• Keine Ergebnisse gefunden

5. Charmed – Halliwells im Wunderland

5.3. Die Identitätsthematik

Als Leo fragt „warum ausgerechnet „Alice im Wunderland; warum gerade dieses Märchen?“, verrät Phoebe die Antwort: „Na ist doch klar. Darin geht es doch um dem Verlust der Unschuld, die Notwendigkeit der Flucht, die Suche nach der eigenen

65 Identität.“ (C: 33ʼ) Diese Aussage gibt eine andere Bezugsstelle zwischen Verfilmung und Text kund, die Identitätsthematik. Da die Schwestern nicht in die Falle der Dämonen tappen, durchleben sie den Identitätsverlust nicht. Die konkrete Problematik, spiegelt sich dennoch in ihrem alltäglichen Leben. Die im Handlungsverlauf eingebauten Sequenzen, in denen Magie oder Dämonenjagten vorkommen, reflektierten das, was gerade im Leben der Schwestern geschieht. Bei den Episoden handelt es sich folglich um metaphorische Geschichten, in denen die vorkommenden persönlichen Beziehungen in das phantastische Element verpackt werden144.

Die Identitätsproblematik ist bereits am Anfang der Episode klar zu erkennen. Es wurde längst erwähnt, dass Leo sein Spiegelbild betrachtet, während Piper ihre Zähne putzt. In der Folge kommen auch Paige und Phoebe ins Badezimmer und man erkennt, dass auch ihre Spiegelbilder nicht ihre eigenen sind. Die Kleidung ist dieselbe, doch ihr äußeres Erscheinungsbild im Spiegel ist nicht das gleiche. Die Protagonistinnen haben sich andere Identitäten angeeignet, weil sie am Ende der letzten Staffel ihren eigenen Tod fingiert haben. Da sie totgeglaubt sind, müssen sie nicht mehr Dämonen vernichten, zugleich nicht Unschuldige retten. Der Spiegel ist schon ein erstes Anzeichen für die Ich-Problematik. „[W]ie in anderen Märchen [wirft] er die Frage nach der Identität auf: Wer bin ich? Wer soll ich sein?“145 Auch der Inhalt ihres Gespräches bezieht sich auf ihr Verhalten im Alltag, gegenüber Dämonen und ihrer Aufgabe Unschuldige zu retten, aufgrund ihrer neuen Identitäten. Der Drang nach einer neuen Lebensweise, das Festsetzen neuer Prioritäten und die Verwirrung angesichts der neu herrschenden Situation, setzt sich in folgendem Dialog fort:

„Piper: Also, passt mal auf. Wir müssen uns alle zusammenreißen oder wäre es euch vielleicht lieber, wenn wir wieder anfangen Dämonen zu jagen?

Paige: Auch wenn sie uns für Tot halten?

Piper: Das war eine rhetorische Frage.

Paige: Nein war es nicht.

144 vgl. Dvd – Commentary, The story of Charmed: Genesis, 2006:CBS Studios, 10:00f.

145 Faulstich, 2002: 152

66 Piper: Paige!

Paige: Was denn?

Leo: Wir sollten es langsam angehen lassen und ein bisschen mehr Geduld haben.

Phoebe: Ja, erzähl das mal, bitte, meiner Vision.

Paige: Und meiner irren Schutzbefohlenen.

[…]

Piper: Gut. Hört zu: Niemand hat gesagt, dass das einfach wird, aber lasst uns die Sache doch mal die nüchtern betrachten. Wie schlimm kann es sein, wenn wir uns keine Sorgen um Dämonen machen müssen?

Phoebe: Nicht schlimm.

Piper: Danke! Also du wirst in Zukunft das Klingeln deiner Schutzbefohlenen ignorieren. Du wirst es einfach überhören.

Paige: Dann sag mir bitte mal, auch wie ich das anstelle.

Piper: Tu, was Grandma dir geraten hat. Geh öfter aus. Achte nicht auf Zeichen deines früheren Lebens, sondern auf die, die dich zu einem neuen Leben führen. Sei offen für alles.

Und du - (Kamerawechsel auf Phoebe/ große Aufnahme) du redest ständig von irgendwelchen Zeichen. Ist eine Vision nicht genau das? […] Laut einer deiner Visionen wirst du schon bald eine Tochter haben.“ (C: 3ʼ f.)

Wie Alice, sind die drei Frauen wegen ihrer Verwandlung (in anderen Personen) verwirrt.

Piper rät ihren beiden Schwestern, dass sie ihre Verantwortung, die das Hexen-Dasein mit sich bringt, ignorieren und sich neu erfinden sollen. Paige soll eine neue Berufung finden und Phoebe soll versuchen, sich der Verwirklichung ihrer Vision zu widmen.

Nicht nur die Spiegelsymbolik und dieser Dialog, sondern auch Dokumente die ihre Identität beweisen sollen (Ausweise), die derzeit zur Tarnung magisch manipuliert werden, sind Kennzeichen derselben Problematik. Als eine Polizistin Paiges Führerschein verlangt, weil sie ein Stoppschild übersehen hat, ist darauf in Detailaufnahme, das Foto einer anderen Person zu erkennen. Der Name der neuen Identität, die die Protagonistin angenommen hat, lautet Josephine Bennet (C: 10ʼ). Auf Phoebes Reporterausweis sind ebenso ein anderes Bild und ein anderer Name (Julie Benett) vorhanden. (C: 39:24) Auch die Nebendarstellerin Kaley Cuoco alias Billy wird von der besprochenen Thematik beeinflusst. Die aus Leder bestehende Kleidung der jungen Hexe und ihre schwarze

67 Perücke verweisen auf die vielen Verwandlungen, die Alice durchlebt. Mehrere Personen tarnen und verkleiden sich, um die eigene Identität geheim zu halten. Diese Stichwörter (Verkleidung und Tarnung) ergänzen die Thematik der Erzählung, in den Fällen von Billie, Leo und der drei Schwestern. Das Thema Identität wird also von der Adaption modifiziert und insofern auf viele ihrer Handlungsebenen übertragen.

In einem späteren Gespräch mit Leo stellt sich heraus, dass Piper auf die gleiche Art wie Alice unter Identitätsverlust leidet. Diese Art bezieht sich auf den Wechsel unterschiedlichen Rollen in den letzten Jahren:

„Piper: Ich meine ich habe das Gefühl, als wäre ich aufgewacht und hätte den Großteil meines Lebens einfach verlegt. Versteh mich doch; das ging alles so schnell. Vor sieben Jahren habe ich gerade das College abgeschlossen. Ich war Single, konnte gut Kochen, wollte in einem Restaurant arbeiten und dann Boom! Plötzlich heißt es: „Hi, Hallo, du bist eine Hexe und übrigens auch deine ganze Familie“ und wir retten die Unschuldigen und auf einmal bin ich die Frau von Jemanden und dann die Mutter von Jemanden und dann die Chefin von Jemanden. Und so geht es immer weiter. Und… ich weiß nicht wie das geht von vorne anfangen. Ich bin… so viele Jahre so vieles gewesen. Ich weiß selbst nicht mehr, wer ich eigentlich bin.“ (C: 25ʼ f.)

Der letze Satz ist ein direktes Zitat aus dem Text Carrolls. Die Protagonistin bekennt sich der konfusen Situation, in der sie sich befindet. So wird auch die These untermauert, dass sich die Handlungssequenzen mit Dämonen auf das Leben der drei Schwestern wiederspiegeln. Um den Auszug besser zu verstehen, muss erläutert werden, dass speziell für die Figur von Piper im Verlauf der ganzen Serie, die Zerrissenheit zwischen Alltag und Magie eine Last ist. Sie sehnt sich mehr als ihre Schwestern ein „normales“ Leben, in dem keine Magie impliziert wird, zu führen. Für Lenzhofer gehört Piper zu einer Frauengruppe, die sie „Stadtneurotikerinnen“146 nennt. Holly Marie Combs (alias Piper) verleiht ihrem Charakter in dieser Szene eine Dimension von Neurose. Der Zuschauer kann betrachten, wie sie mittels Gestik ihre Aussage untermalt. In der Nahaufnahme sind

146 Für den Begriff „Stadtneurotikerinnen“ s. Lenzhofer, Karin (2006): Chicks rule!: die schönen neuen Heldinnen in US-amerikanischen Fernsehserien, Bielefeld: transcript

68 nebenbei die Bewegungen ihres Kopfes und das Zucken ihrer Augenbrauen zu betrachten. Nach Lenzhofer benötigt sie Therapie, weil sie ihre unterschiedlichen Identitäten nicht annimmt, sich nicht von ihnen bestärken lässt, wie ihre beiden Schwestern Phoebe und Paige.147 Doch in diesen Passagen ist auch die Magie einer der Aspekte, die ihre Identität zusammensetzt und an der sie sich bis zum diesem Moment orientieren konnte.

Der Zusammenhang der Episode mit dem Text von Carroll manifestiert sich mehrfach, auf intertextueller und bildlicher Ebene, wie bis jetzt bewiesen wurde. Die Adaption öffnet zusätzlich neue Wege der Rezeption. Meines Erachtens verhilft die Episode nicht nur zur Popularisierung eines weltbekannten Textes, sondern sie versinnbildlicht eine Lesart dessen, nämlich die für Erwachsene. Dementsprechend wird die Gattung Fantasy dekonstruiert und der tiefere Sinn der Erzählung (Identitätsverlust) wird prägnant artikuliert. Mit der Verortung der Thematik in die Gegenwart wird deutlich, wie banal, aktuell und gleichzeitig wichtig ähnliche Fragen wie: „Wer bin ich?“, im Alltag sind.