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6 Entwicklung eines methodischen Bewertungsvorgehens

6.2 Entwicklung der konzeptbezogenen Bewertung

6.2.1 Verbindlicher Pull-Abruf

Es soll bewertet werden, ob das Konzept des verbindlichen Pull-Abrufs, eingangs beschrieben unter 3.2.1 und vertiefend behandelt in der Anforderungsanalyse unter 4.2.1, unter den gegebenen Bedingungen umgesetzt werden kann. Hierfür müssen die unter 4.3.1 aufgeführten Anforderungen erfüllt sein. Abhängigkeiten zu anderen Konzepten bestehen nicht, sodass eine Umsetzung, sollten die Voraussetzungen erfüllt sein, auch alleinstehend vorgenommen werden kann.

Zuordnung der Kenngrößen

Um eine Aussage über die Erfüllung der Anforderungen treffen zu können, können die Kenngrößen der „Planbarkeit des Teilebedarfs“ 5.3.1 sowie der „Liefertreue“ 5.3.2) zur Bewertung der vorliegenden Randbedingungen und Prozesse der automobilen Inbound-Logistik herangezogen werden.

Hierfür wird die Planbarkeit (Formel 19) auf dem Aggregationsniveau des Lieferanten 𝐿 mit 𝑃𝐵𝑇𝑁,𝑛,𝑍 𝐿 gebildet.62 Nachfolgend wird hierfür vereinfachend 𝑃𝐵𝑇 geschrieben. Zur Prüfung der Anforderungserfüllung wird die Durchlaufzeit je Lieferant zum Abzug gebracht (Formel 12). So bildet 𝑃𝐵𝑇 𝐷𝐿𝑍 die erste Prüfdimension (Begründung siehe 6.1.1).

Als Grundlage der Berechnung der Planbarkeit werden die Bruttobedarfe (Formel 2) genutzt, da sie das Potenzial für eine Konzeptumsetzung wiedergeben. Potenzial in diesem Sinne heißt, dass die Produktionsbedarfe in Reinform ausgewertet werden und noch keine Veränderungen durch Maßnahmen und bestehende Konzepte der Logistik, bspw. die Liefereinteilung (Sicherheitstage, Gebindegrößen etc.), vorliegen.63 Bei der Bildung der Kenngröße werden die Bedarfe aller Fahrzeugwerke berücksichtigt, die bei den betrachteten Lieferanten abrufen.

Die Liefertreue 𝐿𝑇 𝐿 als zweite Prüfdimension wird mittels Formel 24 auf dem Aggregationsniveau des Lieferanten 𝐿 gebildet. Nachfolgend wird auch hier vereinfachend die Kennzeichnung des Lieferanten vernachlässigt, sodass LT geschrieben wird. Ebenso wie bei der Ermittlung der Planbarkeit werden bei der Liefertreue alle Fahrzeugwerke berücksichtigt, die bei den Lieferanten abrufen.

Prüfung der Muss-Anforderung

Die Muss-Anforderung besagt, dass sich die Bedarfe bzw. deren Vorschau (Menge/Zeiteinheit) im Bezugszeitraum und somit während der Durchlaufzeit, vom Lieferanten zum Bedarfsort, nicht ändern dürfen (Anforderung A1: Tabelle 21) In diesem Fall besteht Planbarkeit und somit die Voraussetzung, den Abruf im Sinne des Lieferanten verbindlich auszugestalten. Durch die Anforderung lässt sich die Gesamtergebnismenge aller Ausprägungen 𝑝 in zwei Teilmengen aufteilen:

𝐴𝑃𝐵𝑇 𝑝| 𝑃𝐵𝑇 𝐷𝐿𝑍 0

62 Die Formel und ihre Variablen werden neben der Erläuterung innerhalb der Entwicklung der Kenngröße (5.3.1) im Anhang unter A.6 beschrieben.

63 Die Liefereinteilung wird im Rahmen der Analyse des verbindlichen Pull-Abrufs unter 4.2.1 näher erläutert.

𝐵𝑃𝐵𝑇 𝑝| 𝑃𝐵𝑇 𝐷𝐿𝑍 0

Formel 39

Alle Ergebnisse der Menge 𝐴𝑃𝐵𝑇 erfüllen die Voraussetzung, den Abruf durch die Logistik verbindlich zu gestalten, da die Randbedingungen nach Abzug der Durchlaufzeit noch eine ausreichende Planbarkeit von größer null aufweisen. Durch Anpassung der Abrufsystematik kann ein möglichst unverfälschter Bedarfsabruf (Pull) an die Lieferanten gesendet werden.64

𝐵𝑃𝐵𝑇 ist dabei der absolute Komplementär von 𝐴𝑃𝐵𝑇. Die Menge der Ergebnisse erfüllt die Muss-Anforderung nicht, da sich die Bedarfe noch innerhalb der Durchlaufzeit der Inbound-Logistik ändern.

Prüfung der Soll-Anforderung

Die Soll-Anforderung bezieht sich auf die vorliegende Prozessqualität. Hierbei gibt die Liefertreue den Prozentsatz der Teilemenge an, die durch den Lieferanten und den damit verbundenen Inbound-Prozess im Vergleich zum Abruf sowohl mengen- als auch qualitätsgerecht angeliefert wurde. Die Soll-Anforderung besagt, dass hierbei bereits vor Umstellung auf das Konzept ein hoher Erfüllungsgrad des Abrufs vorliegen sollte. Durch diese Anforderung lässt sich die Menge der Ergebnisse wie zuvor in zwei Teilmengen aufteilen.

𝐴𝐿𝑇 𝑝|𝐿𝑇 𝑥 𝐵𝐿𝑇 𝑝|𝐿𝑇 𝑥

Formel 40

Da es sich um keine „harte“ Anforderung handelt, bei der eine natürliche Ausprägungsgrenze vorliegt, könnte die Aufteilung auch in mehr als zwei Bereiche vorgenommen werden. Die ABC-Analyse wählt beispielsweise im Standardfall eine Aufteilung nach dem Paretoprinzip in drei Bereiche (siehe 2.2.1). Eine Aufteilung in zwei Bereiche wird für die Ausarbeitung der Systematik jedoch zunächst als ausreichend empfunden.

Die Teilmenge ALT kennzeichnet den Bereich einer hohen Liefertreue. Da bei einer idealen Umsetzung des Pull-Abrufs keine Sicherheitsmengen mehr bestehen, ist dies unabdingbar, um Prozessbehinderungen wie teure Ausweichprozesse (Sonderfahrten etc.) bis hin zu einem Produktionsstopp in den Fahrzeugwerken zu vermeiden. Für die Parametrisierung muss der Anwender abschätzen, welche Liefertreue er vor Umsetzung des Konzepts erwartet. Es ist bei der Überlegung einzubeziehen, dass der verbindliche Abruf zu einer Verbesserung der Liefertreue führt (vgl. Klug 2018, S. 438). Eine ebenfalls vorgenommene Einführung des vorgezogenen Wareneingangs (3.2.3) oder des Auftragsbezugs (3.2.2) kann zu einer weiteren Steigerung der Lieferqualität führen.

Als Voraussetzung zur Umsetzung des Idealkonzepts vertritt diese Arbeit die Meinung, dass die Parametrisierung von 𝑥 bei mindestens 80 90 % liegen sollte.

64 Im Anhang A.5 wird ein Fallbeispiel für eine reale Anpassung der Abrufsystematik gegeben.

Dadurch, dass die Menge 𝐵𝐿𝑇 den absoluten Komplementär zu 𝐴𝐿𝑇 bildet, wird hierdurch der Teil der Ergebnismenge gekennzeichnet, bei dem man auf Grund der heute bestehenden Liefertreue Schwierigkeiten bei der Umsetzung erwarten muss. Es ist abzuschätzen, ob und mit welchen Maßnahmen eine ausreichende Verbesserung der Qualität erreicht werden kann.

Beschreibung der konzeptbezogenen Bewertung

Für die Überprüfung der beschriebenen Muss- und Sollte-Anforderung wurde die nachfolgende Visualisierung der Abbildung 36 entwickelt. Sie erlaubt durch Kennzeichnung der jeweiligen Annahmebereiche eine Bewertung der vorliegenden Bedingungen zur Konzeptumsetzung.

Abbildung 36: Bewertungsschema für das Konzept des verbindlichen Pull-Abrufs (eigene Darstellung) ABPT ALT: Umsetzbarkeit des verbindlichen Pull-Abrufs (Idealkonzept)

Die Planbarkeit des Teilebedarfs ist bereits ausreichend, sodass eine Umstellung des Logistikkonzepts erfolgen kann. Die sehr hohe Liefertreue unterstützt die Umstellung.

Im Rahmen der Umsetzung müssen durch die Logistik Behältergrößen, Gebindegrößen, Sicherheitstage, Sicherheitsmengen, Verpackungsvorschriften etc. so abgeändert werden, dass der Bruttobedarf möglichst in Reinform, als unverfälschter Bedarfsabruf der Produktionsmenge, verbindlich an die Lieferanten gesendet wird.65 Kleine Schwankungen in der Bedarfsmenge, welche innerhalb der Parametrisierung der Kenngröße als akzeptabel betrachtet wurden, müssen über Pufferbestände abgefangen werden.66

ABPT BLT: Umsetzbarkeit des verbindlichen Pull-Abrufs mit Sicherheitsbestand (Variante 1) Die Planbarkeit des Teilebedarfs ist ausreichend, sodass ein verbindlicher Pull-Abruf umgesetzt und an die Lieferanten versandt werden kann. Die erforderlichen Maßnahmen zur Umsetzung können von der Logistik selbst getroffen werden. Da die erforderliche Liefertreue jedoch nicht besteht, sodass mit Unter- und Überlieferungen aus dem operativen Prozess zu rechnen ist, sind weiterhin Sicherheitsbestände mit einem werksnahen Lager67 vorzusehen, um die Schwankungen aufzufangen.

65 Die Umstellung des Teileabrufs als möglichst unverfälschte Weitergabe der Produktionsbedarfe wurde in einer Fallstudie durchgeführt. Siehe hierzu den Anhang A.5.

66 Ein Beispiel für die Parametrisierung der Kenngröße ist den Grundlagen aus 6.1.1 zu entnehmen.

67 Der Begriff des werksnahen Lagers kennzeichnet ein Lager in Nähe des Fahrzeugwerkes oder aber das Eingangslager des Fahrzeugwerks selbst. Dies gilt auch für die folgenden Konzepte.

BBPT ALT: Umsetzbarkeit des verbindlichen Abrufs mit Frozen Zone (Variante 2)

Die Liefertreue ist sehr gut, sodass gute Voraussetzungen für eine Prozessumstellung bestehen.

Allerdings weisen die Bruttobedarfe nicht die erforderliche Stabilität auf, um hieraus einen verbindlichen Pull-Abruf bilden zu können. Als gestufte Konzeptvariante kann eine logistische Frozen-Zone mit Entkopplung über ein werksnahes Lager eingeführt werden. Diese bietet die Möglichkeit, den Abruf im Bereich der Inbound-Logistik, trotz fehlender planbarer Voraussetzung der Produktion, hinreichend verbindlich auszugestalten.

Die „Frozen-Zone“ ist generell ein zwischen dem Fahrzeughersteller und dem Lieferanten vereinbarter Zeitraum, in dem die Mengen und Termine der Bestellung nicht mehr geändert werden (vgl. Barthel 2006, S. 79).68 Durch die Entkopplung mittels eines Lagers kann die Anforderungsuntererfüllung durch selbstständige Maßnahmen der Logistik ausgeglichen werden.69 Es ist hierfür zu prüfen, ob die Vorhaltung der Schwankungsmenge im Lager operativ möglich und wirtschaftlich angemessen umgesetzt werden kann.

BBPT BLT: Nicht empfohlene, sehr eingeschränkte Umsetzbarkeit

Sowohl die Voraussetzung der Planbarkeit als auch die relativ schlechte Liefertreue bergen zu viele Unwägbarkeiten für eine Umsetzung aus Logistiksicht. Prinzipiell könnten jedoch durch eine Entkopplung mittels eines werksnahen Lagers sowohl die Unregelmäßigkeit der Produktionsbedarfe als auch der Lieferqualität aufgefangen und ein verbindlicher Abruf könnte umgesetzt werden. In Summe ergibt sich hierdurch jedoch keine Konzeptvariante im Sinne der Lean Logistics.