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Transformation nach Polanyi

Im Dokument 8 «Wenn das alte stirbt …» (Seite 140-143)

Zur Erklärung der Wirkmächtigkeit des Neoliberalismus und der zugrunde liegenden Transformationsprozesse des Verhältnisses von Ökonomie und Politik vornehmlich im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts wird schon seit Längerem immer wieder auf die Studie von Karl Polanyi zurückgegriffen, die «The Great Transformation» im Titel führt. Bezeichnenderweise trug sich der Autor selbst 1944 mit dem Gedanken, sein Werk unter dem Titel «Liberal Utopia» zu veröffentlichen (vgl. Thomasberger 2012:

187). Darin klingt die zentrale Intention seiner Untersuchung an, «dass der Kern der großen Transformation das Versagen der Marktutopie war» (Polanyi 1944: 292), was wiederum auf eine komplexe Wechselwirkung von ökonomischen Strukturen und politischen Vorstellungen ihrer Ausgestaltung in der Geschichte des Kapitalismus verweist. Seine Analyse von 1944 verortete Polanyi selbst an einem geschichtlichen Knotenpunkt: «Im Rückblick wird unsere Zeit als jene gelten, die das Ende des selbst-regulierten Marktes erlebt hat. In den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts hatte das Prestige des Wirtschaftsliberalismus seinen Höhepunkt erreicht» (ebd.: 196). Hiermit ist auch – im Unterschied zu einer Lesart, die Polanyis Transformationsbegriff in den Neoliberalismus- und Transformationsdebatten oft nur als «black box» benutzt – der Zeitkern und eigentliche Gehalt der Großen Transformation klar umrissen: «Die Ur-sprünge der Katastrophe lagen in dem utopischen Bemühen des Wirtschaftsliberalis-mus zur Errichtung eines selbstregulierenden Marktsystems. […] Aus einer solchen gefährlichen Sackgasse entstand im 20. Jahrhundert die faschistische Krise» (ebd.: 54 u. 187). In der Großen Weltwirtschaftskrise und den begleitenden politisch-militäri-schen Katastrophen ging die Zivilisation des 19. Jahrhunderts unter. Polanyi sieht die Lebenskraft der Gesellschaften nicht in erster Linie durch Kriegseinwirkungen oder gewaltsame Klassenkonflikte blockiert. Die Zivilisation «scheitert nicht am Ergebnis irgendwelcher angeblicher ökonomischer Gesetze. […[ Sie fiel als Folge einer ganz andern Reihe von Ursachen: den Maßnahmen, die die Gesellschaft traf, um nicht ihrerseits durch die Auswirkungen des selbstregulierenden Marktes vernichtet zu wer-den» (ebd. 329).

Die Schlussfolgerungen nach dem Zusammenbruch der traditionellen Ordnung – dem katastrophale Ende des Versuchs, einen sich selbst regulierenden Markt und da-mit eine Marktgesellschaft oder marktkonforme Demokratie zu schaffen – schlugen sich in einem Konsens nieder: «Arbeit, Boden und Geld aus […] dem Markt her-auszunehmen und durch deren Regulierungen den Vorrang der Gesellschaft vor den Märkten zu sichern» (Krugman 2008).

Nach Polanyi ist die Gesellschaftsgeschichte des modernen Kapitalismus seit dem 19. Jahrhundert «das Ergebnis einer Doppelbewegung. Während sich die Marktorga-nisation in bezug auf echte Waren ausweitete […], wurde andererseits ein ganzes Ge-flecht von Maßnahmen und Verordnungen in mächtigen Institutionen zu dem Zweck zusammengefasst, den Marktmechanismus in bezug auf Arbeit, Boden und Geld ein-zuschränken. […] Die Gesellschaft schützte sich selbst gegen die einem

selbstregulie-renden Marktsystem innewohnenden Gefahren – dies war das bedeutsamste Merkmal der Geschichte dieses Zeitalters» (Polanyi 1944: 112). In der Zwischenkriegszeit des 20. Jahrhunderts versagte diese Doppelbewegung zum Selbstschutz der Gesellschaft, und in diesem Sinne besteht letztendlich in den gesellschaftszerstörenden Folgewir-kungen der «Entbettung» kapitalistischer Marktprozesse gegen erste sozialstaatliche Ansätze in der Zwischenkriegszeit der Kern der «Great Transformation» im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts.

Nach der faschistischen Katastrophe wagte Polanyi 1944 die Prognose für den wei-teren Verlauf des Jahrhunderts der Extreme: «Der Zusammenbruch der traditionellen Ordnung bedeutet nicht, dass wir uns in einem Vakuum befinden. […] Innerhalb einiger Staaten zeigt sich eine Entwicklung, in deren Rahmen das Wirtschaftssystem nicht länger der Gesellschaft das Gesetz vorschreibt und in dem der Vorrang der Ge-sellschaft vor diesem System gesichert ist. Dies mag auf sehr verschiedene Art und Weise geschehen, auf demokratische oder aristokratische, auf konstitutionelle oder autoritäre, oder vielleicht auf eine völlig unvorhersehbare Weise. Die Zukunft man-cher Länder mag vielleicht schon in einer anderen Gegenwart sein, während andere vielleicht immer noch die Vergangenheit der übrigen verkörpern. Das Ergebnis aber wird für alle gleich sein: Das Marktsystem wird nicht mehr selbstregulierend sein, nicht einmal im Prinzip, da es Arbeit, Boden und Geld nicht mehr umfassen wird» (ebd.: 331;

Herv. J. B./Ch. L.).

In der Tat kam es nach dem Zweiten Weltkrieg in den kapitalistischen Hauptlän-dern zeitversetzt und in national unterschiedlichen Ausprägungen zu «gemischten Wirtschaftsordnungen» mit weitreichenden Dekommodifizierungen auf den Arbeits-märkten, sozialem und gemeinwirtschaftlichem Wohnungsbau sowie (inter-)national regulierter Geld- und Währungspolitik, kodifiziert im Bretton-Woods-System vom Juli 1944. Für das «Golden Age» trifft Polanyis Deutung der eingehegten Markt-dynamiken im fordistischen Nachkriegskapitalismus also zu. Zugleich lässt sich aber im Umkehrschluss die Periode seit Ende der 1970er Jahre als erneute «Great Transfor-mation» deuten, in der es dann in einem längeren geschichtlichen Prozess wieder zu einer zeitlich und national differenzierten «Entbettung» kapitalistischer Marktdyna-miken mit all ihren Folgewirkungen bis zur großen Krise von 2008 ff. gekommen ist.

Dieser Mitte der 1970er Jahre einsetzende gegenläufige Prozess des Abbaus von Regulierungen, der Privatisierung von öffentlich-gemeinnützigen Strukturen und der Rückkehr der sozialen Risiken ist gleichfalls kein strategisch angeleitetes Rollback.

Die fordistische Entwicklungsetappe wird mithin durch eine «passive Revolution» be-endet, durch eine restaurative Bewegung von den bisherigen unzureichenden Formen der Kontrolle und keynesianischen Steuerung des gesellschaftlichen Wertschöpfungs-prozesses in Richtung auf eine Ökonomie, die sich der Kapital- und Marktsteuerung wieder vollständig unterwirft. Diese passive Revolution legt einer politischen Mehr-heit den Ausweg zur Krisenüberwindung in Richtung einer Markt- und Kapitalsteu-erung nahe; umgekehrt hatte der bis in die 1970er Jahre agierende historische Block

sozialer Kräfte der Krisenhaftigkeit der gesamtgesellschaftlichen Steuerung und der anhaltenden Erosion der sozialen Basis des Bündnisses keine überzeugende Konzep-tion einer entwickelteren Form gesellschaftlicher Programmierung entgegenzusetzen.

Diese passive Revolution verläuft in den verschiedenen kapitalistischen Ländern zwar je nach den nationalkulturellen und historischen Besonderheiten, aber für alle gilt die Absetzung von der bis dahin praktizierten Globalsteuerung und der Übergang zur Politik der Deregulierung mit dem Ziel, den Kapitalwettbewerb als Entdeckungsver-fahren gegenüber allen sozialstaatlichen Beschränkungen wieder voll zum Tragen zu bringen.

Die politisch-ideologische Utopie des Neoliberalismus lebte dabei von der Illusion, die immer wieder auftretenden Spannungen und Widersprüche von gesellschaftli-cher wie individueller Unsigesellschaftli-cherheit und sozialverpflichteter Eigenverantwortung politisch managen zu können. Zugleich war der Neoliberalismus aber kein konsis-tentes und entwicklungsfähiges Gesellschaftsprojekt, sondern beinhaltete beständig ein Neben einander von noch taylorisierten Arbeitsprozessen, Akkumulationskrise, ökonomischer Stagnation und finanzkapitalistischen Hybridstrukturen, was die seit den 1980er Jahren schwelende Krise der fordistischen Betriebsweise bis heute nicht wirklich überwinden konnte. Die ökonomischen Grundstrukturen des neoliberalen

«Finanzmarktkapitalismus» bargen zu viele Instabilitäten und Widersprüche, um die propagierten Glücksversprechen von Globalisierung, Autonomie, Effektivität und Vermögen einlösen zu können. Die politische Linke hat rückblickend die «Great Transformation» des Neoliberalismus seit Beginn der 1980er Jahre unzulänglich ein-geschätzt. Mit dem Ausbruch der großen Krise 2008 ff. ist jetzt ein neuer geschichtli-cher Knotenpunkt erreicht.

Auch die bürgerliche Klasse und ihre politische Elite, die bis 2008 dem neoliberalen Mainstream selbst folgten, besitzen derzeit kein klares gesellschaftliches und ökono-misches Projekt im Umgang mit dem lädierten Finanzmarktkapitalismus und den gescheiterten neoliberalen Konzepten. Ihre Aktivitäten konzentrieren sich vorerst auf das politische Feld und sie versuchen, über eine «ordnungspolitische Erneuerung» der Sozialen Marktwirtschaft aus ihrer Hegemonieschwäche – zwar zu herrschen, aber nicht zu führen (Gramsci) – herauszukommen. Das ist gegenwärtig hierzulande der harte Kern des «Systems Merkel» (vgl. Bischoff/Müller 2012).

Im Dokument 8 «Wenn das alte stirbt …» (Seite 140-143)