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Politisches Feld: Zwischen Intervention und Marktmechanismus

Im Dokument 8 «Wenn das alte stirbt …» (Seite 143-147)

In die polanyische «Doppelbewegung» ist zugleich eine spezifische Konstitution des politischen Feldes in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft eingeschlossen.

Denn die politische Ökonomie des 18. und der Liberalismus des 19. Jahrhunderts markieren den Epochenwechsel «eines Zeitalters, das mit den Schöpfern des Staa-tes, Thomas More, Machiavelli, Luther und Calvin begonnen hatte, […] zu jenem 19. Jahrhundert, in dem Ricardo und Hegel, aus verschiedenen Richtungen kom-mend, die Existenz einer Gesellschaft entdeckten, die nicht den Gesetzen des Staates unterworfen war, sondern im Gegenteil, den Staat ihren eigenen Gesetzen unterwarf»

(Polanyi 1944: 157). Die wahren Entdecker dieser «Gesetze» sind die Vertreter der klassischen politischen Ökonomie. Die klassische politische Ökonomie ist diejenige Wissensform, in der der Übergang der modernen bürgerlichen Gesellschaft in das

«Zeitalter der Politik» ausgesprochen wird. Hier wird das ganze «Problem der kriti-schen gouvernementalen Vernunft» (Michel Foucault) als liberale Regierungskunst begründet. Die Gegenbewegung zur liberalen Entbettung des Marktes und für staatli-che Intervention und Marktregulierung wird so geschichtlich zum politisstaatli-chen und in-tellektuellen Fokus der europäischen Sozialdemokratie. Letztere schafft im Übergang zum 20. Jahrhundert den «politischen Kapitalismus» (Gabriel Kolko) und befördert, radikalisiert durch die Spaltung der Arbeiterbewegung nach dem Ersten Weltkrieg, zugleich den «Eintritt der Massen in die Politik» (Pietro Ingrao). Denn «die Arbei-terklasse kann sich gegen die verhängnisvollen Auswirkungen des industriellen Wan-dels auf ihr persönliches Leben nur durch die bewusste politische Einflussnahme auf die automatischen Gesetze, die den kapitalistischen Markt, die Währungssysteme, die Zins- und Lohnsätze steuern, verteidigen. Sie werden zu dieser Einmischung als Reaktion auf die versteckte kapitalistische Einflussnahme herausgefordert, die die na-türlichen Funktionen der politischen Demokratie zu pervertieren versucht. Sie wer-den geradewegs dazu eingelawer-den, wenn während akuter ökonomischer Krisen das Big Business selbst die politische Demokratie zur Hilfe ruft, um ihre Schwierigkeiten zu überwinden» (Polanyi 2005b: 235).

Aber die Doppelbewegung von kapitalistischer Einflussnahme und der Einmi-schung vonseiten der Lohnabhängigen ist nicht einfach auf ein gleichgewichtiges Wechselverhältnis von Markt und Staat reduzierbar, sondern durchläuft im 20. Jahr-hundert komplexe gesellschaftspolitische Konstellationen, die durch unterschied-liche Kräfteverhältnisse, Funktionsfähigkeit politischer wie zivilgesellschaftunterschied-licher In-stitutionen und illusionäres Bewusstsein der sozialen Akteure geprägt sind. In der ersten Großen Transformation des 20. Jahrhunderts kommen alle diese Faktoren zusammen und münden in einer Zerstörung der Demokratie. Das grundlegende Ungleichgewicht innerhalb der polanyischen Doppelbewegung – Einheitlichkeit des Wirtschaftsliberalismus in der Laisser-faire-Politik und disparate, unabgestimmte und unkoordinierte Interventionen auf Seiten der Marktregulierung – wirkt tendenziell krisenverschärfend, provoziert seinerseits marktradikale Schutzmaßnahmen im

Na-men ökonomischer Kontinuitätssicherung und unterminiert so die demokratischen Strukturen, wie zum Ende der Zwischenkriegszeit geschehen: «Hypothetisch hätten die negativen ökonomischen Effekte der isolierten Interventionen durch umfassen-de Interventionen vermieumfassen-den werumfassen-den können, d. h. durch eine überlegte und geplante Regulation des Marktes (Herv. J. B./Ch. L.). Allerdings wäre eine solche Entwicklung, wenn unter der Kontrolle der Arbeiterklasse erreicht, eine außerordentliche Gefahr für die Privilegien der Eigentümer gewesen. Die Eigentümer hätten sich in einer Si-tuation wiedergefunden, in der sie auch nur des Anscheins ihrer gesellschaftlichen Nützlichkeit beraubt und dafür reif gewesen wären, abgeschafft zu werden. An die-sem Punkt diente der Marktmechanismus als Schutz für die Eigentümer. Isolierte Interventionen, obwohl lebensnotwendig für das Überleben der Gesellschaft, tendier-ten dazu, den Marktmechanismus zu schwächen. Nun geriet der Markt schon beim kleinsten Anzeichen einer umfassenderen oder geplanten Intervention in Panik und es entstand die unmittelbare Gefahr des vollständigen Zusammenbruchs des produk-tiven Apparats. Es kam zu einer ‹Vertrauenskrise› und die politischen Kraft, die für diese verantwortlich gemacht wurde, musste unverzüglich von der Bühne verschwin-den» (Polanyi 2005a: 280).

Die Große Transformation der 1920er Jahre ist von einer folgenschweren Blockade der politischen Kräfte innerhalb der Doppelbewegung von Marktutopie und Inter-vention/Regulierung gekennzeichnet. Die Vertrauenskrise geht mit demokratischer Repräsentationskrise, gleichzeitiger politischer Apathie und populistischer Radikali-sierung sowie einem Versagen der Eliten einher; zugleich driften die europäischen Metropolen bei Auseinanderbrechen des überkommenen Goldstandards und eines noch unabgeschlossenen Rollenwechsels des Weltmarktdemiurgen von Großbritan-nien zu den USA auseinander: «Zwischen Wirtschaft und Politik ist eine Kluft auf-gerissen. Das ist in dürren Worten die Diagnose der Zeit. Wirtschaft und Politik, diese beiden Lebensäußerungen der Gesellschaft, haben sich selbständig gemacht und führen miteinander dauernd Krieg; sie sind zu Losungen geworden, unter denen po-litische Parteien, wirtschaftliche Klassen ihre gegensätzliche Interessen austragen. Es ist soweit gekommen, dass die Rechte und die Linke im Namen von Wirtschaft und Demokratie einander befehden, als könnten die zwei Grundfunktionen der Gesell-schaft in zwei verschiedenen Parteien im Staate verkörpert sein! Hinter den Parolen steckt aber grausame Wirklichkeit. Die Linke ist in der Demokratie verankert, die Rechte ist es in der Wirtschaft. Und gerade dadurch wird die zwischen Wirtschaft und Politik vorhandene Funktionsstörung zu einer katastrophalen Polarität gespannt. Aus dem Bereich der politischen Demokratie entspringen die Kräfte, die in die Wirtschaft eingreifen, sie stören und unterbinden. Die Wirtschaft antwortet mit einem General-sturm gegen die Demokratie als die Verkörperung unverantwortlicher, unsachlicher Wirtschaftsfeindlichkeit. […] Eine Gesellschaft, deren politisches und wirtschaftli-ches System einander widerstritten, wäre unfehlbar dem Untergang oder dem Um-sturz geweiht» (Polanyi 2002b: 149).

Es ist bedrückend, wie aktuell Polanyis Zeitdiagnose der Großen Transformation von 1932 zwischen dem Sturz des britischen Pfunds, der überkommenen Weltmacht, und dem Aufstieg des deutschen Faschismus sich von heute aus liest.3 Enthält sie brauch-bare Hinweise für die Analyse der zweiten Great Transformation, die in die Krise 2007 ff. mündete? In der Tat. Nicht «lange Wellen» oder «Landnahmen» strukturieren die Kapitalakkumulation und Entwicklungsphasen der kapitalistischen Gesellschafts-formation, wie in vielen aktuellen Zeit- und Krisendiagnosen zu lesen ist (z. B. David Harvey, Klaus Dörre), sondern die gesellschaftlichen Konflikte um eine Steuerung und Kontrolle von Produktivitätsentwicklung und Verwendung des gesellschaft-lichen Reichtums. Nicht das Wachstum von Gütern und Dienstleistungen markiert unser Schlüsselproblem, sondern die in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschafts-geschichte immer wieder politisch wirkmächtige Vorstellung eines selbstregulieren-den Marktes, mit der eine Marktgesellschaft oder eine marktkonforme Demokratie geschaffen werden soll. Mit Polanyi lässt sich daher jenseits von ökonomistischem Reduktionismus und jenseits einer Auflösung des Bedingungszusammenhangs der Produktionsweise des materiellen Lebens mit dem sozialen, politischen und geistigen Lebensprozess ein differenzierterer Blick auf die Gesamtheit gesellschaftspolitischer Di-mensionen und Wirkfaktoren in der Krise gewinnen.4 Zu dieser Gesamtheit gehören auch das Alltagsbewusstsein der Lohnabhängigen in seiner ganzen Komplexität, Am-bivalenz und Widersprüchlichkeit und hier neben der ökonomisch geprägten Kri-senwahrnehmung insbesondere die Dimensionen des Gesellschaftsbewusstseins. Hier entscheidet sich, ob die aus der neoliberalen Transformation immer noch virulenten Marktimperative durch alternative gesellschaftspolitische Vorstellungen von sozialer Regulierung und wirtschaftsdemokratischer Gestaltung überwunden werden können.

Da es beim Ausgang der gegenwärtigen «Zweiten Großen Transformation» also ent-scheidend auf die Bewusstheit der Akteure ankommt, sollten Fehleinschätzungen des Zusammenhangs von ökonomischer Krise und Alltagsbewusstsein vermieden werden.

Hier wird das politische Feld bedeutsam und gilt es, einen kritischen Hinweis von Bourdieu zu beachten. Die ökonomische Krise verändert das Alltagshandeln nicht direkt und unvermittelt. «Die externen Determinanten, die die Marxisten

herange-3 Dazu gehören auch Polanyis implizite Hinweise auf die demokratiegefährdende Virulenz ökonomischer Mys-tifikationen über den Zusammenhang von Geld und Währung insbesondere in Krisenzeiten sowie die Not-wendigkeit «ökonomischer Alphabetisierung»: «Eine moderne Demokratie kann nur auf Grund einer zur Volksüberzeugung gewordenen nationalökonomischen Lehre Bestand haben. Eine die Masse ergreifende Mei-nungsverschiedenheit über die die Währung beherrschenden Grundgesetze wäre in einem Lande, in welchem die Währung so zentrale Bedeutung besitzt [damals England, heute Deutschland; j. B./Ch. L.], an sich schon eine gefährliche Störung der politischen Sphäre» (Polanyi 2002a: 127).

4 Polanyi stand in der Zwischenkriegszeit auf der Linken, aber zwischen den sich blockierenden Strömungen der Arbeiterbewegung, und bewies in seinen zeitgenössischen Kommentierungen und Kurzanalysen eine hohe Sensibilität für die Gemengelage und die tektonischen Verschiebungen innerhalb der politischen Mentalitäten.

Daher rührt seine zeitdiagnostische Brauchbarkeit für vergleichbare Umbruchsituationen, an die man analytisch anknüpfen kann. Andere Teile seines Gesamtwerks bleiben tief kulturanthropologisch bis -pessimistisch geprägt und sind für eine Kritik der politischen Ökonomie nicht anschlussfähig.

zogen haben – zum Beispiel die Wirkung von ökonomischen Krisen, technischem Wandel oder politischen Revolutionen – können nur vermittelt über den aus ihnen resultierenden Strukturwandel des Feldes eine Wirkung entfalten» (Bourdieu 1998:

62), also jenes relativ autonomen Mikrokosmos innerhalb der großen sozialen Welt, in dem sich die Subjekte je nach ihrer Stellung im sozialen Raum und ihrer «Kapital-ausstattung» befinden. Da das Leben in den verschiedenen gesellschaftlichen Feldern keine einfache Übertragung der Regeln des ökonomischen Feldes verkörpert, sondern die Felder verschiedene Formen der Autonomie aufweisen, ist es für das Verständnis des Funktionierens des jeweiligen Feldes und die Überzeugungskraft von politischen Alternativen wichtig, den «Brechungskoeffizienten, d. h. seinen Grad der Autonomie»

(ebd.) zu analysieren.

Die Frage steht also, wie den gesellschaftspolitischen Konstellationen in der zweiten Großen Transformation Ansatzpunkte für eine emanzipatorische Politik abgerungen werden können. Hier ordnet sich auch die Lesart von Polanyi durch Nancy Fraser ein. Aber sie kritisiert bestimmte Verkürzungen an Polanyis Doppelbewegung: Das Schlüsselkonzept der Entbettung der Märkte trage die Gefahr des Ökonomismus und Funktionalismus in sich, und die Gegenbewegung sozialer Schutz- und Fürsorge-maßnahmen laufe Gefahr, in eine Romantisierung der Gesellschaft als eines sicheren Schutzraums umzukippen. In beiden Fassungen bleibe damit das emanzipatorische Potenzial auf der Strecke. Polanyis Konzeptionalisierung einer Doppelbewegung muss daher nach Fraser zu einer post-polanyischen Perspektive der Dreifachbewe-gung erweitert werden, die dann bezogen auf die Entbettung der Emanzipation von hierarchisierenden Schutzmaßnahmen durch Vermarktlichung und bezogen auf die Dekommodifizierung von Arbeit der Emanzipation von falschen Schutzmaßnahmen, wie sie «national denkende Sozialdemokraten und Gewerkschaften bis hin zu im-migrationsfeindlichen populistischen Bewegungen« propagieren, durch das Postulat

»negativer Freiheit» Rechnung trägt (Fraser 2011: 107). Mit ihren post-polanyischen Reflexionen dämpft Fraser aber zugleich den Optimismus, das krisenhafte Ende der neoliberalen finanzmarktkapitalistischen Great Transformation der letzten Jahrzehnte vorschnell in eine Transformation mit umgekehrtem Vorzeichen umzudeuten, die sie selbst noch vor kurzem erwartete: «Eines würde ich heute allerdings anders schrei-ben. 2008/2009 war ich zu optimistisch, was die politischen Auswirkungen der Fi-nanzkrise angeht. Da das Finanzsystem um Haaresbreite an seinem Zusammenbruch vorbeigeschrammt war, hoffte ich, dass wir an der Schwelle zu einer weiteren ‹großen Transformation› stünden, in der wir feministische Ideen für radikale Ziele wiederge-winnen könnten» (Fraser 2012: 69).

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