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5 Entwicklung anforderungsspezifischer Kenngrößen

5.3 Bildung der Kenngrößen

5.3.2 Kenngröße 2: Liefertreue

Abbildung 27: Verschiebung des Kurvenverlaufs um die Durchlaufzeit (eigene Darstellung) Für die Umsetzbarkeit der Konzepte sollte der Kurvenverlauf einen möglichst hohen Schnittpunkt mit der 𝑍-Achse aufweisen, da in diesem Punkt die Planbarkeit der Durchlaufzeit entspricht. Um die Voraussetzungen zu verbessern, werden aus der gewählten Systematik zwei Ansatzpunkte deutlich:

Die Variable 𝑧 (Mengentoleranz) kann genutzt werden, um eine erhöhte Planbarkeit zu erreichen.

Eine Vergrößerung von z führt zu einer Verbesserung des Kurvenverlaufs nach oben. Gleichzeitig müssen die damit tolerierten erhöhten Schwankungen durch Prozesspuffer aufgefangen werden (5.1.2).

Weiterhin kann die Verkürzung der 𝐷𝐿𝑍 zur Verschiebung der Kurve nach rechts führen. Die Durchlaufzeit kann durch die Verlegung des Lieferantenstandorts hin zum Fahrzeugwerk (Verkürzung der Transportstrecke), durch eine Erhöhung der Transportfrequenz (Verkürzung der Liegedauer der Teile, z. B. im Konsolidierungspunkt) oder sonstige Prozessmaßnahmen verkürzt werden. Der deutlich gewordene Sachverhalt zeigt, warum in der Vergangenheit Lieferanten für eine JIT-Anlieferung in Werksnähe angesiedelt wurden.

Unter dem Aspekt der Robustheit kann bemerkt werden, dass die Kenngröße, die auf der Bedarfsrechnung des Automobilherstellers fußt, relativ robust gegenüber den folgenden beispielhaften Vorkommnissen ist: wechselnde Ausstattungsmerkmale im Produktionsmix, Veränderung des Fahrzeugoutputs, Veränderungen in den Arbeitszeitmodellen. Alles, was keinen massiven Einfluss auf die Arbeitsweise der Produktion oder die Gestaltung des Produktionsprogramms hat, sollte keine systematische Änderung auf das durch die Planbarkeit des Teilebedarfs gemessene Stabilitätsverhalten haben.

Qualitativ wird das Anforderungsbündel in Tabelle 14 wie folgt beschrieben:

Vor Umstellung auf das Konzept sollte bereits eine hohe Qualität im Inbound-Prozess bestehen und somit der Abruf in der erforderlichen Teilemenge und den damit verbundenen Bestimmungen (Teilequalität, Behälter, genau erfüllt werden.

Eine ungenügende Anforderungserfüllung bedeutet, dass, auch wenn alle anderen Voraussetzungen für die Konzeptumsetzung gegeben sind, eine Umsetzung Schwierigkeiten hervorrufen könnte, da die Prozesspartner nicht das Vermögen einer hinreichend genauen Arbeitsweise aufweisen. Genau kann in diesem Zusammenhang zwei Bedeutungen haben. Sowohl eine Über- als auch eine Unterlieferung führen nicht zum Zielzustand der Lean Logistics, einer JIT-Anlieferung.

Für eine Prüfung wird im Allgemeinen die in Literatur und Praxis bekannte Größe der Liefertreue ermittelt (vgl. Schenk et al. 2014, S. 365). Hierfür wird entsprechend der in dieser Arbeit verfolgten Vorgehensweise aus 5.1.2 eine Formel hergeleitet.

Zunächst ist der Wareneingang, der den Endpunkt der Inbound-Logistikkette bedeutet, interessant für die Betrachtung. Jeder Automobilhersteller kann an dieser Stelle, unabhängig von der Tiefe der Zusammenarbeit mit den Prozesspartnern, die Prozessgüte beurteilen (5.2.3). Die von einer Teilenummer fehlerfrei an einem Tag T eingegangene Teilemenge wird mit 𝑊𝐸𝑞 𝑇 bezeichnet (Formel 7).

Dem gegenüber steht der getätigte Lieferabruf, welcher für den Tag T die Teilemengen 𝐴𝑡 𝑇 des betrachteten Teils aufweist (Abschnitt 5.2.2). Mit 𝑡 wird der Tag, an dem der Abruf erfolgte, gekennzeichnet. Nach der in Formel 5 getätigten Definition enthält 𝐴 für 𝑡 𝑇 den letztmalig getätigten Abrufwert mit 𝐴𝑇 𝑇 𝑠𝑜𝑇.

Mittels eines Vergleichs der beiden Größen 𝐴 𝑇 und 𝑊𝐸𝑞 𝑇 kann dann eine binäre Entscheidung zur Anforderungserfüllung „Entspricht der Wareneingang dem Abruf?“ herbeigeführt werden. Um zudem die Einführung eines Toleranzfeldes zu ermöglichen, wird wie im Abschnitt zuvor eine Variable 𝑧 eingeführt, welche die maximale Abweichung gegenüber der Abrufmenge definiert, die noch als akzeptabel gilt. Es ergibt sich die folgende Prüffunktion der Liefertreue einer Teilenummer an einem Anliefertag:

𝑙𝑡 𝑇 1 𝐴 𝑇 −𝑊𝐸 𝑇 ≤

1 𝑠 − +𝑞 ≤

Formel 21

Die in Formel 21 aufgestellte allgemeine Definition kann jedoch noch weiterentwickelt werden, um die unter 4.4.2 getroffene qualitative Anforderungsbeschreibung besser abzubilden. Denn die Anforderung zielt darauf ab, die Qualität des Inbound-Prozesses zu bewerten. Bei diesem spielt der Lieferant als Ausgangspunkt des Transports eine wichtige Rolle. So kann es in der Realität

vorkommen, dass die örtliche Entfernung eines Lieferanten mit entsprechender Durchlaufzeit dazu führt, dass ein neuer bzw. aktualisierter Lieferabruf auch noch nach dem physischen Start des Transports beim Lieferanten eintrifft.50 Die hieraus resultierende Abweichung würde die in Formel 21 beschriebene Liefertreue verschlechtern, obwohl die Ursache dem Fahrzeughersteller zugeschrieben werden kann. Die mathematische Prüfung sollte diesen Einfluss berücksichtigen, um eine reine Bewertung der Arbeitsqualität zu erlauben.

Eine Korrektur der Prüffunktion kann daher durch die Berücksichtigung der Inbound-Durchlaufzeit 𝐷𝐿𝑍 (Formel 12) geschehen.51 Weil es sich bei der Durchlaufzeit um eine reelle Zahl handelt, wie beispielsweise 2,6 Tage, wird hierfür die Aufrundungsfunktion ⌈DLZ⌉ genutzt, da für Abrufe in der Zeiteinheit von ganzen Tagen gerechnet wird.52 Es wird dann gegen den Abruf geprüft, der am Tag der Abholung an den Lieferanten gesandt wurde.

𝑙𝑡 𝑇 1

𝑠 +𝑞 ≤ Formel 22

Aus der Formel lässt sich die absolute Liefertreue eines Anliefertages mit 𝑧 0 bilden (Nulltoleranz).

Um die Prüfung anwendungsnäher zu gestalten, kann der Anwender die Toleranz 𝑧, in Anzahl Teilen, nutzen. Begründet werden kann die Nutzung einer Mengentoleranz mit vorliegenden kleinen Prozesspuffern, die im nächsten Lieferzyklus wieder aufgefüllt werden (siehe Begründung unter 5.3.1 ). Hierdurch lässt sich die ausreichende Liefertreue formulieren.

Aggregation zur Kenngröße: Liefertreue eines Teils

In der Regel wird mittels der zuvor aufgestellten Formel zur Bewertung eines einzelnen Wareneingangs die aggregierte Kenngröße der Liefertreue gebildet, welche die Wareneingänge einer bestimmten Periode den Abrufen gegenüberstellt und die Quote der Erfüllung als Ergebnis hat (vgl.

VDI 2001, S. 18). So wird für eine Teilenummer 𝑄 die Summe aller mittels Formel 22 bewerteten Tage 1, … 𝑁 einer Erhebung gebildet. Die Summe repräsentiert die Tage, an denen der Wareneingang den Abruf korrekt erfüllt. Diese werden der Gesamtzahl an Tagen 𝑁 gegenübergestellt.

𝐿𝑇 𝑄 𝐿𝑇𝑁 𝑄 ∑𝑁𝑇=1𝑙𝑡 𝑇 𝑁

Formel 23

Aggregation zur Kenngröße: Liefertreue eines Lieferanten

Um die Kenngröße auf alle Teile eines Lieferanten 𝑄 1, … , 𝑀 auszuweiten, kann der Quotient aus der Summe der Liefertreue jedes Teils zur Anzahl aller Teile des Lieferanten gebildet werden.

50 Die Durchlaufzeit oder wenigstens deren Bestandteil, die Sendungslaufzeit, wird heute nicht unbedingt bei den Fahrzeugherstellern berücksichtigt. So gilt der letzte gesendete Abruf, obwohl ein Lieferant diesen im physischen Prozess nicht mehr berücksichtigen kann.

51 In der Praxis erfolgt die Berücksichtigung der Durchlaufzeit bereits teilweise bei der Bestimmung der Liefertreue. So bewertet der Zulieferer ZF die Liefertreue so, dass das System bei der Bewertung auf bis zu zwei vergangene Lieferabrufe zurückgreift, um zu prüfen, ob die Wareneingangsmeldung mit einem der letzten beiden Lieferabrufe übereinstimmt. ZF erkennt die hiermit immer noch bestehende Ungenauigkeit an und merkt daher an „Kurzfristige Lieferabrufänderungen von unserer Seite gehen in Ihre Bewertung mit ein“ ZF 2017, S. 4).

52 Wird im Rahmen der Abrufsystematik in anderen Zeiteinheiten als in ganzen Tagen gearbeitet, kann diese entsprechend angepasst werden.

𝐿𝑇 𝐿 𝐿𝑇 𝑄

𝑀 Formel 24

Stellvertretend für beide Aggregationsstufen der Liefertreue wird im Anhang unter A.6 der Kenngrößensteckbrief der Liefertreue eines Teils in komprimierter Form wiedergegeben.

Diskussion der Kenngröße

Die Liefertreue wird durch die Gegenüberstellung des Abrufs und des Wareneingangs gemessen, deren Variablen in Formel 21 und 22 ersichtlich werden. Seitens der Wareneingangsdaten findet hierdurch die zum Liefertermin eingegangene Menge eines Teils 𝑤𝑇 sowie die dabei qualitativ beanstandete Teilemenge 𝑞𝑇 Berücksichtigung in der Kenngröße. Möchte man detailliertere Informationen zu den einzelnen Fehlern haben, kann auch die spezifische Mengen-, Termin- und Qualitätstreue gebildet werden (vgl. VDI 2001, S. 20 ff.). Es müssen hierfür jedoch die erforderlichen Voraussetzungen bestehen (siehe 5.2).

Unter der im Rahmen dieser Arbeit definierten Liefertreue (Formel 23, Formel 24) werden durch die Erfassung im Wareneingang die gesamten Fehler des Lieferprozesses subsumiert. Dies können sein:

Lieferantenfehler, Routing-Fehler, Transportschäden. Eine klare Zuweisung zu einzelnen Prozessabschnitten und Verursachern ist hierdurch nicht möglich. Die Kenngröße gibt durch den Vergleich mit den Abrufdaten nur einen ersten Anhaltspunkt über die Güte der Arbeitsqualität wieder.

Um eine Zuordnung zu ermöglichen, kann die Liefertreue im Rahmen einer Analyse auch zu Teilen des Logistiknetzwerks gebildet werden. Insbesondere da sich die Anforderungen (A2, B3, C3) an die Arbeitsqualität der Prozessteilnehmer richten, kann eine spezifische Betrachtung Sinn ergeben.

Wenn die entsprechenden Daten hierzu vorliegen, wie bspw. in Form von Eingangsbuchungen im Umschlagspunkt, kann die Formel 24 analog angewandt werden. Die Datentiefe liegt jedoch oftmals nicht beim Automobilhersteller vor (5.2), weshalb die hingegen üblicherweise vorliegenden Wareneingangsdaten als ein Hinweis auf die Arbeitsqualität genutzt werden.

Ein gravierender Einfluss, der die Bewertung der Arbeitsqualität negativ beeinflussen kann, wurde bereits innerhalb der Kenngrößenbildung erkannt und es wurde versucht, diesen zu eliminieren.

Dies ist die Güte der Planbarkeit des Teilebedarfs. So kann es sein, dass die Arbeitsqualität in den einzelnen Prozessschritten hoch ist und die Materialbereitstellung und Transport genau nach den Bestimmungen ablaufen, die täglichen Abrufaktualisierungen und die damit verbundenen Mengenschwankungen den Start des Prozesses jedoch so verwirbeln, dass der Abruf nur ungenau erfüllt werden kann. Durch die Berücksichtigung des der Durchlaufzeit entsprechenden Abrufs in Formel 22 wird versucht, den Einfluss gering zu halten, bei stark schwankenden Abrufen ist jedoch die Güte der Kenngröße zu hinterfragen.

In Bezug auf die Robustheit sollte ein erfasstes Kenngrößenergebnis recht robust und gut extrapolierbar sein, da nicht davon auszugehen ist, dass die Arbeitsqualität bei gleichen Prozessbeteiligten schnell gesteigert werden kann. Wird jedoch ein wichtiger Prozesspartner wie der Teilelieferant gewechselt, kann das Ergebnis nicht ohne Weiteres übertragen werden.