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Verbrüderungsbücher und Nekrologien

Im Dokument Buchführung für die Ewigkeit (Seite 54-60)

2 Formen und Funktionen der Gedenküberlieferung

2.1 Verbrüderungsbücher und Nekrologien

Bereits in frühchristlicher Zeit wurde damit begonnen, die Namen und Todestage von besonders bedeutungsvollen Persönlichkeiten aufzuzeichnen, insbesondere von solchen, die für ihren Glauben den Märtyrertod gestorben waren oder im Ruf der Heiligkeit gelebt hatten. Auf diese Weise entstanden Martyrologien, das heisst kalen-darische Verzeichnisse, die zu jedem Datum die Namen der zu verehrenden Heiligen sowie allenfalls knappe Angaben zu ihrem Leben und Sterben beinhalteten.179 Da-neben wurden an anderer Stelle gelegentlich auch die Namen von hohen geistlichen und weltlichen Würdenträgern oder Wohltätern festgehalten, um sie im Rahmen des Gottesdienstes in Erinnerung zu rufen und für sie zu beten. Dafür verwendete man aufklappbare Wachstafeln, so genannte Diptychen, die oft mit kunstvoll geschnitzten Holz- oder Elfenbeinrahmen verziert waren.180 Mit dem stetigen Anwachsen der Listen erwies sich diese flüchtige Form des Verzeichnens jedoch nicht mehr als praktikabel.

Deshalb entstanden in karolingischer Zeit neue Arten von Namensverzeichnissen auf Pergament, die dem Gedenkwesen eine grössere Dauerhaftigkeit verliehen.

Die ältesten erhaltenen Aufzeichnungen dieser Art entstanden in den grossen Benedik-tinerklöstern am Rande des Untersuchungsgebiets, auf der Reichenau, in Sankt Gal-len und Pfäfers. Hier wurden bereits ab der Wende zum 9. Jahrhundert Listen geführt über Personen und Gruppen, die ins Gebetsgedenken der betreffenden Gemeinschaft eingeschlossen werden sollten.181 Solche Verzeichnisse wurden entweder in eigens dafür erstellten Heften festgehalten und schliesslich zu Büchern zusammengebunden, wie es sich für Sankt Gallen vermuten lässt, oder sie wurden wie in Pfäfers auf den freien Seiten einer Evangelienhandschrift eingetragen und dadurch gezielt in einen liturgischen Kontext gestellt. Ihren Platz fanden diese Aufzeichnungen denn auch auf dem Altar, so dass die Eingetragenen direkt an den Gebeten teilhaben und in den Genuss ihrer Wirkung kommen konnten.

Wie in den Diptychen wurden die Personennamen in den Verbrüderungsbüchern lis-tenförmig untereinander angeordnet. Für das Erstellen solcher schmaler Listen war es daher naheliegend, die grossformatigen Heft- oder Buchseiten in mehrere Spal-ten aufzuteilen. Diese konnSpal-ten durch farbig verzierte Säulenbogen voneinander ab-gegrenzt werden, wie es bei der Darstellung von kanonischen Tabellen üblich war.

179 Dubois, Martyrologes.

180 Jakobi, Diptychen; Stegmüller, Art. «Diptychon», in: RAC, Bd. 3, Sp. 1134–1149.

181 Verbrüderungsbuch des Benediktinerklosters Reichenau (um 823/824), ZBZH, Ms. Rh. hist. 27, ed.

in MGH Necr. Suppl., S. 156–325, MGH Libri mem. N. S., Bd. 1; Verbrüderungsbuch des Bene-diktinerklosters Sankt Gallen (um 817/890), StiASG, C3 B55, ed. in MGH Necr. Suppl., S. 1–133, Borgolte u. a., Subsidia Sangallensia, Bd. 1, S. 13–283; Evangelien- und Verbrüderungsbuch des Benediktinerklosters Pfäfers (um 830), StiASG, Cod. Fab. 1, ed. in MGH Necr. Suppl., S. 353–398, Faksimileausgabe von Bruckner/Sennhauser, Liber Viventium Favariensis. Vgl. hierzu Geuenich, Survey; ders., Gebetsgedenken und Gebetshilfe.

Auf diese Weise wurden die Aufzeichnungen auch optisch in einen sakralen Rahmen eingebettet. Eine derartige Gestaltung findet sich in den Verbrüderungsbüchern von Sankt Gallen und Pfäfers, während die Seiten im Exemplar des Klosters Reichenau zwar ebenfalls in mehrere Spalten unterteilt, aber nicht von Arkaden überspannt sind.

Die Säulenbogen beziehungsweise Spalten übernahmen zugleich die Funktion, ver-schiedene Personengruppen voneinander zu trennen, die durch entsprechende Über-schriften als solche gekennzeichnet waren. Unterschieden wurde beispielsweise zwischen Bischöfen, Äbten, Priestern, Diakonen, Mönchen und Nonnen, Geist-lichen und Laien, Königen, Herzögen und Grafen sowie männGeist-lichen und weibGeist-lichen oder lebenden und verstorbenen Wohltätern. Dadurch wurden die gesellschaftlichen Ordnungsvorstellungen ins Gebetsgedenken übernommen und gewissermassen auf den Himmel übertragen.182 Mit der ständig wachsenden Zahl der Einträge wurde die ursprünglich beabsichtigte Systematik allerdings in den meisten Fällen rasch aufge-geben und Neuzugänge stattdessen schlicht dort eingetragen, wo sich gerade noch etwas Platz fand. Schon bald umfassten die entsprechenden Bücher mehrere tausend Einträge, was die Verkündigung der gesamten Listen verunmöglichte und dazu führte, dass der Eingetragenen lediglich pauschal gedacht wurde.183

Ordensregeln, Martyrolog und Nekrolog

Während das Verbrüderungswesen mit den eigens dafür hergestellten Aufzeichnun-gen ganz auf die Gemeinschaft ausgerichtet war, gab es gleichzeitig BestrebunAufzeichnun-gen, die auf ein qualifizierteres individuelles Gedenken abzielten. Dieses lehnte sich an die Verehrung der Heiligen und Märtyrer an, deren Todestage man alljährlich an den entsprechenden Daten feierlich beging.184 Parallel zum Führen der Verbrüderungs-bücher begann man daher in den Klöstern auf der Reichenau und in Sankt Gallen damit, die Namen von einzelnen herausragenden Persönlichkeiten unter dem Datum ihres Todes in Martyrologien oder Kalendarien von bestehenden liturgischen Sam-melhandschriften einzutragen.185 Im Kloster Reichenau benutzte man zunächst das Kalendar in einem älteren Sakramentar, um darin Namen von verstorbenen Königen, Bischöfen und Äbten, Herzögen und Grafen sowie schliesslich vermehrt auch von einfachen Mönchen, Konversen und Laien festzuhalten.186 Auf dieser Grundlage

182 Neiske, Ordnung, S. 129.

183 Angenendt, Theologie und Liturgie, S. 180 f., 192 f.; Koep, Buch, S. 108 f., 124–127; Oexle, Memo-ria und MemoMemo-rialüberlieferung, S. 77 f.; Schmid, Gebetsgedenken, S. 41.

184 Angenendt, Theologie und Liturgie, S. 176, 185–193; ders., Missa specialis, S. 195–203; McLaugh-lin, Consorting, S. 93–97; Merk, Totenehrung, S. 102–108; Schmid, Mönchtum, S. 128, 135, 141, 146; ders., Fraternitas, S. 23 f., 28–33; Wollasch, Totengedenken, S. 147 f.

185 Dass dafür noch ältere, verlorene Vorlagen existiert hätten, vermutet Wollasch, Anfänge, S. 59–78;

ihm folgend Rappmann/Zettler, Mönchsgemeinschaft, S. 509 f.; Schmid, Fraternitas, S. 28 f.

186 Sakramentar und Kalendar mit nekrologischen Notizen des Benediktinerklosters Reichenau (um 858), ÖNB, Cod. Vindob. 1815, ed. in MGH Necr., Bd. 1, S. 271–282. Vgl. hierzu Autenrieth,

Ver-stellte man um 900 ein neues kalendarisches Verzeichnis, das mit einem Martyrolog und verschiedenen Ordensregeln verbunden war und bis ins 13. Jahrhundert hinein mit weiteren Namen von Verstorbenen gefüllt wurde.187

Die Verbindung von Ordensregeln, Martyrolog und Nekrolog deutet darauf hin, dass die betreffende Handschrift im Rahmen des Kapiteloffiziums benutzt wurde, das heisst bei der täglichen Versammlung der Mönchsgemeinschaft morgens nach der Prim. Bei dieser Gelegenheit wurde an die bevorstehenden Heiligenfeste erinnert und sodann ein Kapitel aus der Regel vorgelesen – daher die Bezeichnung Kapiteloffizium. Es folgte die Aufforderung zur Fürbitte für die verstorbenen Mitglieder, Würdenträger und Wohltäter, die Verteilung der anstehenden Arbeiten und die Bestrafung von Ver-gehen.188 In der Reichenauer Sammelhandschrift waren somit sämtliche Dokumente enthalten, die für das Kapiteloffizium relevant waren, so dass man von einem eigent-lichen Kapiteloffiziumsbuch sprechen könnte.189

Ähnliche Bände entstanden ungefähr gleichzeitig im Kloster Sankt Gallen. Gegen Ende des 9. Jahrhunderts vereinigte man hier eine alte Abschrift der Benediktiner-regel mit einem Martyrolog und einem Kalendar, das mit dem Titel «marturlogium»

überschrieben war.190 In beiden Teilen – sowohl im eigentlichen Martyrolog wie auch im daran anschliessenden Nekrolog – wurden fortan mit Vermerken wie «obiit»,

«obitur» oder «obitus», aber auch mit feierlicheren Formeln wie «transitus» oder

«depositio» die Namen von verstorbenen Geistlichen und Laien hinzugefügt. Mit der Konjunktion «et» wurden die Toten im Martyrolog sogar unmittelbar an die Nach-richten über das Leben und Wirken der Heiligen angeschlossen.191 Dass es sich dabei mitunter um Persönlichkeiten handelte, die wie der Abt Othmar selber im Ruf der

brüderungsbücher, S. 610 f.; Munding, Kalendar, S. 236–246; Rappmann/Zettler, Mönchsgemein-schaft, S. 281–283; Wollasch, Anfänge, S. 63–65.

187 Kapiteloffiziumsbuch mit Ordensregeln, Martyrolog und Nekrolog des Benediktinerklosters Rei-chenau (um 900), ZBZH, Ms. Rh. hist. 28, ed. in MGH Necr., Bd. 1, S. 272–282, MAGZH, Bd. 6, S. 35–68. Vgl. hierzu Boesch, Verbrüderungsbuch, S. 56–66; Erhart/Kuratli, Bücher, S. 321; Mohl-berg, S. 258, Nr. 566; Rappmann/Zettler, Mönchsgemeinschaft, S. 284–288.

188 Angenendt, Theologie und Liturgie, S. 189 f.; Hofmeister, Totengedächtnis, S. 189–200; Palazzo, Histoire, S. 174 f.; Schepens, Office, S. 222–227; Stein-Kecks, Quellen, S. 219–231; Wollasch, To-tengedenken, S. 149.

189 Vgl. hierzu Lemaître, Liber capituli; ferner Fiala/Irtenkauf, Versuch, S. 129 f.; Huyghebaert, Do-cuments, S. 33–35; Lauwers, Mémoire, S. 114–117; Neiske, Funktion, S. 98–101; Oexle, Memoria und Memorialüberlieferung, S. 74–76; Palazzo, Histoire, S. 173–179.

190 Kapiteloffiziumsbuch mit Ordensregel, Martyrolog und Kalendar mit nekrologischen Notizen des Benediktinerklosters Sankt Gallen (9. Jh.), StiBSG, Cod. Sang. 914, ed. in MGH Necr., Bd. 1, S. 462 bis 487, MvG 11, S. 25–28. Vgl. hierzu Bruckner, Scriptoria, Bd. 3, S. 97–100; Ebner, Gebetsverbrü-derungen, S. 96, 130–133, 143 f.; Erhart/Kuratli, Bücher, S. 183–189; Lemaître, Obituaires suisses, S. 47; Munding, Kalendarien, Bd. 1, S. 9 f., 12 f., 27; Oexle, Memoria und Memorialüberlieferung, S. 75; Scherrer, Verzeichnis, S. 333–335; Wollasch, Anfänge, S. 69.

191 Wollasch, Anfänge, S. 69–71.

Heiligkeit standen, verdeutlicht die fliessenden Übergänge zwischen Totengedenken und Heiligenverehrung.192

Annalistische und nekrologische Aufzeichnungen

Spätestens zu Beginn des 11. Jahrhunderts wurde in Sankt Gallen ein weiteres Kapi-teloffiziumsbuch angelegt, das aus verschiedenen älteren Bestandteilen zusammen-gesetzt wurde und neben Ordensregeln, Martyrolog und Nekrolog auch umfangreiche annalistische Aufzeichnungen («annales maiores»), mehrere Verbrüderungsverträge sowie eine Liste der Äbte enthielt.193 Damit waren sämtliche Unterlagen vereinigt, die man für das Gedenkwesen benötigte: Während die Ordensregeln und Verbrüde-rungsverträge die allgemeinen Gebetsverpflichtungen festhielten, ermöglichten die Einträge im Nekrolog die konkrete Ausübung des Gedenkens.

Angesichts dessen stellt sich die Frage, ob den beigefügten Äbtelisten und Annalen nicht nur eine rein historiographische, sondern auch eine liturgische Funktion im Rahmen von Gedenkpraktiken zugekommen sein könnte; immerhin handeln die an-nalistischen Aufzeichnungen zum grössten Teil ebenfalls von Todesfällen sowie von weiteren liturgisch relevanten Anlässen wie Translationen, Altar- und Kirchweihen.194 Vielfach waren den Einträgen in den Annalen jedenfalls genaue Tagesdaten beigege-ben, die es ermöglicht hätten, der vermeldeten Personen und Ereignisse zum Jahrestag zu gedenken. Ebenso könnte die Aufzählung der Äbte dazu gedient haben, diesen eine spezielle Würdigung zukommen zu lassen, wie es in den Verbrüderungsverträ-gen vorgesehen war. Ausserdem konnte die Liste der geistlichen Vorsteher verdeut-lichen, dass deren Reihe praktisch unmittelbar bis zum heiligen Gründer zurückreichte und somit über eine lange Tradition und eine ungebrochene Kontinuität verfügte.195 Kalendar, Äbteliste und Annalen kombinierten ausserdem beide Auffassungen von liturgischer Zeit – sowohl die zyklisch wiederkehrende innerhalb des Jahresablaufs als auch die chronologisch-lineare entlang der ständig voranschreitenden göttlichen Heilsgeschichte, in die sich diejenige des Klosters einfügte.196

192 Zur Verbindung von Heiligenverehrung und Totengedenken vgl. Angenendt, Theologie und Liturgie, S. 193; McLaughlin, Consorting, S. 95 f.; zu den Heiligen als «besonderen Toten» oben Anm. 175.

193 Kapiteloffiziumsbuch mit älteren Ordensregeln (9. Jh.), Martyrolog (11. Jh.) und Nekrolog des Be-nediktinerklosters Sankt Gallen (10./11. Jh.), StiBSG, Cod. Sang. 915, ed. in MGH Necr., Bd. 1, S. 462–487, MvG 11, S. 29–64. Vgl. hierzu Autenrieth, Codex, S. 42–55; Bruckner, Scriptoria, Bd. 3, S. 122; Clavadetscher, Totengedächtnis, S. 393 f.; Ebner, Gebetsverbrüderungen, S. 130–145; Erhart/

Kuratli, Bücher, S. 40–46, 188, 322; Euw, Buchkunst, Bd. 1, S. 354 f., Nr. 57; Freise, Grundformen, S. 481–491; Geuenich, Gebetsgedenken, S. 89–92; Munding, Kalendarien, Bd. 1, S. 9 f.; Scherrer, Verzeichnis, S. 336–339; Wollasch, Anfänge, S. 67–78.

194 Die Annalen sind ed. in MGH SS, Bd. 1, S. 72–85. Vgl. hierzu Freise, Grundformen, S. 481–491;

zu den Kirchweihen als Anknüpfungspunkt für kollektive Gedenkfeiern unten Anm. 993.

195 Goetz, Geschichtsschreibung, S. 283 f.

196 Angenendt, Liturgische Zeit.

Auch andernorts liesse sich vermuten, dass die ältesten Nekrologaufzeichnungen zu-mindest teilweise auf annalistischen Vorlagen basierten.197 Als besonders aufschluss-reich erweist sich in dieser Hinsicht die Überlieferung aus dem Kloster Einsiedeln.

Hier wurden die Todesnachrichten von Königen, Grafen, Bischöfen, Äbten und Mön-chen im 10. Jahrhundert zwar ebenfalls in eine Sammelhandschrift mit einem Kalen-dar eingetragen, allerdings nicht in diesen kalenKalen-darischen Teil, sondern in die Kalen-daran angefügten Annalen.198 Während die Todesnachrichten in den Einsiedler Annalen um das Jahr 1000 plötzlich weitgehend abbrechen, begann man genau zu dieser Zeit damit, die Namen der Verstorbenen aus den Annalen in ein Kalendar zu übertragen, das übrigens wiederum mit einer Abschrift der Annalen verbunden war.199 Im weite-ren Verlauf des 11. Jahrhunderts wurden dann auch in Einsiedeln eine ältere Ordens-regel und ein Martyrolog zusammengebunden und darin vereinzelt die Namen von Verstorbenen eingetragen.200 Hier wird somit der Übergang vom annalistischen zum kalendarischen Verzeichnen der Verstorbenen gut fassbar.201

Resultate

Die ältesten erhaltenen Gedenkaufzeichnungen aus dem Untersuchungsraum entstan-den im Rahmen der Verbrüderungsbewegung, die praktisch ganz Europa umspannte und geistliche Würdenträger ebenso wie weltliche Wohltäter erfasste. Die entspre-chenden Verzeichnisse widerspiegeln denn auch vor allem Gruppenzugehörigkeiten, während die Individuen förmlich in der Masse der Einträge verschwinden. Gewisser-massen als Gegengewicht dazu kam praktisch gleichzeitig das Bedürfnis nach indivi-duellen Gedenkleistungen für einzelne Verstorbene auf. War das Gebetsgedenken bis dahin der Gemeinschaft aus Lebenden und Verstorbenen gewidmet gewesen, so nahm

197 Vgl. hierzu Freise, Grundformen, S. 446 f.; ferner Althoff, Geschichtsbewusstsein, S. 100; Goetz, Geschichtsschreibung, S. 297–300; Neiske, Rotuli, S. 211. Annalistische Vorlagen erscheinen etwa im Fall der Reichenauer Nekrologien wahrscheinlich, vgl. Rappmann/Zettler, Mönchsgemeinschaft, S. 510, 523; Schmid, Fraternitas, S. 16, 28.

198 Annalen und Kalendar des Benediktinerklosters Einsiedeln (10. Jh.), KlB, Cod. 356, ed. in MGH SS, Bd. 3, S. 138–145. Die Annalen sind ed. in MGH SS rer. Germ., Bd. 78, S. 197–277. Vgl. hierzu Keller, Einsiedeln, S. 56–61.

199 Annalen und Kalendar mit nekrologischen Notizen des Benediktinerklosters Einsiedeln (um 1000), KlB, Cod. 319, ed. in MGH Necr., Bd. 1, S. 359–361. Die Annalen sind ed. in MGH SS, Bd. 3, S. 145 bis 149. Vgl. hierzu Henggeler, Kalendarien, S. 34 f., 57; Wellmer, Memento, S. 90, Anm. 261, S. 119;

Wollasch, Totengedenken, S. 154 f. Keller, Einsiedeln, S. 60–64, 164–169, geht von einer verlorenen nekrologischen Vorlage aus, was angesichts der hohen Übereinstimmung mit den Annalen unnötig erscheint. Aus der Verbindung von Annalen und Nekrolog schliesst Keller weiter, dass Letzteres nicht für die Liturgie verwendet wurde. Dieser Schluss liesse sich allerdings dahingehend umkeh-ren, dass eben auch den Annalen ein liturgischer Verwendungszweck zukam, vgl. oben Anm. 197.

200 Ordensregel und Martyrolog (9./10. Jh.) mit nekrologischen Notizen des Benediktinerklosters Ein-siedeln (11. Jh.), KlB, Cod. 236. Vgl. hierzu Bruckner, Scriptoria, Bd. 5, S. 16, mit Anm. 10a.

201 Zu Zusammenhängen zwischen Gedenkwesen und Geschichtsschreibung vgl. Goetz, Geschichts-schreibung, S. 283, 297–304; ferner Althoff, Geschichtsbewusstsein; Jakobi, Geschichtsbewusstsein.

das Totengedenken in der Folge eine eigene Form an, bei welcher das Todesdatum des Einzelnen ins Zentrum rückte. Dies betraf zunächst vor allem die Vorsteher der klösterlichen Gemeinschaften, wurde aber zusehends auf weitere Mitglieder sowie schliesslich auch auf weltliche Wohltäter ausgeweitet.202 Mit diesem grundlegenden Wandel mag zusammenhängen, dass der Begriff «memoria» aus dem Kontext des liturgischen Gedenkens verschwand beziehungsweise auf spezifische Gedenkleistun-gen zugunsten lebender Personen eingeschränkt wurde, während für die Messen zum Todestag der Begriff «anniversarium» oder auf Deutsch «jarzit» aufkam.203

Die Ausrichtung auf den Todestag machte eine neue, kalendarische Form der Buch-führung erforderlich. Um über die immer zahlreicher werdenden Gedenkverpflich-tungen auf dem Laufenden zu bleiben, gingen die grossen Benediktinerabteien auf der Reichenau und in Sankt Gallen noch im Verlauf des 9. Jahrhunderts dazu über, die Namen der Betroffenen in Kalendarien oder Martyrologien einzutragen. Auf diese Weise entstanden die frühesten Nekrologien. Die entsprechenden Aufzeichnungen waren häufig mit liturgischen Schriften verbunden und dürften demnach im Rahmen des Gottesdienstes verkündet worden sein. Dies geschah vermutlich im Kapitel-offizium, zu dem sich die klösterlichen Gemeinschaften jeden Morgen nach der Prim versammelten, um eine Lesung aus der Ordensregel und dem Martyrolog zu hören sowie eben für die verstorbenen Mitglieder, Würdenträger und Wohltäter zu beten.

Die dafür benötigten Schriftstücke vereinigte man daher zu einem Kapiteloffiziums-buch, das Ordensregel, Martyrolog und Nekrolog sowie allfällige weitere Texte um-fasste. Darunter befanden sich Äbtelisten und annalistische Aufzeichnungen, so dass die Vermutung naheliegt, diese Formen von «Geschichtsschreibung» seien ebenfalls im Rahmen des klösterlichen Gedenkwesens verwendet worden.

Am Übergang vom Früh- zum Hochmittelalter entstanden somit nach- und neben-einander verschiedenartige Formen von Aufzeichnungen, um das Andenken an be-sondere Personen – lebende und verstorbene – zu pflegen. Sie waren je nachdem eher gruppenweise, annalistisch oder kalendarisch geordnet. Von diesen verschiede-nen Möglichkeiten war es einzig das Verzeichverschiede-nen von Verstorbeverschiede-nen in Kalendarien, das sich längerfristig durchsetzte. Dies mag damit zusammenhängen, dass auf diese Weise ein stärker personenbezogenes, «qualifizierteres und individuelleres Totenge-dächtnis» möglich war.204 In der Folge hat diese Art der Buchführung eine weitaus grössere Verbreitung erfahren als die älteren Verbrüderungsbücher.

202 Hofmeister, Totengedächtnis, S. 190 f.; Schmid, Mönchtum, S. 133; ders., Fraternitas, S. 29 f.; Wol-lasch, Anfänge, S. 66 f.

203 Vgl. oben Anm. 78–85.

204 Schuler, Anniversar, S. 82; ähnlich formuliert bei Schmid, Gebetsgedenken, S. 42; Wollasch, Armensorge, S. 18. Der Wunsch nach individuellem Totengedenken dürfte zugleich das beste Argument darstel-len gegen die seit Jacob Burckhardt immer wieder hartnäckig vertretene These, dass «das Mittelalter keine Individualität gekannt» habe, vgl. Oexle, Memoria als Kultur, S. 48–53; ders., Memoria in der Gesellschaft und in der Kultur, S. 309; ferner Bedos-Rezak, Identity; dies./Iogna-Prat, L’Individu.

Im Dokument Buchführung für die Ewigkeit (Seite 54-60)