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Die transtextuelle Beziehung zwischen „Alice in Wunderland“ und „Alice in den Städten.“

Im Film „Alice in den Städten“ des Regisseurs Wim Wenders sind meta- und architextuelle Bezüge zu der im vorigen Kapitel behandelten, märchenhaften Erzählung von Lewis Carroll vorhanden. Obwohl letzere dem Genre Fantasy zugeordnet wurde, handelt es sich bei dem Film um einen Road-movie114. Das Genre beider Werke ist nicht identisch und dient insofern nicht als deren Schnittpunkt, wobei das Wunderbare eins der wichtigsten Merkmale des Textes ist, in dem die Handlung in einer phantastischen, im Film hingegen in der realen Welt positioniert ist. Es entsteht also der erste Gegensatz zwischen Adaption und Text, nämlich Realität versus Fantasy. Auch der Inhalt des Filmes – auf Figurenkonstellation und Handlungsverlauf bezogen – ist nicht identisch. Es existieren nur Parallelen mit dem literarischen Text. An der Stelle, an der in „Alice im Wunderland“ noch ein kleines Mädchen die Protagonistin ist, übernimmt im Film ein Erwachsener diese Rolle. Trotzdem erscheint die gleichnamige Figur aus der Erzählung auch im Film. Vieler bestätigt die Beziehung zwischen beiden Werken und bezeichnet das Mädchen der Adaption als „frech“.115

Die Ähnlichkeit zwischen Text und Film scheint insofern minimal, auf das Motiv des Reisenden und den Titel beschränkt zu sein. Einerseits, weil sich die Hauptfigur Phillip auf eine Reise, genau wie Alice in der Erzählung begibt. Andererseits ist bereits der Titel der Erzählung eine Anspielung auf den Text von Carroll. Es ist folglich die Rede von einer Adaption, weil sich der Film literarischen Rohstoff aneignet und diesen im Nachhinein beliebig umbaut. Die Verwendung des Namens Alice im Filmtitel verweist

114 Unter der Gattung Roadmovie, auf Deutsch auch Fahrfilm genannt, werden diese Filme verstanden, in denen vorwiegend Männer Protagonisten sind. Darin werden die Notwendigkeit der Hauptfigur nach Freiheit und Selbstwertbestimmung thematisiert, indem diese aus ihrer alltäglichen Umgebung und ihrem Netz sozialer Roller entgleitet. vgl. Beicken, 2005: 143

115 vgl. Vieler, Veronica (2009): Filmregie als Verstehensprozess - dargestellt an Wim Wenders' "Der Stand der Dinge". Würzburg:Königshausen & Neumann, S. 89f.

44 auf die interfiguralen Beziehungen beider Heldinnen. Sie haben nicht nur der gleichen Namen, sondern auch das gleiche Alter. Die Substitution des Wortes „Wunderland“

durch „Städte“ benennt hier die neuen Schauplätze der Handlung New York, Amsterdam und Wuppertal.

„Nicht von ungefähr tragen viele [von Wenders] Filme Orte im Titel. Sie künden von Bewegungen, von Aufbruch. […] Wichtig ist dabei stets das genaue Schauen, das Wahrnehmen der Landschaft, der Orte. Unverkennbar sind die lange Fahrtaufnahmen, gegenläufige Bewegungsrichtungen, langen Einstellungsdauern. Tatsächlich geht es weniger um die zielgerichtete Bewegung als um die Bewegung selbst, die immer eine langsame ist, eine der Annäherung.“116

Zusätzlich rechnet der Zuschauer anhand des Titels, dass der Film auf die Erlebnisse von Alice fokussiert, doch sie erscheint nicht von Anbeginn der Handlung. Die Aufnahme ihres Namens im Titel verweist ebenso auf die Wichtigkeit dieser Figur im Film.

Letztendlich ist ihre Rolle komplementär zu der des Protagonisten.

4.2. Die problematische Funktion von Kommunikation

Der Film beginnt, als sich der Protagonist Phillip Winter noch in den U.S.A. befindet, um einen Artikel über die amerikanische Landschaft zu schreiben. Anstatt dessen, hat er

„eine Menge Fotos gemacht und [sich] viel notiert“117. Als er bei seinem Auftraggeber mit den Fotos auftaucht, zeigt ihm dieser seine Missbilligung. Er informiert ihn darüber, dass seine Frist für die Abgabe des Berichtes abgelaufen ist. Darauf beschließt der Mann nach Deutschland zurückzukehren, da er in den U.S.A. nichts mehr zu tun hat. Auf dem Flughafen begegnet er einer Frau namens Lisa und ihrer Tochter Alice. Weil erstere sich

116 Hagen von, Kisten (2007): „Filmgeschichten sind wie Reiserouten – Von der Poetik des Unterwegseins in den Filmen von Wim Wenders“Gellhaus, Axel/ Moser, Christian/ Schneider, J. Helmut (Hrsg.) (2007):

Kopflandschaften. Landschaftsgänge. Kulturgeschichte und Poetik des Spaziergangs. Köln/ Weimar:

Böhlau, S. 325

117 Alice in den Städten,Regie: Wim Wenders. Deutschland: 1973, M: 15 Im Folgenden werden die Zitate aus dem Film unter der Sigle AS erkannt, anhand Minuten festgehalten und befinden sich im Text.

45 mit der Angestellten am Flughafen nicht gut verständigen kann, benötigt sie die Hilfe des Protagonisten. Sie erfahren, dass kein direkter Flug nach Deutschland existiert, aufgrund eines Streikes. Sie können nur nach Deutschland, wenn sie in Amsterdam zwischenlanden.

Bis zu diesem Punkt werden die Fremde und die Probleme, die in dieser auftauchen, thematisiert. Eins dieser ist z. B., dass Lisa die englische Sprache nicht so gut beherrscht, deshalb muss Phillip für sie am Flughafen vermitteln, um den Flug zu buchen. Bei dem Versuch, verspricht er sich: „Would you please plut, would you please plut, would you please put her on the flight to Amsterdam tomorrow?“ (AS: 19ʼ). In dieser Szene kann der Zuschauer die Figur mit beinahe geschlossenen Augen und gesenktem Kopf sprechen sehen. Sie verspricht sich genau wie es Alice bei ihren Rezitationen ständig tut. Die fremde bzw. englische Sprache bietet den Figuren im Film keinen Halt. Bei der verstörten Kommunikation handelt es sich um ein gemeinsames Motiv zwischen Film und Text. Auf die Sprachprobleme, macht ebenfalls die filmische Alice aufmerksam, indem sie zu ihrer Mutter sagt: „Wenn du Englisch könntest, dann wärʼs alles anders.“

(AS: 20ʼ) Das Schweigen der Mutter im Nachhinein signalisiert, dass sie dieser Behauptung zustimmt.

Auf die problematische Funktion von Kommunikation wird ebenso durch die Taten des Protagonisten verwiesen: Anstatt etwas zu schreiben, schießt er Fotos. An Stelle des Wortes, kommt non verbale Kommunikation, dadurch wird das Zeichensystem Sprache vom Zeichen Bild abgelöst. Der Protagonist schießt viele Fotos während seiner Reise, damit er seine Gefühle und Eindrücke, die er nicht mittels Wörter beschreibt, festhalten kann. Er ist mundtot und ist sich dessen bewusst, wie es folgender Auszug beweist:

„-Aber die Geschichte handelt von Sachen, die man sehen kann, von Bildern und Zeichen […] Wenn man durch Amerika fährt, dann passiert da was mit einen, durch die Bilder, die man sieht. Und der Grund warum ich so viele Fotos gemacht hab; (Pause) das ist ein Teil der Geschichte.“ (AS: 15ʼ f.)

46 In dieser Szene erscheint Phillip verwirrt von dem, was er während seiner Reise gesehen hat.118 Dies ist ein Kennzeichen, das er mit Alice teilt, da sie aufgrund ihrer Abenteuer im Wunderland ebenfalls verwirrt ist. Er packt die Fotos aus seiner Tasche und legt sie auf den Tisch seines Vorgesetzten, eine Geste, die die Wichtigkeit des Materials veranschaulichen soll.

Das Element des Nonsense wird ebenfalls in die sprachliche Ebene im Film eingebettet.

Sätze wie: „To shoot pictures, erschießen, alles abknallen, was man nicht aushält.“ (AS:

6ʼ) oder gleichklingende Wörter wie „Hessen“ und „essen“, formen den linguistischen Aspekt vorherrschender intertextueller Beziehungen zwischen Film und Text. Dabei scheinen diese Äußerungen anfangs nicht von Bedeutung zu sein, insbesondere, da Umgangssprache benutzt wird. Bei einer näheren Betrachtung kommt die Genialität und Intention dieser wörtlichen Konstruktionen zum Ausdruck. Genauer genommen verwendet Phillip im ersten Beispiel, auf Deutsch die wörtliche Bedeutung des englischen Verbes „shoot“. Auf den ersten Blick scheint es noch als eine misslungene Übertragung des Wortes im Deutschen, doch für einen Kenner des Textes „AiW“ wird die Anspielung deutlich. Wie in einem vorherigen Kapitel erwähnt wurde, entsteht die gestörte Kommunikation im literarischen Text, wegen den Gesprächspartnern von Alice, die ihre Absichten und vor allem ihre Sätze falsch interpretieren. In den meisten Fällen gelingt ihnen das, da sie das Gesagte wörtlich verstehen und dabei eine Kette von Assoziationen entsteht, wie z. B. im folgenden Textauszug:

„Dann solltest du auch sagen, was du meinst“ fuhr der Schnapphase fort. „Das tu ich ja“, widersprach Alice rasch; „wenigstens – wenigstens meine ich, was ich sage – und das kommt ja wohl aufs Gleiche heraus.“ „Ganz und gar nicht“, sagte der Hutmacher. „Mit demselben Recht könntest du ja sagen“: ›Ich sehe, was ich esse‹ ist das Gleiche wie ›ich esse, was ich sehe‹!“ (AiW: 66)

118 vgl. Light, Andrew (1997): “Wim Wenders and the Everyday Aesthetics of Technology and Space”. In:

The Journal of Aesthetics and Art Criticism 55:2, Spring 1997, S. 220

47 Die Gleiche Eigenschaft der Sprache, wird benutzt, als Phillip und Alice im Zug sitzen und er sagt, dass sie nach Hessen gehen und dabei das Mädchen „essen“ versteht. Sie erwidert darauf, dass „das […] gut [ist].“ Es verschmelzen also erneut die Grenzen zwischen Bezeichnendem und Bezeichneten und daher schwindet auch die Möglichkeit der normalen Kommunikation zwischen beiden filmischen Figuren. Der Verweis auf den Text ist in diesem Fall doppelt gestaltet. Einerseits wird auf Verwirrung abgezielt, die anhand des Gebrauchs von Nonsense entsteht. Andererseits wird der Hunger der Protagonistin thematisiert. Sowie Alice im Text essen muss, wird auch im Film die Not der gleichnamigen Figur nach Essen inszeniert. Während im Text die Protagonistin Pilze und Kuchen isst, sind es im Film „hot-dogs“. Im Text muss Alice, wie schon erwähnt wurde, essen, damit sie sich entwickeln kann und im Film wird die Wichtigkeit von Nahrung per se hervorgehoben, denn ohne Essen kann ein Mensch sterben. Daraus entsteht schlussendlich das Gleiche, nämlich die Erhaltung der menschlichen Existenz durch Essen, auch wenn der „Kontext“, in dem dies geschieht, ein anderer ist. Die Filmheldin Alice hat ständig Hunger, doch Phillip macht sie immer darauf aufmerksam, dass er kein Geld hat. Es wird also genauso die Wichtigkeit von Geld thematisiert und das nicht nur im Zusammenhang mit Essen. Der Protagonist möchte noch am Anfang des Filmes sein Auto verkaufen, weil er kein Geld hat. Infolgedessen wird auf die materialistische Welt, in der die beiden Protagonisten des Filmes agieren, aufmerksam gemacht. Gegensätzlich dazu, ist Geld nicht von Bedeutung in der Erzählung. Mit

„Kontext“ wird also die innerfilmische Realität selbst gemeint und daher auch die Schauplätze bzw. Lokalitäten, in denen die Handlung des Filmes verortet wird.

Eine andere Ebene auf der das Erleben der Fremde, Auswirkungen hat, ist die Beziehung der Figuren und insbesondere des Protagonisten zum eigenen Ich. Bereits die von ihm weiter oben vorgelegte Annahme, dass „da was mit einem passiert“ verweist darauf.

Noch ein Beweis dazu ist die filmische Inszenierung durch die, der seelische Zustand des Hauptdarstellers versinnbildlicht wird. Schon am Anfang des Filmes, als er unter der Brücke sitzt –diese Szene erinnert annähernd an den Sturz ins Kaninchenloch-, erscheint er zerschlagen von seiner Schreibblockade. In der langen Nahaufnahme wird gezeigt, wie

48 er in Echtzeit ein Foto des Rettungsschwimmerturms vor ihm schießt und es skeptisch betrachtet. So lange er seinen Auftrag nicht erfüllen kann, muss er mit Selbstzweifeln kämpfen.

Phillip zieht anfangs noch alleine, wie auch Alice im Text, durch die Landschaften mit seinem Auto stumm herum. Er führt kein Gespräch von Bedeutung, sondern verlangt nur was er benötigt, von den Personen mit denen er in Kontakt tritt (z. B. Kaffee in einem Schnellimbiss, oder Benzin an einer Tankstelle). Er macht Aufnahmen von den Umgebungen, die ihn beeindrucken, hört Musik und murmelt vor sich hin. Diese Szenen enthalten nach Light „the banality of American highway culture“119. Diese ist monoton und gleich, denn die Landschaften, die er sieht, unterscheiden sich nicht voneinander.

Nur Waren und deren Konsum können dies noch übersteigen. Diese Elemente sind die Ursache für seine Frustration.120

Als er an der Gasstelle ein Foto schießt, wird er von einem schwarzen Jungen mit einem Fahrrad nach dem Grund des Fotografierens befragt. Er antwortet darauf, dass er „einfach so“ (AS: 6ʼ) Fotos schießt. Er kommentiert schließlich das geschossene Foto, als er weiterfährt folgend: „Da ist doch nie das drauf was man gesehen hat.“ (ebd.) Er zweifelt folglich an den Möglichkeiten des Mediums für objektive Wirklichkeitsdarstellung. Ein Foto ist „der Widerspruch von Abbild und innerem Bild, Abbild und Wirklichkeit, Momentaufnahme und bewegtem Bild“121 lautet die These, die aus dem Zitat des Protagonisten entsteht. Diese Annahme hebt einen totalen Widerspruch zum Funktionalaspekt, den die Bilder im Kaninchenloch in „AiW“ besitzen, hervor. Während im Text die erwünschten Bilder die Umgebung der Hauptfigur domestizieren und somit vertrauter gestalten, gelten sie im Film als wirklichkeitsverfremdend.

119 Light, 1997: 219

120 vgl. ebd.

121 Gellhaus/ Moser/ Schneider, 2007: 332

49 4.3. Der Identitätsverlust durch die Technologie (Fernsehen, Radio, Bild)

In einer anderen Szene beschreibt Phillip einer ihm bekannten Frau, explizit seine Gefühle und Eindrücke, die er auf seiner Fahrt durch die amerikanische Landschaft bzw.

Provinz gesammelt hat:

„Ich hab mich völlig verrannt. Das war eine grauenhafte Reise… Von dem Moment an, wo man aus New York rausfährt, verändert sich nichts mehr. Es sieht alles gleich aus. Dass man sich nichts mehr vorstellen kann, dass man sich auch vor allem auch keine Veränderung vorstellen kann. Ich bin mir selbst fremd geworden. Ich konnte mir nur noch vorstellen, dass es immer so weiter gehen sollte… Dafür war ich am Abend sicher, dass ich am andern Morgen zurückfahren würde… Und dann bin ich doch weitergefahren und hab diesem angeberischen Radio zugehört und am Abend im Motel, das genauso aussah wie das zuvor;

hab ich mir dieses unmenschliche Fernsehen angesehen. Mir ist Hören und Sehen vergangen.“ (AS: 23ʼf.)

Phillips Aussage ermöglicht dem Zuschauer einen tieferen Einblick in seine Psyche, er kann leichter nachvollziehen, was die Figur durchlebt. An diesem Punkt analysiert und kritisiert er das Erleben der Fremde und die Reise überhaupt. Es ist nicht von Idealisierung, sondern von Abscheu gegen die Landschaft die Rede, denn es ist letztendlich diese, die ihn teilweise zur Entfremdung vom eigenen Ich führt. Eine Reise kommt für den Reisenden zum Nutzen, nur wenn er sich dadurch entwickeln kann, dies ist an dieser Stelle nicht der Fall. Der Protagonist interpretiert sie als Ursache seines seelischen Problems. Light zitiert Kolker und Beicken, die der Meinung sind, dass sich die meisten von Wenders männlichen Figuren nicht bewusst sind, aus welchen Motiven sie jeweils entsprechend agieren. In diesem Fall fährt Phillip ziellos herum, doch in Wirklichkeit hat er etwas erkannt, die Banalität und Ähnlichkeit der amerikanischen Vorstädte.122

In seinen Sätzen kritisiert er ebenso die Massenmedien Fernsehen und Radio, weil diese, auch einen Anteil an seinem Zustand haben. Der zentrale Gesichtspunkt des Filmes

122 vgl. Light, 1997: 219

50 handelt einerseits, von dem gegensätzlichen Kontext bzw. die gegensätzlichen Lokalitäten, „Landschaft/ Natur, Klein- und Großstadt“123, in denen die filmische Hauptfigur im Gegensatz zu der Hauptfigur des literarischen Textes agiert. Andererseits geht es, um den negativen Einfluss einer gesamten Kultur und ihrer Technologie auf die Persönlichkeit des Protagonisten. Die „Erfahrungen [von Wenders Figuren] sind immer auch mediale, medial vermittelte.“124

Die Gesprächspartnerin von Phillip, die währenddessen still sitzt und ihm zuhört, hat dennoch eine gegensätzliche Meinung zu seiner Behauptung:

„Aber das ist dir doch lange vergangen. Dazu braucht man nicht, durch Amerika zu reisen!

Das Hören und Sehen vergeht einem, wenn man das Gefühl von sich selbst verloren hat. Und das hast du doch schon lange verloren. Und deshalb brauchst du immer wieder Beweise;

Beweise dafür, dass es dich wirklich noch gibt. Deine Geschichten und deine Erlebnisse, mit denen gehst du um, als ob sie rohe Eier wären. Als ob du der einzige wärst, der etwas erlebt und deshalb machst du auch dauernd diese Fotos. Da hast du dann, was in der Hand. Wieder ein Beweis dafür, dass du es warst, der was gesehen hat… Deshalb bist du ja auch hergekommen. Damit dir einer zuhört. Dir und deinen Geschichten, die du eigentlich nur dir selbst erzählst. Aber das reicht nicht. Nicht auf die Dauer mein lieber!“ (AS:24ʼ)

Obwohl die Frau in diesem Textauszug die aufgestellte These von der Ich-Entfremdung untermauert, macht sie nicht die Reise durch Amerika, somit den Einfluss einer anderen Kultur, für die Identitäts-Krise des Mannes verantwortlich. Sie nennt keine Ursache für den Zustand des Protagonisten und erinnert ihn daran, dass er sich schon länger selber entfremdet ist. Dazu kennzeichnet sie noch die Bilder, die Phillip schießt, als Dokumente, die seine eigene Existenz festigen. Es wird deutlich, dass auch die Bilder zum Teil sein Problem konstituieren. Die Frau bekennt sich zuletzt zu ihrer eigenen Funktion als bloße Empfängerin seiner Nachricht. In diesem beigesetzten Zitat kommt also die hauptsächliche Gemeinsamkeit zwischen Text und Film, die Thematik des Identitätsverlustes zum Vorschein. Phillip weiß genau so wenig wie Alice, wer er in

123 Gellhaus/ Moser/ Schneider, 2007: 327

124 ebd.: 326

51 Wirklichkeit ist und in der Adaption wird diese Unsicherheit durch seine Beziehung mit Technologie geschildert.

Im nächsten Augenblick bestätigt Phillip ihre Meinung:

„Das stimmt. Das Fotografieren hat etwas mit Beweisen zu tun… Während des Wartens darauf, dass sich das Bild entwickelt, hat mich oft eine seltsame Unruhe erfüllt. Ich hab ʼs kaum noch abwarten können das fertige Bild mit der Wirklichkeit zu vergleichen. Aber auch dieses Vergleichen hat meine Unruhe nie dämpfen können, weil diese stehenden Bilder immer wieder von der Wirklichkeit abweichen und überholt worden sind, hab ich nur noch besessener fotografiert.“ (AS: 25ʼ)

Die männliche Hauptfigur erklärt an diesem Punkt, wieso er überhaupt Aufnahmen macht. Er macht sie, damit er Beweise hat, doch diese Beweise sind gegensätzlich zur

„fließenden“ Wirklichkeit. Seine Fotos können nicht die Realität widerspiegeln, sondern dienen nur als Erinnerungsstützen. Es wird also explizit erläutert wieso Fotos wirklichkeitsverfremdend sind.

Light unterscheidet anhand der philosophischen Theorie von Borgmann zwischen

„dicken“125 (lt. Borgmann „things“) und „dünnen“ (lt. Borgmann „devices“) Räumen. Als dicken Raum empfindet er eine Umgebung, die aus Dingen (z. B. Holzkochofen) besteht.

Diese Dinge verhelfen soziale Beziehungen herzustellen. Es werden Fähigkeiten benötigt, um sie zu bedienen. Dadurch werden die eigene Identität und die Beziehung eines Individuums mit anderen „verdickt“. Im Gegensatz dazu wird als dünner Raum jedes Gerät ohne spezielle Bedeutung verstanden, dass einem nicht mit einem konkreten Ort oder mit anderen Individuen verbindet. Geräte implizieren den technologischen Status, sie benötigen keine Eigenschaften, um benutzt zu werden.126 Die mit Geräten volle (Fernsehen/ Radio) Umgebung des Protagonisten ist ein Indiz, dass ihm seine

125 Die Bezeichnungen „thick“ und „thin spaces“ tauchen erst auf S. 217 des Artikels auf, obwohl ihre Bedeutung ihnen längst auf S. 216 vorangekommen ist. Die Übersetzung beider Begriffe als dick und dünn, ist von dem Verfasser der Arbeit entstanden.

126 vgl. Light, 1997: 216

52 Identität abhanden gekommen ist. Sie ist ebenso verantwortlich, dass er nicht „thicker spatial relationships“ aufbauen kann.127

Eine weitere Gemeinsamkeit, die in Film und Text auftaucht und die These vom Identitätsverlust rechtfertigt, ist das Verhältnis beider Protagonisten zu ihrem äußeren Erscheinungsbild. Alice leidet im Text, wie schon gesagt, unter den ständigen Transformationen. Weil sie dadurch verwirrt ist, kann sie nicht immer mit Sicherheit bestätigen, wer sie ist und in manchen Fällen zweifelt sie sogar an ihrem Dasein als Kind.

In der Adaption hingegen agiert Phillip als Erwachsener aber wie schon weiter oben erwähnt wurde, hat er sich selbst verloren.

Die kleine Alice fotografiert ihn schließlich, „damit [er] wenigstens weiß, wie [er]

aussieh[…]t.“ (AS: 50ʼ). Als er sich im Anschluss darauf das Bild ansieht, sind in Detailaufnahme sein Gesicht und die verschwommene Gesichtsreflexion des Mädchens

aussieh[…]t.“ (AS: 50ʼ). Als er sich im Anschluss darauf das Bild ansieht, sind in Detailaufnahme sein Gesicht und die verschwommene Gesichtsreflexion des Mädchens