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Editionen und Gattungskonstruktion

Im Dokument Buchführung für die Ewigkeit (Seite 42-47)

Angesichts der dezentralen Archivsituation erweist es sich als überaus hilfreich, dass zahlreiche Nekrologien und Jahrzeitbücher aus dem Gebiet der heutigen Schweiz ediert vorliegen. So hatten einige für besonders wichtig erachtete Exemplare bereits in die Editionsreihe der «Monumenta Germaniae Historica» Aufnahme gefunden.139 Für das gross angelegte «Quellenwerk zur Entstehung der schweizerischen Eidge-nossenschaft» wäre neben Urkunden, Urbarien und Chroniken ursprünglich ebenfalls eine Abteilung für Jahrzeitbücher vorgesehen gewesen.140 Schliesslich nahmen die Herausgeber aber von dem Vorhaben Abstand, weil sie zur Überzeugung gelang-ten, dass der «Inhalt dieser Bücher für die eigentliche Entstehungsgeschichte der Eidgenossenschaft und die Landesgeschichte im engern Sinn zum grössten Teil

138 Jahrzeitbuch Seedorf (um 1470), PfA.

139 MGH Necr., Bd. 1, enthält aus den Bistümern Konstanz und Chur – in dieser Reihenfolge – Aus-züge aus Nekrologien und Jahrzeitbüchern von Beromünster, Königsfelden, Einsiedeln, Engelberg, Bischofszell, Fahr, Feldbach, Fischingen, Fraubrunnen, Frauenthal, Hermetschwil, Hitzkirch, Mag-denau, Muri, Rheinau, Sankt Gallen, Sankt Urban, Schaffhausen, Seedorf in Uri, Sion bei Kling-nau, Tänikon, Tobel, Zürich, Wettingen, Wurmsbach und Zurzach sowie Chur, Pfäfers, Müstair und Marienberg.

140 Henggeler, Schlachtenjahrzeit, S. VII f.; ders., Jahrzeitbücher, S. 45.

langlos» sei.141 Von Interesse waren aus einer solchen vaterländischen Sicht einzig die so genannten Schlachtjahrzeiten zum Gedenken an die Gefallenen der grossen eidgenössischen Befreiungs-, Eroberungs- und Religionskriege. Die entsprechenden Belegstellen aus den Jahrzeitbüchern der Innerschweiz wurden vom geschichtsinteres-sierten Einsiedler Benediktinerpater Rudolf Henggeler gesammelt und zu Beginn des Zweiten Weltkriegs in der Reihe «Quellen zur Schweizer Geschichte» publiziert.142 Vergeblich verlieh Henggeler an anderer Stelle seiner Hoffnung Ausdruck, der Plan eines grossen gesamtschweizerischen Editionsunternehmens möge «in besseren und glücklicheren Zeiten … seine Verwirklichung erfahren».143

Stattdessen wurden Auszüge aus nekrologischen Schriftstücken verstreut in verschie-denen historischen Zeitschriften veröffentlicht. So hatte der «Geschichtsfreund», das Publikationsorgan des Historischen Vereins der Zentralschweiz, bereits 1845 eine Rubrik für «Jahrzeitbücher des Mittelalters» geschaffen, die in loser Folge bis heute fortgesetzt wird. Weitere Editionsreihen erschienen etwa in der «Schweize-rischen Zeitschrift für Geschichte», dem «Anzeiger für Schweizerische Geschichte und Altertumskunde», der «Zeitschrift für Schweizerische Kirchengeschichte», dem

«Archiv des Historischen Vereins des Kantons Bern», der Zeitschrift «Argovia» der Historischen Gesellschaft des Kantons Aargau, dem «Jahresbericht der Historisch-Antiquarischen Gesellschaft von Graubünden», den «Thurgauischen Beiträgen zur vaterländischen Geschichte» sowie in den «Mémoires et documents» der Société d’histoire de la Suisse romande, der Société d’histoire et d’archéologie de Genève und der Académie salésienne.144 Daneben gab es schon früh selbständige Publikationen wie diejenige des Bündner Aristokraten Wolfgang von Juvalt zu den Jahrzeitbüchern des Churer Domstifts aus dem Jahr 1867.145

Einen neuen Standard der Editionstechnik setzte zu Beginn des 20. Jahrhunderts der geschichtsinteressierte Aargauer Oberrichter Walther Merz mit seiner Bearbeitung der Jahrzeitbücher von Aarau, indem er möglichst viele Schreiberhände zeitlich einzu-ordnen versuchte und sie in der Edition durch hochgestellte Buchstaben voneinander unterschied.146 Kurz darauf formulierte der fürstenbergische Archivar und nachmalige Zürcher Professor für Rechtsgeschichte Karl Siegfried Bader ähnliche «Grundsätze der Herausgabe kirchlicher Jahrzeitbücher».147 Diesen Vorgaben folgten später Paul

141 Henggeler, Schlachtenjahrzeit, S. VIII; ähnlich QW, Bd. 3/1, S. VII.

142 Henggeler, Schlachtenjahrzeit. Zur Entstehung der Edition vgl. ebd., S. VII–IX.

143 Henggeler, Jahrzeitbücher, S. 45.

144 Vgl. hierzu das Quellenverzeichnis im Anhang (Kapitel 7). Die Editionen finden sich ausserdem nach Zeitschriften geordnet in der Bibliographie (Kapitel 8).

145 Jahrzeitbücher des Domstifts Chur (12.–14. Jh.), BAC, 751.01–04, ed. in Juvalt, Necrologium; vgl.

neuerdings die Faksimileausgabe von Brunold/Muraro, Necrologium.

146 Jahrzeitbücher des Dominikanerinnenklosters und der Pfarrkirche Aarau (14.–16. Jh.), StadtA, Nr. 604–607, ed. in Merz, Jahrzeitbücher.

147 Bader, Grundsätze.

Kläui, Bruno Meyer und Otto Mittler mit ihren Editionen zu den Nekrologien der Be-nediktinerklöster Muri/Hermetschwil und Wagenhausen sowie des Wilhelmitenklosters Sion bei Klingnau.148 Seither sind verschiedene Editionen auch als wissenschaftliche Qualifikationsarbeiten erschienen. So hat Paul Bloesch eine kommentierte Ausgabe zum Anniversarbuch des Basler Domstifts vorgelegt,149 während die Romandie durch die Edition von Arthur Bissegger zum Jahrzeitbuch der Pfarrkirche von Villeneuve vertreten ist.150 All diesen neueren Werken ist gemeinsam, dass sie neben der Edition auch mehr oder weniger umfassende Studien zur sozial- und wirtschaftsgeschicht-lichen Auswertung der betreffenden Dokumente enthalten.

Dass sich die spätmittelalterliche Gedenküberlieferung für die unterschiedlichsten Fragestellungen beiziehen lässt, wird seither kaum mehr bestritten. Dementsprechend kommt der Editionstätigkeit auf diesem Gebiet weiterhin ein hoher Stellenwert zu.

Gegenwärtig entstehen in der Schweiz gleich zwei neue Editionsreihen: Während der Historische Verein des Kantons Schwyz in loser Folge ausgewählte Jahrzeitbücher herausgibt,151 beschäftigt sich ein ähnliches Vorhaben in Graubünden mit der Edition von Jahrzeitbüchern, Urbarien und Rödeln.152 Mit ihren strengen Editionsgrundsätzen präsentieren sich diese Unternehmen vorbildhaft für die Realisierung weiterer Projekte.

Unverzichtbar sind dabei sicher die zeitliche Einordnung der Schreiberhände und der kritische Anmerkungsapparat, welcher die genannten Personen und Orte identifiziert oder auf Besonderheiten der Einträge eingeht, etwa auf Ergänzungen und Korrektu-ren, Streichungen oder Rasuren. Noch stärker gilt es künftig darauf zu achten, auch Schriftbild, Seitengestaltung und Überlieferungszusammenhänge abzubilden. Dabei könnten zukünftige Editionsprojekte in besonderem Mass von den Möglichkeiten profitieren, welche die digitale Datenaufbereitung zu bieten hat.153 Gerade aus dem

148 Nekrolog im Kapiteloffiziumsbuch des Benediktinerklosters Muri/Hermetschwil (um 1140), StAAG, AA/4530, ed. in AU, Bd. 11, S. 155–181; Nekrolog des Benediktinerklosters Wagenhausen (vor 1119), Nationalbibliothek Széchény, Budapest, Cod. Clmae 514, ed. in SVB 86, S. 87–187; Nekro-log des Wilhelmitenklosters Sion bei Klingnau (um 1270), BLB, 1304, ed. in Mittler, Totenbuch, S. 183–229.

149 Jahrzeitbuch des Domstifts Basel (1334–1338), GLA, 64/3, ed. in Bloesch, Anniversarbuch. Eine hervorragende Ergänzung dazu bildet das seit kurzem ediert vorliegende Gräberbuch des Domstifts Basel (1496/1497), GLA, 64/4, ed. in Röthinger/Signori, Gräberbuch.

150 Jahrzeitbuch Villeneuve (1468), ACVD, Ae I, ed. in Bissegger, Paroisse.

151 Jahrzeitbücher des Kantons Schwyz (fortan Jahrzeitbücher SZ); bisher erschienen Bd. 1, Jahrzeit-buch der Pfarrkirche Sankt Martin (1999); Bd. 2, JahrzeitJahrzeit-buch der Pfarrkirche Hl. Kreuz, Lachen (2001); Bd. 3, Jahrzeitbücher der Pfarrkirchen Ufenau und Freienbach (2008).

152 Jahrzeitbücher, Urbare und Rödel Graubündens (fortan Jahrzeitbücher GR); bisher erschienen Bd. 1, Die Kreise Disentis und Ruis (1999); Bd. 2, Die Kreise Ilanz, Lugnez und Trins (2004). Die Jahr-zeitbücher des Churer Domstifts gibt es ausserdem neuerdings als Faksimileausgabe von Brunold/

Muraro, Necrologium.

153 Mittlerweile bieten verschiedene Digitalisierungsprojekte im Internet freien Zugang zu mittel-alterlichen Handschriften, vgl. etwa www.e-codices.unifr.ch; speziell zu den Archivbeständen des Klosters Einsiedeln www.klosterarchiv.ch.

kommunalen Bereich gäbe es zahlreiche interessante Exemplare, die noch überhaupt nicht oder nur unzulänglich ediert sind. Für Forschungen zum städtischen oder länd-lichen Raum wären solche Editionen extrem förderlich.

Konstruktion der Quellengattung

Leider vermögen viele ältere Editionen den Ansprüchen der neueren Forschung nicht zu genügen, da sie sich bei genauer Betrachtung als unzuverlässig und lückenhaft er-weisen. Oftmals haben die Bearbeiter ihr Material nach eigenen Vorstellungen «ver-einheitlicht» und «bereinigt» oder aus mehreren Versionen einen einzigen «Text»

kompiliert. Unter dem Blickwinkel eng gefasster Gattungskriterien mussten ihnen viele Eigenheiten als Mängel erscheinen, welche es wohlmeinend auszumerzen galt.

Was aussergewöhnlich oder fehlerhaft erschien, wurde daher meist kommentarlos beiseitegelassen oder den Erwartungen angepasst.154 Dies konnte so weit führen, dass sogar der Wortlaut standardisiert wurde, indem die charakteristische, teils la-teinische, teils volkssprachliche Ausdrucksweise in ein vermeintlich korrektes La-tein «übersetzt» wurde.155 Auch inhaltlich haben die Bearbeiter stark in ihr Material eingegriffen, indem sie aus den vorhandenen Einträgen lediglich eine willkürliche Auswahl übernahmen, die ihren persönlichen Interessen oder ihrer Auffassung vom Nutzen für die weitere Forschung entsprach. Dabei handelte es sich vor allem um hohe geistliche und weltliche Würdenträger oder Vertreter bekannter Adelsgeschlechter, während andere Einträge einfach weggelassen wurden, ohne dass man es für nötig erachtet hätte, die Auswahlkriterien offenzulegen.156

Stillschweigend übergangen wurden meist auch allfällige Mitüberlieferungen, die Aufschluss geben würden über den praktischen Gebrauch der betreffenden Bücher.

Nekrologische Schriftstücke sind nämlich häufig nicht isoliert überliefert, sondern finden sich eingebunden in Sammelhandschriften ganz unterschiedlicher Art. Viel-fach sind sie zusammen mit Martyrologien und Ordensregeln in Kapiteloffiziums-büchern oder in anderen liturgischen Gebrauchsschriften enthalten, bisweilen auch verbunden mit Traditionsnotizen, Urkundenabschriften, Chartularien, Einkünftever-zeichnissen, Urbarien, Annalen oder Chroniken.157 Solche Überlieferungsverbünde

154 Vgl. hierzu etwa MGH Necr., Bd. 1, wo im Haupttext lediglich die Namen der Verstorbenen abge-druckt wurden, während die verzeichneten Stiftungsgüter entweder gänzlich weggelassen oder in vereinheitlichter Form in den Anmerkungsapparat verbannt wurden. Beiseitegelassen wurden auch sämtliche liturgischen Anweisungen, weil sie der Bearbeiter als «für die Geschichtswissenschaft nahezu werthlos» erachtete, vgl. oben Anm. 42.

155 Vgl. hierzu MGH Necr., Bd. 1.

156 Wie sich bei einem Vergleich mit den Originalen zeigt, fehlt rund ein Drittel der Einträge in MGH Necr., Bd. 1. Vgl. hierzu Clavadetscher, Totengedächtnis, S. 394; Gabathuler, Kanoniker, S. 22 f.;

Meyer, Zürich, S. 19; Mittler, Totenbuch, S. 187.

157 Vgl. hierzu Althoff, Geschichtsbewusstsein, S. 100; Borgolte, Stiftergedenken, S. 235–239; Bünz, Probleme, S. 41; Freise, Grundformen, S. 441–447; Goetz, Geschichtsschreibung, S. 297–300;

Joha-wurden von den Editionen auseinandergerissen und gesondert publiziert, unterteilt in Kategorien wie «Urkunden», «Urbarien» und «Chroniken» oder «Wirtschafts-»

und «Rechtsquellen».158 Geradezu charakteristisch hierfür ist die bereits genannte Edition der eidgenössischen Schlachtjahrzeiten, die vom Herausgeber aus ganz un-terschiedlichen Quellen zusammengetragen und als einheitliches eidgenössisches beziehungsweise innerschweizerisches Brauchtum präsentiert wurden.159

In solchen Editionen werden die durchwegs heterogenen Materialien homogenisiert und ihre Eigenarten praktisch vollständig verdeckt. Das Resultat entspricht daher vielfach eher den stereotypen Gattungsvorstellungen der Bearbeiter als dem effekti-ven Inhalt und Aussehen der betroffenen Schriftstücke. Etwas überspitzt könnte man sagen, dass das nekrologische Schriftgut als eigene, einheitliche Quellengattung auf diese Weise überhaupt erst konstruiert worden ist, was die Rezeption durch die wei-tere Forschung stark beeinträchtigt hat.160

Editionen und Originale

Es gehört zu den Zielen dieser Arbeit, sich von solchen allzu schematischen Katego-rien und engen Gattungsdefinitionen zu lösen.161 Stattdessen sollen die Schriftstücke aus ihren Entstehungs-, Gebrauchs- und Überlieferungszusammenhängen heraus ver-standen und in ihrer jeweiligen Eigenart erfasst werden. Wenn immer möglich, wur-den für die vorliegende Untersuchung daher die Originaldokumente beigezogen. Da diese allerdings meist nur schwer zugänglich sind, erscheint es angebracht, bei den Quellenverweisen neben dem Originalstandort stets auch auf zugehörige Editio nen zu verweisen, sofern eine solche vorhanden ist. An dieser Stelle seien deshalb ein paar Hinweise zur Zitierweise gegeben.

Das hier verwendete Quellenmaterial verteilt sich über einen Zeitraum von fast tau-send Jahren. Um den Überblick über diese heterogene und disparate Überlieferung zu erleichtern, beginnen Quellenverweise im Anmerkungsapparat jeweils mit einer groben Charakterisierung der Handschrift (Kapiteloffiziumsbuch, Nekrolog, Jahr-zeitbuch, Urbar, Chronik usw.), gefolgt vom Ort ihrer Entstehung (bei Klöstern und Stiften zusätzlich Institution und Ordenszugehörigkeit) sowie ihrer ungefähren

Ent-nek, Funktion, S. 145–152, 159; Kuchenbuch, Achtung, S. 176; Molitor, Traditionsbuch, S. 82–86;

Palazzo, Histoire, S. 178 f.; Sablonier, Verschriftlichung, S. 96, 108; Schuler, Anniversar, S. 86.

158 Zur Problematik der separaten Edition nach Quellengattungen vgl. Bünz, Probleme, S. 40, 46 f.;

Hildbrand, Quellenkritik, S. 362–364; Oexle, Gegenwart der Toten, S. 43; Sablonier, Verschrift-lichung, S. 95; Teuscher, Erzähltes Recht, S. 216, mit Anm. 29.

159 Vgl. oben Anm. 142.

160 Zur Kritik an den älteren Editionen vgl. Bader, Grundsätze, S. 193; Hegi, Jahrzeitenbücher, S. 122, 213; Keller, Einsiedeln, S. 154, mit Anm. 5; Leuzinger, Zisterzienserinnenkloster, S. 16 f., Anm. 39;

Meyer, Totenbuch, S. 87–90; Schmid, Gedenk- und Totenbücher, S. 79–81; Schuler, Anniversar, S. 71 f.; zu konkreten Kritikpunkten unten Anm. 562, 577, 586, 593, 645 und 668.

161 Zur Problematik der Abgrenzung von «Gattungen» vgl. Tophinke, Gattungsgrenze.

stehungszeit, wobei sich die Datierung auf die Herstellung des gesamten Dokuments und nicht auf den Zeitpunkt eines bestimmten Eintrags bezieht. Daran schliessen An-gaben zum Originalstandort sowie zu allfälligen Editionen an.162 Wo originalsprach-liche Formulierungen sich als aufschlussreich erweisen, werden sie im Text oder in den Anmerkungen in Anführungszeichen und Klammern beigefügt. Zum besseren Verständnis werden Satzzeichen und Schreibweise behutsam an heutige Gewohnheiten angepasst. Zur Aufschlüsselung der Angaben dient das alphabetisch nach Ortsnamen geordnete Quellenverzeichnis im Anhang (Kapitel 7).

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