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Man kann über Gott nicht reden wie über eine Kuh.

(Meister Ekart) Theologie reflektiert auf die Praxis des Glaubens. Das kann auf sehr unter-schiedliche Weise geschehen. Bei christlicher Theologie ist immer ein normativer Bezug zur Bibel im Spiel. Dieser ist in der Theologiegeschichte Gegenstand ausführlichster Analyse geworden. Der Kontextbezug ist ein zweiter entscheidender Produktionsfaktor von Theologie sowie Quelle von Beobachtungs- und Urteilskriterien. Er ist bisher in weitaus geringerem Maße Gegenstand theologischen Nachdenkens gewesen, obwohl der Kontext einen erheblichen Einfluss auf theologisches Schaffen ausübt und zuweilen auch für Irritationen sorgt.

Als die koreanische Theologin Chung Hyung-Kyung vor der Vollver-sammlung des Weltkirchenrates in Canberra tanzte, gerieten die Gemüter in Wallung. Dies so sehr, dass das, was die Koreanerin nach dem Tanz sagte,1 nicht mehr allzu genau gehört wurde und heftige Reaktionen vor allem seitens orthodoxer und evangelikaler Mitglieder der Vollversamm-lung die Folge waren. Konrad Raiser2 interpretierte den allseits bekannten Konflikt als ein Aufeinander-Treffen verschiedener Hermeneutiken: einer kontextuellen auf Seiten Frau Chungs mit einer Hermeneutik der Tradition auf Seiten ihrer schärfsten Kritiker. Chung Hyung-Kyung vertraute darauf, dass ihr Ansatz beim kulturellen Kontext Koreas „authentische Antworten aus anderen Kontexten hervorrufen werde, trotz der radikalen Unter-schiedenheit der Sprachen“ (Raiser: Jenseits 428). Die orthodoxe Erklärung zu ihrem Vortrag „berief sich auf eine Hermeneutik der Tradition, welche die Tradition des apostolischen Glaubens... als normatives Kriterium für ökumenische Kommunikation akzeptiert“ (Raiser: Jenseits 428). Der daraus entstandene Konflikt wirft eine Reihe wichtiger Fragen auf, wie etwa jene nach der Bedeutung von Dialog und Tradition für die Kriterien

theologi-3 Müller-Römheld: Canberra 187 f. Zur Interpretation vgl. Raiser: Jenseits, S. 429 f.

4 Ich verwende diesen Begriff nach Dietrich Ritschl. „Implizite Axiome sind Konstrukte des menschlichen Geistes unter den Bedingungen der Natur. Sie sind verdichtete Erfah-rungen mit dem Leben und mit Gott im Leben. Sie sagen uns – salopp ausgedrückt – ‚Ja, so geht es‘, ‚so gelingt das Leben‘.“ Ritschl: Axiome 161; vgl. ebenso Ritschl: Theologie. Vgl.

auch die Diskussion über das Konzept in Huber/Petzold/Sundermeier: Axiome. Von einem Ansatz bei der bourdieuschen Theorie der Dispositionen des Habitus aus kann man

scher Wahrheit. Das entscheidende hermeneutische Problem lässt sich allerdings vom Kontextbegriff her in den Blick bekommen.

Auf den genannten Konflikt kann man zwei verschiedene Begriffe von Kontext anwenden. Das Vorgehen von Frau Chung deutet auf ein klares Bewusstsein der eigenen Kontextualität hin; das ihrer Kritiker lässt kein Bewusstsein eigener Kontextabhängigkeit erkennen. Hat man einen engen, oder emphatischen, Kontextbegriff, so orientiert man sich an der Selbst-einschätzung der jeweiligen Theologen: Frau Chung wäre somit eine kon-textuelle Theologin, ihre Gegner nicht. Hat man dagegen einen weiten Kontextbegriff, so betont man – den engen Begriff einschließend –, dass jede Theologie kontextabhängig ist, ganz gleich ob ein Bewusstsein von dieser Kontextabhängigkeit vorhanden ist oder nicht. Dann wären auch die Kritiker kontextabhängig. Ich operiere meist mit dem weiten Begriff und spezifiziere gelegentlich mit dem engeren. Allerdings: ist der weite Kontextbegriff nicht banal?

Im Anschluss an den Konflikt um die Darbietung Frau Chungs in Canberra empfahl der Ausschuss für Programmrichtlinien der Vollver-sammlung Folgendes: Im Zusammenhang mit der „Entwicklung einer lebendigen und kohärenten Theologie“ müsse „ein Dialog zwischen den kontextuellen und den ‚klassischen‘ Theologien beginnen, um eine ökume-nische Art und Weise zu entwickeln, Theologie zu treiben“3, die gleich-zeitig dem apostolischen Glauben treu bleibe und die lokalen Kulturen beachte. Diese Empfehlung weist auf eine dringende Notwendigkeit, leidet allerdings unter dem Anschein, dass sie den engen Kontextbegriff voraus-setzt. Dies ist auf dem Hintergrund der ökumenischen Diskussion sogar recht wahrscheinlich. Denn seitdem der Kontextbegriff Anfang der siebzi-ger Jahre in die ökumenische Diskussion eingeführt wurde, hängen ihm zwei Probleme an: Zum einen ist der Unterschied zwischen Kontextualisie-rung und Kontextualität nicht hinreichend deutlich. Zum anderen – und in diesem Zusammenhang wichtiger – litt der methodenbezogene Diskurs über kontextuelle Theologie unter einer gewissen politischen Überfrach-tung durch implizite Axiome4 von Befreiungstheologien und seine Bin

gut mit dem ritschlschen Konzept arbeiten und es in den Rahmen einer allgemeinen Gesellschaftstheorie stellen. Eine detaillierte Auseinandersetzung wäre interessant, ist aber hier nicht vordringlich.

5 Überfrachtung deshalb, weil Wahrnehmung des Kontexts häufig mit einem Engage-ment für Befreiung gleichgesetzt wurde. („Eine bloß akademische Theologie, die vom Handeln getrennt ist, weisen wir als belanglos zurück. Wir sind bereit, in der Epistemologie einen radikalen Bruch zu vollziehen, der das Engagement zum ersten Akt der Theologie macht und sich auf eine kritische Reflexion oder die Realitätspraxis der Dritten Welt einläßt.“ Ecumenical Association of Third World Theologians: Schlußerklärung 137.) Auf der einen Seite war diese Entschiedenheit ein wichtiger Impuls für die Diskussion. Auf der anderen Seite zeigt sich nach den Erfahrungen der letzten zwanzig Jahre, dass auch diese Position die Wahrnehmung einengen und sich selbst in eine Orthodoxie verwandeln kann.

6 Vgl. zum Beispiel das Kapitel VII in Frieling: Weg.

7 Weinrich: Ökumene 48. Ähnlich stellt Pieter Holtrop: Contextuality, das Problem der Kontextualität als die gegenwärtig wichtigste theologische Herausforderung des Reformier-ten Weltbundes dar. Auch die Kritiker des ökumenischen Kontextbewusstseins sehen die Frage als wichtig an, vgl. Röder: Canberra, und Slenzcka: Forum.

dung an antikolonialistische Befreiungskämpfe.5 Beides trug dazu bei, dass sich die Ansicht hartnäckig festgesetzt hat, kontextuelle Theologie sei eine Art Spezialität von Theologen der Dritten Welt6. In einem solchen engen Kontextbegriff wurzelt die Zweideutigkeit der Empfehlung des Program-mausschusses in Canberra. Da sie einen engen Begriff von kontextueller Theologie zugrunde legt, setzt sie implizit voraus, dass die „klassischen“

Theologien nicht kontextuell und damit voraussetzungsfrei seien. Das wiederum heißt: Kontextuelle Theologien sind eben kontextuell und somit lokal beschränkt; „klassische“ Theologien sind dies nicht und somit poten-tiell universal. Erst wenn man einen weiten Kontextbegriff verwendet, kann man zu der wirklich wichtigen Erkenntnis gelangen, dass Theologie auf konkrete Nachfragen nach Sinn antwortet. Wiederum mit Konrad Raisers Worten: „Entscheidend wird nun vielmehr die Frage, wo und wie sich in dem jeweiligen Kontext das Verlangen nach Heil, Befreiung, Hei-lung oder Fülle des Lebens ausdrückt, so dass die Botschaft des Evangeli-ums als gute Nachricht gehört und empfangen werden kann.“ (Raiser:

Jenseits 430)

Ein weiter Kontextbegriff ist also keineswegs trivial. Die generelle Kon-textbindung des theologischen Arbeitens ist vielmehr, so Michael Wein-rich, ein „Schlüsselproblem“7 ökumenischer Theologie. Und es ist lange nicht damit getan, Kontextbindung zu konstatieren. Der Hinweis auf Nachfrage nach Sinn und deren Bedeutung für theologische Produktion deutet auf die wirkliche Schwierigkeit: zu erklären, wie sich diese Nach-frage und die Erzeugung von Theologie miteinander vermitteln. In diesen

Fragezusammenhang gehört natürlich auch die Ausrichtung an theologi-scher Tradition. Auch die Orientierung an Tradition hat mit einer spezi-fischen Nachfrage zu tun. In diesem Sinne ist auch eine Hermeneutik der Tradition ihrerseits kontextabhängig und auf konkrete Nachfrage bezogen.

Die Frage nach den gesellschaftlichen (also auch kulturellen und individuellen) Produktionsbedingungen von Theologie ist für die theologi-sche Arbeit höchst relevant. Ihre Bedeutung für ökumenitheologi-sche Hermeneu-tik liegt auf der Hand. „Nicht-theologische Faktoren“ theologischer Arbeit wurden etwa in der Kommission für Glauben und Kirchenverfassung schon vor geraumer Zeit diskutiert. Außerdem gibt es direkte und weitrei-chende Implikationen für die ökumenische Diskussion über Gospel and Culture sowie Gospel and Identity.

Allerdings: „Kaum ein Argument wird in der ökumenischen Arbeit so gern genannt wie der Hinweis auf die Kontextualität aller Theologie, und kaum ein Bereich ist nach meiner Kenntnis zugleich so unbearbeitet ge-blieben wie eben dieser.“ (Weinrich: Ökumene 47)

In den folgenden Überlegungen gehe ich selbst von einem weiten Kontext-begriff aus, wenn es darum geht, eine beliebige Theologie von ihrem Kon-text her zu verstehen. Unter dem KonKon-text einer Theologie verstehe ich die Gesamtheit aller auf diese (mehr oder weniger stark) wirkenden und von ihr (mehr oder weniger stark) affizierten Praxisfelder mit ihren Beziehun-gen, Logiken, Gütern, Institutionen und Machtgefällen. Wenn es um die Hervorbringung von Theologie geht, bei der der Kontext explizit berück-sichtigt wird, so lege ich selbstverständlich den engen Kontextbegriff zugrunde.

Aus dieser Sicht möchte ich die Diskussion um kontextuelle Theologie aufgreifen und einen eigenen Vorschlag zu ihrer praxeologischen Vertie-fung machen. Dazu werde ich meine eigene Position in der Diskussion verorten und an bereits vorliegende Ergebnisse anschließen. Angesichts der Literaturfülle werde ich mich allerdings auf einige Beispiele beschrän-ken und einen großen Teil der Diskussion in Exkurse verlegen. Ich arbeite in drei Schritten. Zum scheinbar kontextenthobenen Vokabular: Hier werde ich an zwei Debatten über kontextuelle Theologie zwei meines Erachtens grundlegende Probleme so genannter „klassischer“ Theologie erörtern.

Zum neuen kontextsensiblen Vokabular werde ich einige zentrale Aspekte von neueren Vorschlägen kontextueller Theologie (Beavans, Schreiter) prüfen.

Schließlich werde ich eigene Überlegungen aus praxeologischer Perspektive vorstellen.

8 Vgl. Margull: Christenheit, Kamphausen/Usdorf: Zuspitzung, Kamphau-sen/Löffler/Usdorf: Theologie, Rütti: Identität, für die „kontextuelle“ Theologie und für die

„europäische“ Rendtorff: Kontextualität, Rendtorff: Europäismus, Pannenberg: Inkulturation.

Zur kontextuellen Theologie als Herausforderung an die Dogmatik vgl. Sauter: Heraus-forderung. Zum Hintergrund der Entwicklung kontextueller Theologien und der missions-theologischen Debatte Collet: Theologien.