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Neoliberale Globalisierung und europäische Integration, Veränderung der internationalen Kräfteverhältnisse und Ende der Systemkonkurrenz

Im Dokument 8 «Wenn das alte stirbt …» (Seite 53-56)

Alle großen Krisen des 20. und 21. Jahrhunderts waren nicht auf einzelne Staaten beschränkt, sondern erfassten aufgrund des entwickelten kapitalistischen Weltmarkts und der vielfältigen ökonomischen Verflechtungen und gegenseitigen Abhängigkei-ten alle kapitalistischen Länder und trugen den Charakter internationaler Krisen. Da-bei gibt es in Bezug auf Scheidewege wesentliche Unterschiede.

Nach der Krise 1973/74 ff. gab es eine Weichenstellung zu Veränderungen in den internationalen Wirtschaftsbeziehungen, die als Globalisierung die weitere Entwick-lung der Weltwirtschaft bestimmen sollte. Sie war verbunden mit einer Vertiefung der Kluft zwischen dem globalen Norden und dem globalen Süden, der Herausbildung transnationaler regionaler Wirtschaftsblöcke, die Verschiebung der weltwirtschaft-lichen Gewichte zwischen den Staaten und Regionen. Die Globalisierung und die europäische Integration beeinflussten zunehmend auch die innere Entwicklung aller Staaten.

Die Globalisierung war durch ihren engen Zusammenhang mit der neoliberalen Deregulierung internationaler Wirtschaftsbeziehungen sowie vor allem durch die sukzessive Beseitigung aller Hemmnisse für die globale und schrankenlose Auswei-tung der Finanz- und Kapitalmärkte bestimmt.

Für den Ausbruch der Krise 2007/08 ff. in Deutschland und in Europa und für deren konkreten Verlauf spielen neben der Globalisierung die europäische Integra-tion mit der Herausbildung des europäischen Binnenmarkts seit 1993 – des größten gemeinsamen Markts der Welt – und der europäischen Währungsunion seit 1999 eine wichtige Rolle. Hierauf sind wichtige Unterschiede im Ausbruch, im Verlauf und in den Maßnahmen zur Eindämmung und Überwindung der jüngsten Krise im Vergleich zu den vorausgegangenen großen Krisen zurückzuführen.

In der Krise 2007/08 ff. ist die Scheidewegsituation hinsichtlich Globalisierung und europäischer Integration anders und vor allem wesentlich schärfer als in der Krise 1974/76. Es geht nicht um eine Entscheidung für oder gegen Globalisierung bzw. europäischen Binnenmarkt oder Währungsunion, sondern um eine notwendige Änderung ihrer Qualität, die bisher von Neoliberalismus, Markfundamentalismus und der damit verbundenen Austeritätspolitik zum Schuldenabbau zulasten der sozial Schwächeren und der Zukunft bestimmt wird.

Der Scheideweg in der heutigen Krise zeichnet sich im Zusammenhang mit Glo-balisierung und europäischer Integration durch folgende Alternativen aus: Die eine besteht darin, dass es den herrschenden Eliten gelingt, die neoliberale Globalisierung und Europäisierung zum Nachteil der Völker und der Menschen im Wesentlichen in der bisherigen Art und Weise fortzuführen. Die Konsequenz hieraus wären eine

wei-tere drastische Verschärfung der sozialen Situation insbesondere in den europäischen Krisenländern die Fortführung und sogar weitere Ausprägung ihres undemokrati-schen, autoritären Charakters und schließlich die Gefahr eines Scheiterns nicht nur der europäischen Währungsunion, sondern des gesamten europäischen Projekts. Die andere Alternative besteht in einer Entwicklung hin zu einer qualitativen Änderung des Inhalts und der Wirkungen der Globalisierung und Europäisierung im Interesse der Menschen und der Zukunft. Die Alternative für die EU könnte in aller Kürze als Scheideweg zwischen deutschem Spardiktat auf der einen Seite und solidarischer In-tegration (Axel Troost) oder Weg zu einer solidarischen, sozialen und demokratischen Neuorientierung der EU andererseits gekennzeichnet werden.

Die gegenwärtigen Prozesse der Globalisierung und der weiteren europäischen In-tegration sind eng mit Veränderungen in den internationalen Kräfteverhältnissen ver-flochten, die in der Literatur umfassend analysiert worden sind. Herausragend waren dabei die Veränderungen in den letzten Jahrzehnten in der weltwirtschaftlichen Rolle der USA und Chinas sowie der anderen BRIC-Staaten, die gegenwärtig und in der nächsten Zeit die Scheidewegsituation beeinflussen. Dies sollte bei der Analyse der ökonomischen Entwicklungsprozesse und bei der Ausarbeitung davon abgeleiteter und auf die reale Lösung von Problemen gerichteter Alternativen beachtet werden.

Heute steht auch die Frage nach Alternativen auf der Tagesordnung, die sich aus der Erosion der Führungsrolle der USA ergeben. Wird es ein Ende der unipolaren Welt und den Übergang zu einer multipolaren Welt geben? Wird es in einer solchen multi-polaren Welt besser gelingen, die Rolle der internationalen Institutionen so zu stärken und zu demokratisieren, dass mithilfe koordinierter, gemeinsamer Anstrengungen der Weltgemeinschaft die dringendsten Probleme zielstrebig in Angriff genommen wer-den sowie vorhanwer-dene und neu entstehende Konflikte mit friedlichen Mitteln gelöst werden? Oder wird das Gegenteil geschehen: Zunahme unkontrollierter, auch cha-otischer Prozesse, die eine friedliche und zukunftsfähige Welt noch stärker als heute gefährden.

Ein wesentlicher Unterschied zwischen den großen Krisen 1929 ff. und 1973/74 ff.

und der gegenwärtigen Krise besteht darin, dass die Krisen des 20. Jahrhunderts auch durch die Gegensätzlichkeit der beiden Gesellschaftssysteme, des staatssozia-listischen und des kapitastaatssozia-listischen, gekennzeichnet waren, während die Krise 2008 ausbrach, als der Realsozialismus in Europa und das sozialistische Lager seit fast 20 Jahren nicht mehr existierten. Dies hatte natürlich auch bestimmte Konsequen-zen für die Scheidewegsituationen im Gefolge dieser Krisen. Vom Staatssozialismus gingen widersprüchliche und in den verschiedenen Krisen unterschiedliche Signale für die gesellschaftlichen Akteure in den kapitalistischen Ländern sowie für mögliche alternative Entwicklungen in diesen Ländern aus. Es gibt nach meinen Kenntnis-sen keine aussagekräftigen AnalyKenntnis-sen darüber, wie und in welchem Ausmaß Einflüsse des Staatssozialismus in der Bundesrepublik und in anderen kapitalistischen Ländern wirksam wurden. Generell könnte gesagt werden, dass eine Systemalternative zum

Kapitalismus als politischem Faktor immer als Hintergrund bei den sozialen Ausei-nandersetzungen vorhanden war. Allein ihre reale Existenz war eine Hemmschwelle für die Durchsetzung unsozialer Maßnahmen. Sie wirkte sich auch unterstützend aus auf die Kämpfe der westdeutschen Gewerkschaften um höhere Löhne und die Ver-kürzung der Arbeitszeit.

Die möglichen positiven Einflüsse aus der Tatsache, dass in der Sowjetunion zur Zeit der Weltwirtschaftskrise der erste Fünfjahrplan mit hohen Zuwachsraten vor allem der Industrieproduktion erfüllt wurde und es keine Arbeitslosigkeit gab, wur-den vor allem dadurch eingeschränkt und teilweise ins Gegenteil gekehrt, dass es dort nicht gelang, eine demokratische Planung der Wirtschaft und eine effektive und innovative Wirtschaftsentwicklung zu erreichen. Rund 30 Jahre nach der Weltwirt-schaftskrise wurden in einigen Mitgliedsländern des RGW Elemente für ein moder-nes, leistungsfähigeres Wirtschaftsmodell zur Erhöhung der Selbstständigkeit der Unternehmen und insbesondere zur Förderung von Innovationen und Effektivität eingeführt, die jedoch nach wenigen Jahren – Ende der 1960er Jahre – wieder zu-rückgenommen wurden. In der DDR ging es um das Neue Ökonomisches System der Planung und Leitung (NÖS), in der ČSSR stand während des «Prager Frühlings»

eine tief greifende Wirtschaftsreform im Vordergrund, die unter anderem auf dem sogenannten Richta-Report und dem Konzept zur Wirtschaftsreform von Ota Šik beruhte. In der DDR wurde das NÖS nicht zuletzt infolge eines starken politischen Drucks der Sowjetunion aufgegeben, bevor es wirklich erprobt werden konnte. Im Zusammenhang damit erfolgte auch die Ablösung von Walter Ulbricht als Generalse-kretär der SED durch Erich Honecker. In der ČSSR wurde der «Prager Frühling» und mit ihm die Wirtschaftsreform durch den Einmarsch von Truppen der Warschauer Vertragsstaaten im August 1968 beendet. In der zweiten Hälfte der 1970er Jahre, das heißt zur Zeit der Wirtschaftskrise der kapitalistischen Länder 1973/74 ff. und in der Folgezeit traten in der Sowjetunion und in den anderen staatssozialistischen Ländern verstärkt Stagnationstendenzen auf.

Die gegenwärtige große Krise des kapitalistischen Wirtschaftssystems ist die erste seit über 80 Jahren, die ohne das realsozialistische Gegengewicht zum kapitalistischen Weltsystem stattfindet. Dies macht sich darin bemerkbar, dass der Abbau des Sozial-staats und die fortgeführte Umverteilung von unten nach oben ohne äußere Hemm-schwellen durchgesetzt wurden. Die Schwächen und grundlegenden strukturellen Deformationen des Realsozialismus haben zu seinem Scheitern geführt und zugleich bewirkt, dass der Sozialismus als Alternative bei großen Teilen der Bevölkerung dis-kreditiert worden ist und seine Anziehungskraft weitgehend verloren hat. Dies wird noch lange fortwirken. Dazu tragen auch die einseitigen, nur auf die negativen Seiten gerichteten Berichte und Darstellungen der realsozialistischen Vergangenheit, insbe-sondere des Lebens und der Arbeit der Menschen in dieser Zeit, bei.

4 Erosion wichtiger Elemente des Sozialstaats, Polarisierung zwischen Reich und

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