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Aristoteles Universität Thessaloniki. Philosophische Fakultät. Abteilung für Deutsche Sprache und Philologie

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Academic year: 2022

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Aristoteles Universität Thessaloniki Philosophische Fakultät

Abteilung für Deutsche Sprache und Philologie

Masterstudiengang: „Sprache und Kultur im Deutschsprachigen Raum“

Fachrichtung: Literatur- und Kulturwissenschaften

Magisterarbeit für das Postgraduiertenfach: Deutschsprachige Kinderliteratur

Die Identitätsthematik und die mediale Verwandlung von „Alice im Wunderland“ in den filmischen Adaptionen „Alice in den

Städten, Charmed: Halliwells im Wunderland und Pans Labyrinth“

eingereicht bei: Dr. Ioannis Pagkalos

vorgelegt von: Alexandros Psallidas (0028)

Sommersemester 2011

Thessaloniki, den 29.09.2011

(2)

Für meine Mutter und meinem Vater, die mich auf dem Weg durch das Studium

immer unterstützt haben.

Ich danke meiner Schwester Glorya-Maria und meiner Freundin Artemis

für die „unendlichen“ Stunden Korrektur-lesen!

Ich danke ebenfalls Marialena und Christos für die seelische Unterstützung während des Schreibprozesses.

(3)

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung 1

2. Alice im Wunderland 3

2.1. Wer ist Alice vor ihrer ersten Verwandlung? 3

2.2. Alices Identitätsverwirrungen 6

2.3. Die Kulmination der Identitätsverwirrung durch die Gesellschaft des

Wunderlandes 10

2.4. Die Milderung der Todesthematik durch Spiele und den Erzähler 14

2.5. Die Bedeutung des Wunderlandes 17

3.1. Theoretische Überlegungen zum Gegenstand Literaturverfilmung 20

3.1.1. Das Vorurteil gegen Literaturverfilmungen 20

3.1.2. Begriffsklärung 21

3.1.3. Parallelen mit dem Übersetzungsvorgang 24

3.1.4. Analogien zwischen Literatur und Film 27

3.1.5. Mögliche Verfahren für die Analyse von Literaturverfilmungen 31

3.1.6. Die Adaptionstypen 32

3.2. Intertextualitätsmodelle 33

3.2.1. Vom Chronotopos und der Dialogizität hin zum Intertextualitätsbegriff

Kristevas 33

3.2.2. Das Zitat 36

3.2.3. Transtextualität 38

3.2.4. Ordnung, Dauer und Frequenz 41

4. Alice in den Städten 43

4.1. Die transtextuelle Beziehung zwischen „Alice in Wunderland“ und

„Alice in den Städten.“ 43

4.2. Die problematische Funktion von Kommunikation 44 4.3. Der Identitätsverlust durch die Technologie (Fernsehen, Radio, Bild) 49 4.4. Die Bedeutung der Figur Alice für die Figur von Phillip 53

5. Charmed – Halliwells im Wunderland 57

5.1. Inhaltsinformationen 57

5.2. Die mediale Umwandlung von „Alice im Wunderland“ in der Episode 58

5.3. Die Identitätsthematik 64

6. Pans Labyrinth 68

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6.1. Motive von „Alice im Wunderland“ im Film 69

6.2. Die doppelte Identität Ofelias 72

7. Schlusswort 75

8. Literaturverzeichnis 76

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1 1. Einleitung

Im Rahmen des postgraduierten Seminars „Deutschsprachige Kinderliteratur“ wurde die von Lewis Carroll, 1865 veröffentliche, Erzählung „Alice im Wunderland“ ausgewählt, um Gegenstand einer vergleichenden Analyse zu werden. Der Text wurde mehrfach medial für Bücher, Theater, Komikhefte, sogar Videospiele, darunter auch fürs Kino, in verschiedenen Ländern umgesetzt. Die Analyse bezieht sich infolgedessen auf die Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen Text und einigen, seiner filmischen Adaptionen.

Die Abenteuer der Protagonistin, können sowohl wörtlich als auch allegorisch wahrgenommen werden. Durch das Verwandlungsmotiv und den Nonsense wird die Identitätsverwirrung von Alice thematisiert. Um das deutsche Element in der vorliegenden Arbeit beizubehalten, wird an erster Stelle der Film von Wim Wenders

„Alice in den Städten“ analysiert. Dem folgen eine Episode der erfolgreichen U.S.

amerikanischen Fantasy-Serie „Charmed“ und der spanische Film „Pans Labyrinth“ von Guillermo del Toro, die auch in Deutschland ausgestrahlt wurden. Hiermit grenzt die Arbeit an das literaturwissenschaftliche Feld Komparatistik an, da Filme mehrerer Nationalitäten (in Hinsicht zum Text) untersucht werden.

Bei den entsprechenden Adaptionen ist die Beziehung zum Text und der behandelten Thematik nicht immer eindeutig. Es auch nicht deutlich, ob die Filme überhaupt als Adaptionen bezeichnet werden können. Infolgedessen wird das Thema Literaturverfilmung bzw. Adaption näher erläutert. Es findet ein Versuch statt die beiden, miteinander verwandten Begriffe zu definieren, um die Vorurteile und Verwirrungen, ihnen gegenüber zu beseitigen.

Abgesehen davon existieren viele, unterschiedliche Arten und Methoden, mit denen Filme analysiert werden. Ein häufig bevorzugter Vorgang ist es, die literarische Vorlage und das Drehbuch der entsprechenden filmischen Adaption, zu vergleichen. Die Vorgehensweise ist also innertextlich. Doch Literaturverfilmungen auf diese Art zu

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2 untersuchen, ist weniger effektiv. Dadurch werden die medienspezifischen Kriterien, die ein transformiertes Werk erfüllen muss und unter denen es entsteht, außer Acht gelassen.

Eine auf Handlungsaufbau oder Personenkonstellation beschränkte Untersuchung ist ebenso unzulänglich. Was – insbesondere für diese Arbeit – benötigt wird, ist einerseits szenische Analyse, andererseits muss der Bezug zur Thematik des Textes verdeutlicht und beschrieben werden.

Dazu werden nicht nur Termini aus der Filmwissenschaft behilflich sein, sondern auch Methoden aus der Literaturwissenschaft, genauer genommen, die intertextuelle.

Intertextualität ist ein Oberbegriff, der einen großen theoretischen Hintergrund mit sich bringt. Es ist schwer, exakt zu definieren, was ein Intertext ist, aufgrund der vielen vorhandenen Auffassungen. Eine davon ist auch die Kristevas. In dieser Arbeit wird ebenfalls das Modell Genettes (Transtextualität), das auf dem Kristevas basiert, benutzt.

Darüber hinaus, wird die Entstehung der Wortschöpfung Intertextualität aus dem Begriff Bakhtins Dialogizität kurz erläutert.

Eine Theorie, die den Umgang mit Zitaten systematisiert, ist im Unterkapitel 3.2.2.

vorhanden. Zuletzt werden einige wichtige Begriffe Genettes zum Themenkomplex Natratologie, wenn auch exemplarisch, vorgestellt und erklärt. Sie sollen die Analyse der filmischen Adaptionen unterstützen, da die intertextuellen Bezüge den zentralen Gesichtspunkt der Arbeit darstellen.

Anhand dieses Instrumentariums wird untersucht, was für Arten von Adaptionen die Filme darstellen und inwiefern sie die Identitätsthematik szenisch und mittels Zitate in ihre Handlung einbetten.

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3 2. Alice im Wunderland

2.1 Wer ist Alice vor ihrer ersten Verwandlung?

Bevor die eigentliche Thematik der Arbeit – Manifestationen von Identitätsverlust – untersucht wird, müssen die verschiedenen Aspekte, aus denen die Identität der Heldin besteht, beschrieben und analysiert werden. Auf diese Weise kann im Nachhinein ein klares Bild, der Identitätsveränderung der Protagonistin entstehen. Anschließend kann auch die im Zusammenhang stehende Frage beantwortet werden, ob sie das Wunderland wieder als identische Person verlässt.

Alice beklagt sich in Gedanken, dass in dem Buch ihrer Schwester keine Bilder enthalten sind und kommt zu der Schlussfolgerung: „was für einen Zweck haben schließlich Bücher, […] in denen überhaupt keine Bilder und Unterhaltungen vorkommen?“1 Bereits diese erste Aussage verweist auf die Unschuld und Naivität eines kleinen Kindes. Auch die Bemerkung des Erzählers, „[i]m nu war Alice [dem Kaninchen] nachgesaust, ohne auch nur von fern daran zu denken, wie in aller Welt sie wohl wieder herauskäme“ (AiW:

10) unterstützt diese These.

Ebenso wird der typische Bewegungsdrang eines Mädchens ihres Alters beschrieben:

„Alice war es allmählich leid, neben ihrer Schwester am Bachufer still zu sitzen und nichts zu tun;“ (AiW: 9) Dieser Drang fördert das Mädchen aufzustehen und dem Kaninchen zu folgen als es bemerkt, dass es sprechen kann. Alice wird also am Anfang des Textes überwiegend als ein kleines, neugieriges Kind, das aus Naivität und Spontaneität handelt, beschrieben.

Im Verlauf der Handlung begegnet sie unterschiedlichen Kreaturen, mit denen sie spielt,

1Carroll, Lewis (2007): Alice im Wunderland. Übersetzt und mit einem Nachwort von Christian Enzensberger. Mit Illustrationen von Lisbeth Zwerger. Zürich: Kein & Aber, S. 9 Im Folgenden werden die Zitate aus der Primärliteratur unter der Sigle AiW erkanntund kommen im Text vor.

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4 tanzt, Rätsel löst, oder von denen sie aufgefordert wird ein Gedicht zu rezitieren. Neben dem kindlichen Agieren, erfüllt sie auch andere (soziale) Rollen: Sie ist eine typische Schülerin ihres Alters. Diese Annahme wird durch den Inhalt ihres (inneren) Monologs bestätigt, den sie während des Sturzes führt:

„Hinab, hinab hinab. Wollte das denn nie ein Ende nehmen? »Wie viele Meilen ich schon wohl gefallen bin?«, sagte sie laut. »Weit kann es nichtmehr sein bis zum Erdmittelpunkt.

Das wären dann, ja: sechstausend Kilometer wären das, ungefähr wenigstens – « (denn, wohlgemerkt, Alice hatte mancherlei Dinge dieser Art in der Schule lernen müssen…)“

(AiW: 11f.)

In diesem Zitat handelt es sich um geographische Angaben, an die sie sich zu erinnern versucht. Das weiter oben benutzte Adjektiv „typisch“ bezieht sich nicht auf ihre Schulkenntnisse, sondern auf ihren Umgang mit diesem Wissen. Denn sie möchte mit ihren erworbenen Kenntnissen beeindrucken auch wenn niemand anderes dabei ist. Diese Annahme bestätigen ebenso folgende Kommentare des Erzählers: „(Was ein Längen- und ein Breitegrad war, davon hatte Alice keine Ahnung, aber zum Hersagen waren es schön lange und gelehrte Wörter.)“ (AiW: 12) Infolgedessen kann der Schluss gezogen werden, dass ihre Rolle als Schülerin und ihr Dasein als Kind eng miteinander verbunden sind.

Zervou bezeichnet sie als ein Mädchen das allen Stereotypen der Zeit entspricht. Sie ist eine gute Schülerin, die Gedichte rezitiert, viele Kenntnisse besitzt und gute Manieren hat.2

Als sie ihre Gedanken weiter ausarbeitet, sagt sie: „ – aber ich werde mich erkundigen müssen, in welchem Land ich bin, darum komme ich nicht herum. ›Bitte, liebe Dame, können Sie mir sagen, ob hier Neuseeland oder Australien ist? ‹ (Und bei diesen Worten versuchte sie einen Knicks zu machen)“ (ebd.) Mit diesen Worten bekennt sie sich erneut zur Rolle der Schülerin. Das Schüler – Dasein von Alice wird während der ganzen

2 vgl. Zervou, Alexandra, (Ζεπβού, Αλεξάνδπα) (1996): Λογοκπιζία και ανηιζηάζειρ ζηα κείμενα ηων παιδικών μαρ σπόνων. Ο Ροβινζώναρ, η Αλίκη και ηο Παπαμύθι σωπίρ όνομα. Ανάγνωζη από μία ενήλικη.

Αθήνα: Οδςζζέαρ, S. 69

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5 Erzählung betont. Abgesehen davon offenbart diese Passage noch einen anderen Teil von Alices Persönlichkeit: die Höflichkeit.

Ein weiteres Beispiel für diese Eigenart von Alice, wird bei der Begegnung der Heldin mit einer Maus dargestellt. Noch bevor sie sich um eine Anrede bemüht, ist sie sich bewusst, dass das Wunderland seine eigenen Regeln hat und dass unter diesen Umständen eine Maus –wie bereits das Kaninchen– sprechen könnte. So wendet sich die Protagonistin selbstsicher an ihren Gesprächspartner:

„»O Maus, weißt du, wie man aus diesem Teich herauskommt? Denn ich bin es leid hier herumzuschwimmen, o Maus!« (Alice hielt es für das Schickliste, eine Maus so anzureden.

Sie hatte zwar noch nie die Gelegenheit dazu gehabt, erinnerte sich aber an die lateinische Grammatik ihres Bruders, in der zu lesen war: »Eine Maus – einer Maus – einer Maus – eine Maus – o Maus!«)“ (AiW: 24)

Sie versucht der Maus gegenüber freundlich zu sein, indem sie sich an grammatische Regeln erinnert und hält. In diesem Fall handelt es sich um die Deklination des Nomens.

Dʼ Ambrosio sieht in der Herangehensweise des Kindes die Einsicht, dass in der Erwachsenenwelt Regeln von Bedeutung sind.3 Folglich wird erneut auf der einen Seite das naive, kindliche Denken thematisiert und die Wichtigkeit sich an Regeln zu halten, ob es sich dabei um soziale Normen, oder Grammatik handelt. Auf der anderen Seite, besitzen viele Wesen des Wunderlandes menschliche Eigenschaften. Deshalb ist es natürlich mit ihnen, wie mit Erwachsenen zu reden.

Alice ist obendrein schlau und gehorsam, wie ihr Umgang mit dem Fläschchen beweist.

„»Trink mich«, das war ja leicht gesagt, aber das wollte sich die kluge kleine Alice dann doch lieber zweimal überlegen. »Nein, vorher will ich doch nachsehen«, sagte sie, »ob nicht irgendwo ›Vorsicht! Gift!‹ daraufsteht«;“ (AiW: 14f.) An dieser Stelle ergibt sich vorerst, ein gegensätzliches Bild der Protagonistin. Alice trinkt nicht einfach das

3 vgl. Dʼ Ambrosio, A. Michael (1970): “Alice for Adolescents”. In: The English Journal, Vol. 59, No. 8, 11/ 1970, S. 1074

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6 Fläschchen aus, sondern macht sich Gedanken über vermeintliche Konsequenzen, da das Fläschchen Gift enthalten könnte. Als sie sich durch das Lesen des Etiketts vergewissert, dass dies nicht zutrifft, kostet sie die Flüssigkeit und verlockt durch den guten Geschmack, trinkt sie letztendlich das Fläschen aus. Doch diese Aktion ist fast fatal für Alice, denn sie beginnt zu schrumpfen. Damit soll geschildert werden, dass ihr anfangs kluges Handeln im Nachhinein aufgrund ihrer Spontaneität doch naiv ist. Sie könnte abwarten und nicht das ganze Fläschchen leertrinken.

An diesem Punkt ist das Gesamtbild der Hauptfigur vor der ersten Verwandlung vollständig, denn die letzten und weiter oben analysierten Charaktereigenschaften verfremden sich während des Identitätsverlustes, den sie erlebt.

2.2. Alices Identitätsverwirrungen

Wie bis jetzt aufgezeigt wurde, hat sich die Identität der Protagonistin aus dem Schüler- und Kind- Dasein zusammen gesetzt. Während ihrer Reise und der daraus resultierenden Situationen verändern sich diese Charakteristika von Alice. Die Veränderungen ihres Körpers, der Sprache und ihrer Persönlichkeit beeinflussen sich gegenseitig. Jede Verwandlung hat einen Nebeneffekt auf sie und dadurch auch, auf die diversen Begegnungen während ihrer Reise. Die Höflichkeit verwandelt sich in Aggression, das Wissen in Unsinn (Nonsense)4, die kindliche Naivität bzw. Unschuld in Schadenfreude und die Freude in Todesangst. Das Kind- und Schuldasein wird gefährdet und infolgedessen ihre Identität von Annihilation bedroht. Diese These wird bereits durch die erste Verwandlung von Alice, nachdem sie das Fläschchen leertrinkt, untermauert.

4 Eine sofortige Assoziation zum Wort Nonsense ist das Wort Absurdität. Doch beide Termini sind nicht miteinander gleichzusetzen, da im Nonsense eine interne Struktur vorhanden ist. Es existieren konkreter,

„consiously regulated pattern.“ Flescher, Jaqueline (1969): “The language of Nonsense in Alice”. In: Yale French Studies, The Childʼs Part, No. 43, 1969, S. 128 Diese können sich im Rythmus des Textes, oder in der „order“ eines solchen Verfahrens befinden. Die Ordnung ist es letztendlich „which distinguishes nonsense from the absurd.“ (ebd. 129)

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7

„»Was für ein ulkiges Gefühl!«, sagte Alice. »Anscheinend schiebe ich mich jetzt zusammen wie ein Fernrohr.« Und so war es in der Tat: Sie war höchstens eine Spanne groß, und ihre Miene hellte sich auf, als ihr einfiel, dass sie jetzt durch die kleine Tür passte, um in den herrlichen Garten zu gelangen. Vorher wartete sie noch eine Weile ab, ob sie nicht noch weiter am Schrumpfen war; dieser Gedanke beunruhigte sie etwas, »denn es könnte ja passieren«, sagte sich Alice, »dass ich am Ende völlig ausgehe wie eine Kerze. Wie ich dann wohl aussehe?«“ (AiW: 15)

In diesem Zitat geht der Wunsch der Protagonistin zu Schrumpfen in Erfüllung, sodass sie durch die winzige Tür passt. Ihre exakten Worte „sich wie ein Fernrohr zusammen zu schieben“ bezeichnen einen transgressiven Zustand. Dadurch expandiert sich ihre Erfahrungswelt und sie kann neue Erkenntnisse gewinnen. Die erstrebte Verwandlung bereitet ihr Freude, davon abgesehen, wird in diesem Textauszug auch ihre Angst thematisiert. Sie erkennt, dass keine Regeln für den Schrumpfprozess existieren. Dieser kann fortsetzen, bis sie „völlig wie eine Kerze ausgeht“, bis ihre Existenz schwindet. Es verbleibt die Angst vor dem vermeintlichen Tod und die damit zusammenstehende körperliche Destruktion. Diese Angst ist nach Rother wahr und sie wird nie bei Seite gelegt, sondern kommt als Motiv immer wieder in der Erzählung vor.

Es muss betont werden, dass Alice sich nicht nur der Gefahr des Todes bewusst wird, sondern sie erlebt diese Gefahr. Diese sorgt für Verwirrung, bis schließlich der totale Identitätsverlust folgt und manifestiert sich in diesem Beispiel durch das Schrumpfen.

Der bevorstehende körperliche Tod korrespondiert zu der geistigen Annihilation bzw.

Annihilation der Identität. Die Ich – Entfremdung der Protagonistin belegt folgende Beschreibung des Erzählers: „ihre Stimme, klang heiser und fremd, und die Worte kamen nicht so heraus wie sonst.“ (AiW: 21) Im weiteren Handlungsverlauf droht Alice erneut zu verschwinden bzw. zu sterben, als sie z. B. im Tränenteich – von ihren eigenen Tränen erschaffen – ums Überleben kämpft.

Im Tränenteich trifft die Protagonistin auf die Maus, wie bereits oben erwähnt wurde. Es wurde konkreter behauptet, dass der erste Versuch von Alice mit ihr in Kontakt zu treten, sehr höflich war. Als die Maus auf ihre Versuche nicht eingeht, versucht Alice es mit

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8 Französisch: „Ou est ma chatte?“ (AiW: 24) Diese zweite Annäherung verängstigt die Maus, weil „chatte“ Katze bedeutet. Um die Situation zu retten, spricht Alice dann von einem Hund, der ebenfalls Mäuse jagt und tötet. Hinter der Naivität befindet sich Schadenfreude, denn all ihre Gesprächsversuche führen zu „aggression and death. Even Alice ʼs good intentions reveal her dark instincts [.]“5

Ihre erste, richtige Identitätskrise, wird in folgender Passage deutlich:

„»Ob ich am Ende heute Nacht ausgewechselt worden bin? Also wie steht es damit – war ich heute Morgen beim Aufstehen noch dieselbe? Mir ist es doch fast, als wäre ich mir da ein wenig anders vorgekommen. Aber wenn ich nicht mehr dieselbe bin, muss ich mich doch fragen: Wer in aller Welt bin ich? Ja das ist das große Rätsel!« Und darauf ging sie in Gedanken alle Kinder in ihrem Alter durch, die sie kannte, um sich zu überlegen, ob sie wohl zu einem von ihnen geworden sein könnte.“ (AiW: 20)

Das Nonsense Element kommt erneut zum Vorschein. Die Heldin fragt sich, ob sie nicht tatsächlich mit einer anderen Person „ausgewechselt worden ist.“ Alice versucht sich deshalb Sicherheit über ihr Dasein, ihre Identität zu verschaffen, indem sie sich über Teilaspekte dieser vergewissert. Folglich kann sie nicht Ada sein, aufgrund ihres Aussehens „denn ihr Haar hat solche längliche Kringel, und Kringel hat [das von Alice]

überhaupt keine;“ (ebd.). Sie kann ebenso wenig Mabel sein aufgrund ihres Wissens,

„denn [sie] weiß alles Mögliche, und [Mabel], die weiß doch nun wirklich nur so wenig!“

(ebd.) Dabei knüpft sie an genau diese Teile ihrer Identität an, die im vorherigen Kapitel beschrieben wurden. Zusätzlich wird durch diese Aufzählung von Eigenschaften noch die Wichtigkeit der äußeren Erscheinung betont. Die Selbstbetrachtung der Zentralfigur unterstützt die These, dass auch die körperlichen Veränderungen die Problematik des Identitätsverlustes konstituieren.

Es ist wichtig, was Alice begreift. Doch von größerer Wichtigkeit ist wie sie das tut. Der Monolog gibt ihr die Möglichkeit zu verstehen, was mit ihr geschieht. Sie kann so das

5 Kincaid, R. James (1973): “Aliceʼs Invasion of Wonderland”. In: PMLA, Vol. 88, No. 1, 1/1973, S. 97

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9 Geschehene verarbeiten und teilweise tolerieren. Dʼ Ambrosio behauptet, dass der Protagonistin an dieser Stelle die eigene Personalität und die Abgrenzung von anderen Individuen bewusst wird. So lautet es schließlich im Text: „Außerdem ist sie doch sie, und ich bin ich“ (AiW.: 20). Zudem beschreibt Dʼ Ambrosio den Kontext, in dem Alice agiert. Sie versucht die Welt der Erwachsenen aus kindlicher Sicht zu begreifen und ihr gerecht zu werden. Dabei wird sie jedoch von dieser komplizierten Welt voller unsinniger Regeln verwirrt.6

Das Ringen der Protagonistin nach Festigung der eigenen Identität wird fortgesetzt.

„Ich will einmal sehen, ob ich noch alles weiß wie früher. Also: Vier mal fünf ist zwölf, und vier mal sechs ist dreizehn, und vier mal sieben ist – aber nein, auf diese Weise komme ich nie bis zwanzig! Aber das Einmaleins zählt ja weiter nicht. Dann eher die Geographie.

London ist die Hauptstadt von Paris, und Paris ist die Hauptstadt von Rom, und Rom – nein, das ist bestimmt alles falsch! Da bin ich bestimmt mit Mabel vertauscht worden!“ (ebd.: 20f.)

Alice nimmt wahr, dass ihre Äußerungen falsch bzw. verfremdet sind. Die Sprache selbst wird zum „Sprachrohr“ für den Identitätsverlust. Sie kann nicht einmal einfache Multiplikationsaufgaben meistern und verwechselt Hauptstädte miteinander. Bei der Rezitation des Gedichtes ›Wie emsig doch das Bienelein‹ geschieht das gleiche. Die Substitution des Wortes Bienelein durch Krokodil verrät die Verwirrung der Protagonistin. Ihr auf den ersten Blick unschuldiges Versprechen, verleiht dem Gedicht eine gefährliche Nuance. Da sie verwirrt ist, kann sie sich nicht auf ihre Rolle als Schülerin verlassen, um ihre Identität zu überprüfen.

Alice wird aufs Neue mit dem Tod konfrontiert, als sie noch ein Mal, im Haus des Kaninchens wächst. „Sie hatte noch kaum die Flasche halb geleert, als sich ihr Kopf auch schon gegen die Decke presste und sie sich bücken musste, um sich nicht das Genick zu brechen.“ (AiW: 37) Als sie sich es endlich, den gegebenen Umständen, bequem machen kann, äußert sie ihre Todesangst: „Mehr [wachsen] geht nun nicht mehr, was auch

6 vgl. Ambrosio, 1970: 1074

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10 geschehen mag. Was soll nun aus mir werden?“ (AiW: 37) Während Alice noch im Haus gefangen ist, befindet sie sich wieder in Todesgefahr. Erstens, weil das Kaninchen das Haus einäschern will und zweitens, weil sie durch das Fenster mit Kieselsteinen beworfen wird. Beide Situationen lösen Aggressionen in ihr aus und sie droht mit Repressalien. In dieser Textstelle manifestieren sich Tod und Ich-Destruktion durch das beschriebene Geschehnis.7

Zudem kann in dieser Passage noch etwas anderes entdeckt werden, der Umgang der Heldin mit Veränderung im Allgemeinen und im Besonderen, mit der Veränderung ihres Körpers. Es geht folglich um die Erfahrung der Alterität und ihre Akzeptanz bzw.

Toleranz.

2.3 Die Kulmination der Identitätsverwirrung durch die Gesellschaft des Wunderlandes

Eine besondere Fundstelle zur diskutierten Thematik und von Gewichtigkeit für das Werk allgemein, ist das fünfte Kapitel von „Alice im Wunderland“. Die Begegnung von Alice mit der Raupe und das daraus resultierende Gespräch, ist das Beispiel per excellence für den Identitätsverlust. In diesem Kapitel „the idea of change […] becomes a dominant theme – physical as well as political and social change.“8:

„»Wer bist du?«, sagte sie.

Als Anfang für eine Unterhaltung war das nicht ermutigend. Alice erwiderte recht zaghaft:

»Ich – ich weiß es selbst kaum, nach alldem – das heißt, wer ich war, heute früh beim Aufstehen, das weiß ich schon, aber ich muss seither wohl mehrere Male vertauscht worden sein.«

»Wie meinst du das?«, fragte die Raupe streng. »Erkläre dich!«

»Ich fürchte, ich kann mich nicht erklären«, sagte Alice, »denn ich bin gar nicht ich, sehen Sie.«

7 vgl. Rother, 1984: 90f.

8 Dʼ Ambrosio, 1970: 1074f.

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»Ich sehe es nicht«, sagte die Raupe.

»Leider kann ich es nicht besser ausdrücken«, antwortete Alice sehr höflich, »denn erstens begreife ich es selbst nicht, und außerdem ist es sehr verwirrend, an einem Tag so viele verschiedene Größen zu haben.«

»Gar nicht«, sagte die Raupe.

»Nun, vielleicht haben Sie diese Erfahrung noch nicht gemacht«, sagte Alice.

»Aber wenn Sie sich einmal verpuppen – und das tun Sie ja eines Tages, wie Sie wissen – und danach zu einem Schmetterling werden, das wird doch gewiss auch für Sie etwas sonderbar sein, oder nicht?«

»Keineswegs«, sagte die Raupe

»Nun, vielleicht empfinden Sie da anders«, sagte Alice. »Ich weiß nur: Für mich wäre das sehr sonderbar.«“ (AiW: 45f.)

Mittels dieses Dialogs wird der zentrale Gesichtspunkt der Erzählung hervorgehoben. Die Protagonistin äußert sich, über das Ausmaß ihrer Verwandlungen. Sie weiß nicht wer sie ist und kann sich mit ihren körperlichen Veränderungen nicht abfinden. Sie versucht der Raupe ihre Lage zu vermitteln, daraufhin wird sie offensiv. Die Ironie des Dialoges baut sich durch die Abwechslung wörtlicher und metaphorischer Verwendung der Wörter auf.

Durch diesen Vorgang wird im Dialog der Sprachgebrauch selbst zum Thema. Im Allgemeinen kann Sprache durch die Übereinstimmung oder Abweichung von Bezeichnenden und Bezeichnetem bzw. Laut und Begriff betont werden.9 Anhand eines derartig gestörten Wortverhältnisses manifestiert sich der Identitätsverlust; er hängt nicht nur vom Inhalt der Äußerung ab, sondern auch vom Aufbau der Wortreihe in der Äußerung. Infolgedessen kommt die Instrumentalisierung der Sprache erneut zum Vorschein. Zervou stimmt dieser These zu, dass sich die Verfremdung in der Sprache wiederspiegelt und durch ihr zum Vorschein kommt.10

Bedeutend ist, dass Alice dem Symbol der Verwandlung gegenüber steht. Sie ist sich bewusst, dass eine Raupe das Frühstadium eines Schmetterlings ist. Ein Schmetterling steht für „rebirth and resurrection, for the triumph of the spirit and the soul over the

9 vgl. Flescher, 1969: 134

10 vgl. Zervou, 1996: 84

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12 physical prison, the material world.“11 Die Protagonistin betrachtet ihre Transformation als etwas Besonderes. Im Gegensatz dazu ist es für die Raupe sehr normal sich zu (ver)ändern. Demzufolge toleriert und akzeptiert die Hauptfigur nicht ihre momentane

„Identität“.

Der geführte Dialog ist repräsentativ für die meisten Dialoge, die Alice führt. Bei den Begegnungen, herrscht verstörte Kommunikation und ihre Gesprächspartner verspotten sie. Friese charakterisiert die Bewohner des Wunderlandes mit dem Schlagwort

„unberechenbar“. Sie führen sinnlose Gespräche, in denen die Argumentation unlogisch ist. Sie unterscheiden nicht zwischen metaphorischen und wörtlichen Sinn des Gesagten.

Dazu noch, geraten sie oft in Rage und fühlen sich von der Hauptakteurin angegriffen, soweit diese irgendwelche gegensätzliche Meinung äußert. Sie stellen ihr, unlösbare Rätsel und sind letztendlich keine Wegweiser.12

Die Raupe fragt im Nachhinein Alice, ob sie tatsächlich daran glaubt jemand anderes geworden zu sein und erkundigt sich somit nach der Identität ihrer Gesprächspartnerin.

Das Mädchen erklärt darauf, dass „[ihr] manches jetzt nicht mehr […] wie früher [einfällt] – und es vergeht keine Viertelstunde, ohne dass [sie] nicht größer oder kleiner w[i]rd[…].“(AiW: 47) Die Hauptakteurin bezeugt damit erneut die weiter oben aufgestellte These, dass sich die Identitätsverwirrung durch veränderte Teile ihrer Persönlichkeit und ihres Aussehens manifestiert. Der Gedächtnisverlust, ihre intakte Rolle als Schülerin und der Größenwechsel konstituieren letztendlich die Identitätsproblematik.

In einer weiteren, falschen Rezitation manifestiert sich von neuem die Erfahrung des Anders – Seins. Das Aufsagen des Gedichtes „Ihr seid alt Vater Franz“ reflektiert ihren Zustand, ihre Verwirrung, da ihre Version nicht das Original ist. Nicht nur sie selbst,

11http://www.umich.edu/~umfandsf/symbolismproject/symbolism.html/B/butterfly.html besucht am 30/08/2010

12 vgl. Friese, Inka (1995): 109 In: Hurrelmann, Bettina (1995): Klassiker der Kinder- und Jugendliteratur.

Frankfurt am Main: Fischer

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13 sondern auch die Raupe begreift, dass ihre Kenntnisse falsch sind und durch diese Bestätigung, wird die Protagonistin noch mehr verunsichert. Das gleiche geschieht auch mit ihrem Weltwissen. Als Alice behauptet, dass Katzen nicht grinsen können, verspottet sie die Herzogin: „Können tun es alle […] und die meisten machen es auch. Viel weißt du nicht, […] das steht fest.“ (AiW: 58) Es wird deutlich, dass neben den Verwandlungen, die Gesellschaft des Wunderlandes für die Identitätskrisen der Protagonistin verantwortlich ist. Die Gesellschaft grenzt Alice ein und entscheidet inwiefern sie sich geistig entwickeln kann.

Die multiplen Transformationen verhindern die Bildung einer neuen Identität und die Bewahrung der vorhandenen. Aber meines Erachtens sind sie notwendiger Bestandteil der Reise. Die Figur wächst und schrumpft, damit sie überhaupt vorankommt bzw. den Garten der Königin erreicht. Alice hat keine andere Wahl, als sich den Bedingungen des Wunderlandes anzupassen und das bedeutet, sich zu (ver)ändern bzw. zu entwickeln.

Eine andere Interpretation besagt, dass Alice die Verwandlungen bewusst kontrolliert.

Als sie der Raupe begegnet, hat sie noch eine Größe von „drei Zoll“ (AiW: 50). Sie wünscht sich zu wachsen und als sie sich im Nachhinein erneut verwandelt, bezeichnet sie eine Taube als Schlange. Darauf erwidert sie, dass sie noch ein kleines Mädchen sei, eine paradoxe Behauptung, da sie physikalisch und optisch eher einem Giganten ähnelt.

Der Leser ist sich des momentanen hybriden Zustandes bewusst.13 In der Auseinandersetzung von Mensch und Vogel befindet sich Ironie, denn der Erzähler hat Alice längst mit einer Schlange verglichen: „ihr Hals [ließ sich] ganz leicht nach allen Seiten krümmen wie [bei] eine[r] Schlange.“ (AiW: 51) Dieser Vergleich degradiert die Protagonistin und ihre Behauptung, dass sie ein kleines Mädchen sei. Es wurde betont, dass sich die meisten Wesen im Wunderland unhöflich benehmen und in der Tat, greift die Taube, Alice körperlich und wörtlich an. Als wiederum die Protagonistin sagt, „[sie wisse] ganz genau, wie ein Ei schmeckt“, (AiW: 53) richtet sich ihre unbewusste Aggression auf die Taube. Erneut dominiert Tod und Gewalt in den Äußerungen der

13 vgl. http://www.essays.cc/free_essays/c2/tda32.shtml besucht am 24/ 4/ 2010

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14 Hauptakteurin. Die Welt von Alice wirkt auch grauenhaft, durch „its serene acceptance of predation and murder“14 und nicht nur das Wunderland.

Im weiteren Handlungsverlauf der Erzählung stößt Alice auf den Hutmacher, den Schnapphasen und die Haselmaus. Die drei Figuren „symbolize a dedication to pure joy as well as an ability to defend comic life.“15 Die Protagonistin wird von den drei Wunderlandbewohnern aufgrund ihrer Besonnenheit, ihrem linearen Denken und mit ihrem Ringen nach „logic and order“16 als Eindringling wahrgenommen. Ihre Forderungen nach Logik zerstören deren Nonsense. Alice sagt: „Ich finde, ihr könntet etwas Besseres mit eurer Zeit tun, als sie auf Rätsel ohne Lösung zu verschwenden.“

(AiW: 68) Darauf erwidert der Hutmacher: „Du hast aber unklare Vorstellungen von Zeit! […] Wenn du damit so gut bekannt wärst wie ich, würdest du nicht davon reden, dass man sie verschwendet. Es ist nämlich ein Er.“

Bis an diesem Punkt ist die Protagonistin nicht nur ein unschuldiges Kind, sondern simultan ein korrumpierterer Erwachsener. Sie wird von den Kreaturen beleidigt, doch sie beleidigt sie ebenso. Hinter ihren naiven Äußerungen befindet sich Aggression. Diese Dualität lässt den Leser keine feste Meinung bilden, da ihre Absichten nicht immer klar zu unterscheiden sind. Alice befindet sich folglich in einem Übergangszustand.17 Die Koexistenz vom kindlichen und erwachsenen Dasein ist auch ein Aspekt, der für den Verlust ihrer Identität verantwortlich ist.

2.4. Die Milderung der Todesthematik durch Spiele und den Erzähler.

Während ihrer Reise im Wunderland wird Alice auch mit Spielen und Spielsachen

„konfrontiert“. Das Verb „konfrontieren“ wird benutzt, weil Alice nicht nur aufgefordert

14 Kincaid, 1973: 93

15 ebd.: 97

16 ebd.

17 vgl. ebd.: 93

(19)

15 wird etwas zu spielen, sondern weil sie in den Spielen mit lebendigen Spielsachen umgeht.18 „Aber die sind doch nur ein Kartenspiel, da brauche ich keine Angst zu haben.“ (AiW: 78) sagt sie. Obendrein werden beim Croquetspiel lebende Tiere benutzt:

„Die Kugeln waren Igel, die sich zusammengerollt hatten, die Schläger waren Flamingos, und die Soldaten mussten sich in der Mitte umbiegen und auf Händen und Füßen stehend, als Tore fungieren.“ (AiW: 81) Der Gebrauch solches Spielzeuges, soll die Protagonistin von der bestehenden Todesgefahr und Destruktion der Persönlichkeit ablenken.

Menschen streben beim Spielen nach der äußeren Realität und wollen sie manipulieren.

Mithilfe von Spielen wird man einerseits mit realitätsähnlichen Fällen konfrontiert, in denen man entweder gefährdet wäre, oder man dadurch sogar vernichtet werden könnte.

Andererseits werden durch Spiele Ängste, Konflikte, aggressive Gefühle und die Gefühle der Spieler überhaupt externalisiert. Bevorstehende Gefahren sind stets die Gleichen wie im normalen Leben, doch die vorherrschenden Bedingungen sind fiktiv. Carroll benutzt Spiele wegen des Escapismus-Effektes. Unabhängig von dieser allgemeinen Funktion von Spielen steht das Kartenspiel in der Erzählung für „ social power and the social order.“19 Um Karten spielen zu können, muss ein Spieler Talent haben, die Regeln des Spiels kennen und gute Chancen müssen vorhanden sein. 20

Obwohl die Ängste und Gefahren für die Protagonistin permanent in der Erzählung präsent sind, haben sie keine tödlichen Auswirkungen, da sie kontrolliert werden.21 Die einzige Lösung, mit der Angst der Annihilation umzugehen, ist zu spielen. Dadurch wird sie schließlich besiegt. Die Instanz des Erzählers ist dazu auch von großer Bedeutung, denn sein spielerischer Ton gibt zu verstehen, dass auch das Ängstlich-Sein, amüsant sein

18 An diesem Punkt muss die intertextuelle Beziehung zwischen „AiW“ und einem Text von E.T.A.

Hoffmann im Vordergrund gestellt werden. Im Kunstmärchen „Nussknacker und Mausekönig“ handelt es sich um den Nussknacker, den die Protagonistin als Geschenk bekommt und der nachts zum Leben erwacht. Folglich existiert in beiden Werken das Motiv der lebendigen Spielsachen. Außerdem wurde Hoffmann mit diesem Text als Initiator der fantastischen Literatur charakterisiert. Seine Errungenschaften in Hinsicht zu diesem Bereich hat Lewis Carroll mit dem hier behandelten Text erreicht. Zuletzt muss das vermischte Traum- und Wirklichkeitsverhältnis erwähnt werden, das beide Texte mit einander teilen. vgl.

Schikorsky, Isa (2003): Schnellkurs Kinder- und Jugendliteratur, Köln: DuMont 53f.

19 Rother, 1984: 90

20 vgl. ebd.

21 ebd.: 92

(20)

16 kann.22

Genau so funktioniert die Szenerie während des Sturzes der Protagonistin im Kaninchenloch. Als Alice fällt, „folgt“ der Dunkelheit ein Schacht, dessen Seitenwände

„aus lauter Bücherregalen und Wandschräken best[eh]en; hie und da s[ie]h[t] sie auch Landkarten und Bilder an Haken hängen.“ (AiW: 11). Sie befindet sich plötzlich in einer vertrauten Umgebung, „umzingelt“ von Bildern. Rother erklärt, dass „[the] domestication of the setting takes away the fear [of falling down].“23 Das gleiche Prinzip ist für die Szene im Tränenteich von Gültigkeit. Alice schwimmt zusammen mit diversen sprechenden Tieren, mit denen sie spielt und Rätsel löst. Obwohl sie in all diesen Fällen in Todesgefahr schwebt, ist diese Angst geschwächt, da sie durch die Spiele abgelenkt wird.24

Die Zentralität des Todes wird vom Leser nicht direkt beachtet, da sie durch Witz eingeführt wird. Alice fällt am Anfang der Erzählung und ihr geschieht nichts. Danach droht sie wie eine Kerze auszugehen und sie kommt erneut davon. Sie ertrinkt beinahe in ihren eigenen Tränen. Es geschieht noch mehr während der Reise, doch obwohl sie ständig gefährdet und ängstlich ist, stirbt sie letzten Endes nicht. Diese Kenntnis, eine Art Unverwundbarkeit, gibt der Protagonistin ein Gefühl von Sicherheit. Diese Sicherheit wird im Text schon gleich nach ihrem Fall deutlich, denn „nach einem solchen Sturz macht es [ihr] bestimmt nichts mehr aus, wenn [sie] einmal die Treppe hinunterf[ä]ll[t].

Da werden sie [sie] zu Haus aber für tapfer halten! Sogar nach einem Sturz vom Dach würde [sie] jetzt nicht einmal mehr Mucks sagen“ (ebd.) Dieser Textauszug ruft das Lachen beim Leser hervor, aufgrund des „principle of economy“25. Dadurch wird seine Angst um Alice beiseitegelegt.

Abschließend muss erwähnt werden, dass der Erzähler durch sein auktoriales

22 Rother, 1984: 91

23 ebd.: 92

24 vgl. ebd.: 91f.

25 Kincaid, 1973: 93

(21)

17 Erzählverhalten26 die Protagonistin nicht degradieren möchte. Meines Erachtens bereitet er den Leser auf den Ausgang der Handlung vor, indem er das Stilmittel Antizipation benutzt. (Dies wird eingesetzt, einerseits wenn er z. B. Alice mit einer Schlange vergleicht, andererseits als er sie am Ende des Gesprächs mit der Raupe daran erinnert, dass sie auch drei Zoll groß ist.) Es besteht ebenso kein Zweifel, dass die Identitäts- und Todesthematik präsent sind, aber die Auseinandersetzung Alices damit, wird nicht immer mit der gleichen Intensität aufgegriffen. An manchen Stellen wird sie humorvoller aufgenommen und an anderen wird sie dramatisiert.27

2.5. Die Bedeutung des Wunderlandes

Das Wunderland gleicht einem Irrgarten. Friese bezeichnet es so, aufgrund der herrschenden irrationalen Bedingungen, durch die die Protagonistin zum Identitätsverlust geführt wird. Enzensberger vergleicht ebenfalls das Wunderland mit einem „Irrgarten […] [weil] [a]lle Regeln der Wohlanständigkeit […] da auf den Kopf gestellt [sind], und das Grässlichste ist: Es lässt sich gegen diese Verkehrung nichts einwenden. Die Logik selbst scheint sich auf die Seite der Widersacher geschlagen zu haben.“28 In beiden Interpretationen wird der Ort des Geschehens als Irrgarten konventionalisiert. Hinter dieser Auslegung verbirgt sich eine Konnotation, da ein Irrgarten ein bekanntes Symbol aus der griechischen Mythologie ist. Es symbolisiert den Lebensweg und in der Tat, muss Alice im Wunderland ihren eigenen Weg finden. Dieser Weg ist in der Regel gefährlich und unfreundlich. Alles ist „anders“ als sie es von zu Hause kennt und im Verlauf der Reise verändert sie sich. Sie wächst, sie schrumpft, ihr Körper und ihre Stimme verändern sich. Sie verliert ihr Wissen, ihre Naivität, sie vergisst ihren Namen und ihre Identität. In dieser Unordnung muss sie ihren Weg in den Garten der Königin und durch das Leben finden.

26 Auktorial heißt, dass der Erzähler Bemerkungen, Kommentare oder Vergleiche hinsichtlich der Hauptfigur benutzt. Er greift also in das Geschehen ein und ist nicht unparteiisch.

27 vgl. Flescher, 1969: 134

28 Enzensberger in Carroll, 2007: 126

(22)

18 Auf diesem Irrweg ist die Edamer Katze ein Wegweiser für Alice. Im Gegensatz zu den übrigen Figuren im Wunderland, kann sie sich beherrschen, taucht auf und verschwindet wann immer es ihr beliebt. Sie ist also eine autonome Figur. Durch den folgenden Satz des Königs an sie, wird dies deutlich: „Sei nicht so unverschämt […] und sieh mich gefälligst nicht so furchtlos an.“ (AiW: 84). Die anderen Figuren wie z. B. der Greif, das Kaninchen oder die Königin sind nicht, wie es auf den ersten Blick scheinen mag, universelle Symbole für Moralvorstellungen. Sie scheinen mehr, die gleiche Funktion zu haben, wie die Tiergestalten bei Orwell, sie repräsentieren, die viktorianische Gesellschaft.29 Die Königin insbesondere, ist ein Symbol für Feindlichkeit, „[but] it is a hostility that leads nowhere; no one is really beheaded, since no logical consequences hold.“30 Es ist letztendlich der „gesunde Menschenverstand“31, der Alice vor dem Nonsense, der körperlichen und der geistigen Annihilation beschützt.

Im Verlauf des Prozesses gegen den Herzbuben, in dem Alice die Karten als Kartenspiel erkennt und „question[s] the authority of the King [and the queen] and point[s] out the stupidity of [their] rules“32 weiß der Leser, dass das Ringen um die eigene Identität, die Suche nach dem Heimweg ein Ende hat:

„»Wie lautet euer Urteil?«, fragte der König zum zehnten Mal.»Nein, nein«, sagte die Königin, »zuerst die Strafe, dann das Urteil!« - »Schluss mit dem Gefasel!«, sagte Alice laut.

»Zuerst die Strafe, wo gibt’s denn so was!«

»Du hältst den Mund!«, sagte die Königin, krebsrot vor Zorn.

»Ich denke nicht daran«, sagte Alice.

»Kopf ab mit ihr!«, Schrie die Königin aus Leibeskräften. Niemand rührte sich.

»Wer wird sich denn um euch scheren?«, sagte Alice (denn sie hatte wieder ihre volle Größe erlangt), »ihr seid ja nichts weiter als ein Kartenspiel!«“ (AiW: 119)

29 vgl. Zervou, 1996: 70

30 Kincaid, 1973: 93

31Kreuzer, Eberhard: „Aliceʼs Adventure in Wonderland“. In: Arnold, Heinz-Ludwig (Hrsg.) (2009):

Kindlers Literatur-Lexikon. In 18 Bänden. (Band Bou-Chr) Stuttgard/Weimar: Metzler, S. 552

32 http://www.essays.cc/free_essays/c2/tda32.shtml 24/4/2010

(23)

19 Das Irrgarten-Wunderland existiert, sodass sich die Protagonistin aus der Verwirrung ihres Daseins befreit, indem sie den richtigen aus den „vielen vorhandenen Pfaden“

wählt. Sie bekennt sich schließlich zu ihrer (neuen) Identität, indem sie ein letztes Mal wächst. In der Literatur symbolisiert das Schrumpfen oder das Wachsen Erkenntnis.

Dadurch ergibt sich dem Betroffenen, in diesem Fall der Heldin die Möglichkeit, neue Erfahrungen zu sammeln, indem sie (wortwörtlich) andere, objektivere Perspektiven annimmt.33 An dieser Stelle wird also Alice nicht nur als Erwachsene dargestellt, sondern sie selbst hat die Erkenntnis gewonnen, dass sich nach der Reise ihr Intellekt und Körper einheitlich entwickelt haben. „The power has passed to Alice.“34 Zusammenfassend kann gesagt werden, dass der Text sich mit der Identitätssuche während des Übergangs vom Kind- zum Erwachsenen- Dasein befasst. Der Text handelt also von einem Pubertätserlebnis.

33 Zervou, 1996: 80

34 Rother, 1984: 94

(24)

20 3.1. Theoretische Überlegungen zum Gegenstand Literaturverfilmung.

3.1.1. Das Vorurteil gegen Literaturverfilmungen.

Literaturverfilmung – anhand dieses Begriffes werden heute noch bei unterschiedlichen Gesprächspartnern (z. B. Film-, Literaturwissenschaftler) diverse Konnotationen herbeigerufen. Eine negative bzw. veraltete Konnotation davon besagt, dass Filme, die auf literarische Werke basieren, Mischprodukte sind, die ein sehr altes Vorurteil verfolgt.

Es heißt, filmische Adaptionen35 von literarischen Texten können dem Original bzw. der Inspirationsquelle nicht gerecht werden. Diese Meinung wird vehement von Literaturwissenschaftlern vertreten und dazu trägt gleichfalls die Überbewertung des Mediums Literatur gegenüber dem Film bei. Dies wird folgend erklärt: Einen schriftlichen Text zu lesen, sei ein aktiver Vorgang, dagegen sei ein passiver Vorgang sich einen Film anzuschauen.36

Die „Überlegenheit“ von Literatur gegenüber einem filmischen Produkt entsteht nicht aus der Beziehung beider Künste, sondern von mehreren Vorurteilen gegen Literaturverfilmungen. Zu diesen zählt z. B. „the assumption […] that older arts are necessarily better arts.“37. Dieses Argument ähnelt der Annahme MacLuhans, nämlich dass eine Kunstart erst nachdem ein großer Zeitraum vergeht, Ansehen erhält.

Infolgedessen wächst auch der Literatur mehr Bedeutung als dem Film zu. Ähnliche Vorurteile veranschaulichen die Art und Weise, auf die filmische Adaptionen beurteilt wurden bzw. manchmal noch werden. Hochgeschätzte literarische Werke bzw. Romane

35 Gast übernimmt die Definition von Kreuzer in Bezug auf das Wort Adaption. Insofern sind Literaturverfilmungen und Fernsehfilme Adaptionen. Zugleich bedeutet die lateinische Wurzel „adaptere“

Anpassung und das wiederum bezieht die Hochschätzung des Originals in Gegensatz zum transformierten Werk mit ein. Gast räumt diese falsche Deutung auf. Im Folgenden sind Adaption und Literaturverfilmungen identische Bezeichnungen. vgl. Wolfgang, Gast (1993): Film und Literatur.

Grundbuch, FaM: Diesterweg, S. 45

36vgl. Bohnenkamp, Anne (2004): „Literaturverfilmungen als intermediale Herausforderung“. In: Anne Bohnenkapm (Hrsg.) (2004): Literaturverfilmungen. Interpretationen (Lernmaterialien), Stuttgart: Reclam S. 9f.

37 Stam, Robert (2005): „Introduction“. In: Stam, Robert/ Alessandra, Raengo (2005): Literature and Film.A Guide to the Theory and Practice of Film Adaptation, Malden/ Mass: Blackwell, S. 4

(25)

21 und nicht gelungene Filme werden zum Objekt vergleichender Analysen.38 Das bedeutet, dass die Kritik wählerisch und subjektiv ist. In derartigen Fällen soll der Wert eines künstlerischen Produktes, nicht mit dem bevorzugten Medium gleichgestellt werden. Es soll beachtet werden wie ein Künstler ein Medium benutzt.

In der akademischen Debatte um dieses Thema sind Stichwörter wie Intertextualität39 und Hybridisierung präsent, die die weiter oben erwähnten negativen Argumente beseitigen.40

3.1.2. Begriffsklärung

Die etymologische Annäherung, verschafft dem Terminus Literaturverfilmung keine Klarheit, da er verschieden gedeutet wird. Im „Metzler Lexikon Medientheorie/

Medienwissenschaft“ wird der Begriff nicht erläutert, sondern wird in der Disziplin der Medienkomparatistik eingebettet. Im „Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft“

hingegen ist ein Eintrag über „Verfilmung“ zu finden. „Prozess und Produkt der Umsetzung eines schriftsprachlich fixierten Textes in das audiovisuelle Medium des Films“ 41 heißt hier Verfilmung. Die Definition bleibt offen, denn für die Entstehung fast aller Filme ist irgendein „schriftsprachlich fixierter Text“ involviert, wie z. B. ein Drehbuch. Auch wenn kein Roman, dann ist zumindest ein literarischer Stoff für die Entstehung eines Filmes bzw. für die Entstehung eines „Original-Drehbuches“ zuständig.

Also das Feld Literaturverfilmung bekommt keine klaren Konturen wie längst erwähnt wurde.

Indem die Stichwörter „Literatur“ und „Umsetzung“ näher definiert werden, wird somit das gleichnamige Feld enger. Literaturverfilmung soll sich also auf diese Filme beziehen, die sich nicht nur literarische Motive von ihrer Inspirationsquelle „ausleihen“, sondern

38 vgl.: ebd.

39 Auf den Begriff Intertextualität wird im Kapitel 3.2.1. und 3.2.3. näher eingegangen.

40 vgl. Bohnenkamp, 2004: 10f.

41 Zitiert in Bohnenkamp, 2004: 12.

(26)

22 auch ihren Status als literarische Texte bei der Umsetzung behalten. Ein anderer enger Begriff entsteht, wenn man unter Literaturverfilmungen nur diese Adaptionen verstehen soll, bei denen ein Zuschauer den Bezugstext kennt, oder zumindest erkennen kann, dass ein literarischer Text zur Entstehung der filmischen Adaption mit einbezogen wird. Nicht sehr bekannte literarische Texte werden infolgedessen aus dieser Definition ausgelassen.42

Beicken trägt zur Begriffsbestimmung von Literaturverfilmung bei, indem er die zwei Komposita, aus denen das Wort entsteht, definiert und ihre Beziehung aufzeichnet.

Literatur wird insofern als „eine bedeutende künstlerische Vermittlung von Erfahrung und Fantasie, die von Oralität in Gesang und Erzählen durch Verschriftlichung und Druck zum reproduzierbaren Text geführt hat[,]“43 bezeichnet.

„Film zunächst Jahrmarktsunterhaltung und Bilderspektakel mit Sensationen und Attraktionen, kam der höher geschätzten Literatur näher, als die auf Bewegungsfluss konzipierten Bilderfolgen Strukturen des Narrativen und auch des Dramas übernahmen für Story oder dramatisches Spiel.“44

Filme weisen folglich Ähnlichkeiten mit der Gattung Drama und den Erzählarten auf, die allgemein in literarischen Texten benutzt werden. Sie arbeiten zusätzlich mit bildlichen Codes. Wiederum benutzen Texte neben Sprache „Bilder“ bzw. werden sie durch Beschreibungen des Erzählers erzeugt. Mit anderen Worten sind in vielen Romangattungen (z. B. Nouveau Roman) filmische Vorfahren vorhanden. Zudem ähneln sich die verschiedenen Erzählsituationen und –Perspektiven in narrativen Texten mit den Kameraeinstellungen und –Positionen.45 Mittels einer derartigen „filmischen“ Art des Erzählens „[werden] Raum und Geschehen […] zur visuell erzählten Wirklichkeit.“46 Die

42 vgl. Bohnenkamp, 2004: 11 f.

43 Beicken, Peter (2004): Wie interpretiert man einen Film?, Stuttgart: Reclam, S. 171

44 ebd.

45 vgl. ebd.

46 ebd.: 172

(27)

23 Übereinstimmung dieser wesentlichen Merkmale in Texten und Filmen werden in einem weiteren Kapitel explizit beschrieben.

Für Faulstich stellen Literaturverfilmungen eine spezielle Gruppe von Filmen dar.

Generell benutzen Filme literarische Stoffe als Vorlage aber das gilt wiederum nicht als Kriterium, um einen Film als Adaption zu bezeichnen. Als Literaturverfilmungen können ohne Einwand diese Filme bezeichnet werden, die die Treue-Problematik auffassen, den Medienwechsel selbst thematisieren. Für die Analyse und Einschätzung solcher Filme ist ihr Prätext ebenfalls von Wichtigkeit. Denn eine filmische Adaption kann nicht als ein konventioneller Film analysiert werden. Es muss vielmehr die jeweils bevorzugte Ästhetik, oder die in der Umwandlung einbezogenen Medien verglichen und keinesfalls bloß einige Gemeinsamkeiten beschrieben werden.47

Als die Literaturwissenschaft angefangen hat, sich mit der Verfilmung von Literatur zu beschäftigen, war es von Bedeutung ob die „Verwandlung“ eines literarischen Textes zu einem Film gut oder schlecht war. Später wurde der positive Aspekt des Gegenstands im Mittelpunkt gestellt. Dieser bezieht sich auf die Funktion von filmischen Adaptionen als Interpretationen ihrer Vorlage. Zugleich wurde auf diese Weise die Theorie der (Inter-) Medialität erhellt. Letztendlich ist bei der Untersuchung von Literaturverfilmung der

„intermediale Transfer“ von Bedeutung. Darunter soll die Beziehung zwischen einem schriftlichem Text und dem daraus entstehenden Film verstanden werden, abgesehen davon ob beide Werke nacheinander oder gleichzeitig entstanden sind. Das bedeutet, dass nicht immer ein Buch in einen Film verwandelt wird.48 Darüber hinaus existieren noch andere intermediale Prozesse. Mittlerweile entstehen Bücher bzw. Romane nach Inhalten von Filmen und Fernsehserien, oder Filmskripte werden entsprechend für Theaterinszenierungen umgeschrieben. Bücher, die im Rahmen eines Filmes, oder einer Serie verfasst werden, gelten als erfreuliches Zusatzmaterial genau wie

47 vgl. Faulstich, Werner (2004): Einführung in die Filmanalyse, S. 57f.

48vgl. Bohnenkamp: 17f.

(28)

24 Literaturverfilmungen, die in vielen Fällen die Kaufzahlen ihrer Inspirationsquelle erhöhen. Es ist also die Rede von „Interaktion“ auf diesem Gebiet.49

Literaturverfilmungen bewerkstelligen letzten Endes eine Transgression. Denn bei der Beschäftigung mit diesem Gegenstand werden sowohl die ursprüngliche literarische Quelle als auch das Endprodukt nämlich die filmische Adaption mit einbezogen.50

3.1.3. Parallelen mit dem Übersetzungsvorgang

Mit dem ernannten Medienwechsel ähnelt sehr der Übersetzungsvorgang schriftlicher Texte. Mit dieser Ähnlichkeit haben sich auch viele Theoretiker befasst. Bohnenkamp selbst z. B. bezeichnet, indem sie einen Begriff von Jacobson paraphrasiert, die Übertragung eines Werkes von einem Medium in ein anderes als „intermediale Übersetzung“. Auch Bazin hat längst auf diesen Vergleich hingewiesen. Denn so wie eine Übersetzung ihren ursprünglichen Text berechtigen muss, um ihn förmlich und inhaltlich in die andere Sprache wieder zu geben, dergleichen muss eine filmische Adaption den literarischen Ausgangstext ebenso berechtigen. Doch Bazin erklärt, dass dieses Ziel für den Vorgang des Übersetzens erreicht werden kann, wenn die Kenntnis der Sprache sehr gut ist.51 Mit dieser Aussage wird das Thema Werktreue erneut eingeleitet. Die „richtig verstandene Werktreue wäre also nicht Versklavung durch das Original, sondern mediale Transformation und Entsprechung der Vorlage.“52

Anhand ähnlicher umfassender Sprach-Theorien wurden auch Literaturverfilmungen analysiert. Dabei wurde vor allem auf die sogenannte „Tiefenstruktur“ des schriftlichen Textes Acht genommen. Filmische Adaptionen gelten insofern als Vermittlung konkreter

49 vgl. Albersmeier, Franz - Joseph (1988): Von der Literatur zum Film. In: Albersmeier, Franz Joseph/

Roloff , Volker (Hrgb.) (1988): Literaturverfilmungen, FaM: Suhrkamp, S. 17

50 vgl. ebd.:15

51 vgl. Bohnenkap, 2004: 23

52 Beicken, 2004: 174

(29)

25 literarischer Elemente („deskriptive[r], narrative[r] und argumentative[r]“)53 in einem anderen Medium. Das was bei diesem intermedialen Prozess betont wird, ist das Adjektiv

„neu“, also dass diese Umsetzung auf Erfrischung des Textinhaltes hinaus zielt.

Aber Übersetzung und Literaturverfilmung haben auch einen erheblichen Unterschied.

Denn Übersetzungen nehmen die Stelle eines Textes ein, der in der Zielsprache nicht existiert. Im Gegensatz dazu gilt eine filmische Adaption häufig als Ergänzung ihrer ursprünglichen Quelle. Davon abgesehen kann eine filmische Übertragung ein Werk zu diversen Altersgruppen, oder in anderen Ländern bekannt machen. Das gleiche kann auch anhand einer Übersetzung geschehen und anhand dieser Meinung werden nicht mehr die negativen Aspekte dieses Vorgangs (Verlust, Untreue), sondern die positiven thematisiert. Es wird nicht darauf gezielt ein Duplikat anhand einer wortwörtlichen Übersetzung zu erschaffen, sondern eine Weiterentwicklung des Ausgangstextes.

Differenzen, die dabei entstehen, werden schließlich als Erwerb und Bereicherung aufgefasst.54

Stam verbindet die Problematik der Werktreue mit unmessbaren bzw.

unwissenschaftlichen Faktoren, konkreter mit den individuellen Gefühlen von Laien.

Obwohl man anhand von Fortschritt der Technologie und neueren Theorien wie Intertextualität und Poststrukturalismus das veraltete Kriterium Werktreue abschaffen sollte, ist es trotzdem von Interesse inwiefern Thematik, Figurenkonstellation, narrative Elemente, oder Textgattung in einer filmischen Adaption beibehalten oder nicht werden.

Die Lesergefühle, die von einer „misslungenen“ Adaption verletzt werden, stehen im Zusammenhang mit folgenden Punkten. Einerseits wird der Kern eines beliebten Buches nicht aufrichtig umgewandelt. Andererseits sind manche Literaturverfilmungen besser als andere bzw. werden als bessere bezeichnet.

53 Bohnenkamp, 2004: 24

54 vgl. ebd.: 23f.

(30)

26 Außerdem entsteht die Endfassung eines Filmes nach Interpretation des Originaltextes.

Die fertigen Bilder, den Ablauf dieser, die Schauspieler und noch weitere Entscheidungen treffen die Regisseure, die gleichzeitig Leser des literarischen Textes sind, anhand ihres kritischen Urteilvermögens. Dabei entsteht die Frage an welchem Prätext eine Adaption sich orientiert. Denn in manchen Fällen schreibt ein Schriftsteller neben seinem Roman auch das Drehbuch dazu. Und im konkreten Beispiel ist die Wahl noch schwieriger, wenn beide Texte voneinander abweichen. Letztendlich aber werden immer filmische Adaptionen vehement unterbewertet. Dies geschieht wiederum nicht bei Theater-Inszenierungen, oder wenn ein (vorhandener) Text „neu“ geschrieben wird.

Wellers meint infolgedessen, dass es keine Logik gibt einen Roman zu adaptieren, wenn der Regisseur ihn nicht ergänzt oder verändert.55

Der Gegenstand Adaption bestimmt sich also nicht von selbst, sondern steht immer in Verbindung zu den Entscheidungen, die von Menschen getroffen werden, um einen literarischen Text für die Leinwand tauglich zu machen.

Es ist längst Fakt geworden, dass das immer wieder kehrende Argument über die

„Untreue“ eines Werkes in der Debatte um den Gegenstand Adaption altmodisch erscheint und einen negativen Beigeschmack hat.56 Aufgrund dessen sind neue und

„positive“ Analogien und Stichwörter bedingt, mit denen sinnvoller über die Transformation eines Werkes zwischen den Medien (Film und Text) gesprochen werden kann. Manche dieser Bezeichnungen heißen: „reading, rewriting, critique, translation, transmutation, metamorphosis, recreation“ u.a.57 Jeder dieser Begriffe kann nicht mit dem der Adaption und ferner Literaturverfilmung gleichgesetzt werden, trotzdem beschreibt jeder davon eine andere Funktion dieses umfassenden Feldes, wie längst die Metapher der Übersetzung bezeugt. Das Wort „reading“ z. B. impliziert die Menge von Lesarten

55vgl. Stam/ Raengo, 2005: 14f.

56 vgl. ebd.: 24

57 ebd.: 25

(31)

27 eines literarischen Textes durch seine Adaptionen, auf dieselbe Art wie auch ein Text ohne Adaption mehrfach interpretiert werden kann.58

Hans und Zimmer benutzen den Begriff Adäquanz an Stelle von Werktreue. Die Frage nach der Korrespondenz zwischen filmischer Adaption und Vorlage führt zur Überbewertung der zweiten. Die Suche nach dem Grad der Treue entspricht einer Denkart, in der beide Werke nicht äquivalent, sondern die Literaturverfilmung ein Duplikat des Textes ist. Ferner werden die medienspezifischen Bedingungen unter denen die jeweiligen Werke entstehen außer Acht gelassen. Eine Adaption muss dagegen als Interpretation empfunden werden. 59 Die Aufmerksamkeit soll folglich auf die positive Seite des Terminus gelenkt werden. Diesbezüglich ist die Metapher der Adaption als

„evolutionary process“ ebenfalls dienlich. Hiernach ist die Adaption mit „mutation“

gleichzustellen, anhand der letzeren die literarische Vorlage „survive[s]“.60

3.1.4. Analogien zwischen Literatur und Film

Die technologische Entwicklung der unterschiedlichen digitalen Medien hat Auswirkungen auf den Status von Literaturverfilmungen. Solche technologische Fortschritte sind z. B. „portable“ Videos (Filme). Das Anschauen dieser verweist am Vorgang Lesen und ihre Optik verleitet an das Medium Buch. 61

Narrativität ist ein gemeinsames Element von Film und Literatur. 62 Im Film wird anhand der Kamera, einer Instanz, die dem Erzähler in literarischen Texten gleicht, das Geschehene vermittelt. Ebenso wichtig für die mediale Umwandlung eines Textes ist die

58 vgl. Stam/ Raengo, 2005: 25

59 vgl. Hans/ Zimmer, 1980: 485 in Brauneck, Manfred (1980): Film und Fernsehen. Materialien zur Theorie, Soziologie und Analyse der audiovisuellen Massenmedien, Bamberg: Buchner

60 vgl. Stam/ Raengo, 2005: 3

61 ebd.: 11

62 Unter dem Wort Literatur sollen hier vorwiegend narrative und dramatische Texte verstanden werden.

Lyrik wird von dem Begriff ausgeschlossen.

(32)

28 literarische Gattung, die er angehört. Denn die Umgestaltung von Briefromanen, weist andere Schwierigkeiten, als die von Dramen, oder historischen Romanen auf. Aus diesem Grunde entstehen auch etliche Kategorien von Literaturverfilmungen. Zugleich sind Unterschiede bei Adaptionen für die Leinwand oder das Fernsehen vorhanden. Diese reichen von der Abbildungstechnik her bis zur Rezeption vom Zuschauer hin. Ein Rückblick in die Geschichte der Literaturverfilmung zeigt die unterschiedlichsten filmischen Adaptionen, die am jeweiligen technologischen Fortschritt verbunden sind (Digitaltechnik vs. Stummfilm bzw. Pantomime). Daran soll deutlich werden, dass die Grenzen von Literatur und Film nicht immer klar zu begrenzen sind und dadurch soll ebenso der hybride Zustand von Literaturverfilmungen erneut zum Vorschein kommen.63

Die Instrumentarien, mit denen Film und Literatur arbeiten, obwohl in beiden Fällen Zeichen (sprachliche und bildliche) vorhanden sind, heben sich voneinander ab. An erster Stelle liefert ein literarischer Text nicht immer eine konkrete Vorstellung; er beschreibt nicht detailliert das Geschehene. So kann beispielsweise der Satz „ein großes Haus“

mehrfach von einem Leser interpretiert und rezipiert werden.64 „The words of a novel have a virtual, symbolic; we as readers fill in their paradigmatic indeterminances […] in our own imagination.“65 Doch bei der Umsetzung für einen Film muss eine bestimmte Entscheidung getroffen werden und im genannten Beispiel, wie dieses Haus aussehen wird.66 Die Herausforderung einer solchen medialen Umwandlung gehört zur Debatte des Verlustes in Bezug auf Literaturverfilmungen. Virginia Woolf beispielsweise missbilligte diejenigen filmischen Adaptionen „that reduced a novelʼs complexly nuanced idea of ʼloveʻ to ʼa kiss,ʻ or rendered ʻdeath,ʼ literal-mindedly, as a ʻhearseʼ“67.

So wie die Kulissen ausgesucht, so müssen auch die Darsteller ausgesucht werden.

Anhand des Aussehens der erwählten Personen werden die Protagonisten des Textes konkretisiert und oftmals verbinden sich die fiktiven Charaktere mit den Schauspielern

63 vgl. Bohnenkamp, 2004: 28ff.

64 vgl. ebd.: 31

65 Stam/ Raengo, 2005: 14

66 vgl. Bohnenkamp, 2004:31f.

67 Stam/ Raengo, 2005: 3f.

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