (Hexen und Hexer) (S. 35 – 53) und V. Spiriti, fantasmi y signài (Geister, Gespenster und Vorzeichen) (S. 54 – 59).

Das Korpus der Dolomitensagen kann man folgendermaßen aufteilen (vgl.

Das Korpus der Dolomitensagen kann man folgendermaßen aufteilen (vgl.

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