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B. Ansätze kontextueller Theologie

3. Methoden kontextueller Beschreibung: Robert Schreiter

54 Dies ist die umgekehrte, aber darin durchaus gültige Folgerung aus der folgenden religionswissenschaftlichen Erkenntnis. Bei der Untersuchung fremder religiöser Praxis sollte man sich über Folgendes klar sein: „Deutungsmonopole und Deutungsinteressen binden auch die Tätigkeiten jener religiösen Spezialisten an einen, ihren historischen Kontext, sie liegen auf der gleichen Objektebene wie etwa die Logik einer Ritualsequenz.

Anders ausgedrückt: Auch die jeweiligen Theologien sind ‚Eingeborenen-Modelle‘ im Sinne der ethnologischen Forschung und Teil des zu erforschenden Symbolsystems.“

(Gladigow: Religionswissenschaft 36) Dies gilt selbstverständlich nicht nur für fremde sondern auch für eigene Theologie.

55 Vgl. etwa Löschke: Religion, der mit den Mitteln der Oral History über die Basis-gemeinden in Nicaragua gearbeitet hat. Vgl. auch Schäfer: Protestantismus. Zur theologischen Produktion aus dieser Perspektive vgl. Amirtham/Pobee: People.

56 Vgl. Brandt: Basisliteratur, über brasilianische Basisgemeinden, Brandt: Straße, über religiöse Aufschriften auf brasilianischen Lastwagen, und Brandt: Gegenwart. Kliewer:

Pfingstler, hat u.a. auf diese Literaturgattung zur Untersuchung brasilianischer Pfingstler zurückgegriffen.

57 Vgl. etwa Binyon: Demon, zur Dämonenaustreibung, Hollenweger: Situation, Hollenwe-ger: Christentum, und Poloma: Movement, zu verschiedenen Aspekten. Ähnliches bestätigen auch meine eigenen (bisher unveröffentlichten) Studien zum Gottesdienst und anderen rituellen Praktiken bei pfingstlichen und neopfingstlichen Kirchen in Guatemala im Rahmen meiner Feldforschung.

Schreiter stellt in einem Kapitel seines wegweisenden Buches Überlegun-gen zur Analyse von Kultur an. (Schreiter: Abschied 68 ff.) Diese enthalten wichtige Impulse für ökumenisch ausgerichtete Theologen, denen es darum geht, die christliche Praxis ihrer Partner aus deren Kontext heraus zu verstehen. Es geht also zunächst um die Beschreibung von Theologien in ihren kulturellen Umfeldern. Allerdings braucht auch die Produktion einer kontextbewussten Theologie eine kompetente Beschreibungsmetho-de ihres Kontextes.

Für die Leistungsfähigkeit eines solchen Beschreibungsinstrumentari-ums gibt Schreiter drei Kriterien vor (73 ff.). Eine Analyse muss 1) „ganz-heitlich“ ausfallen. Das heißt, sie soll nicht bestimmte Bereiche gesell-schaftlichen Lebens auf andere reduzieren und als deren „Ausdruck“

betrachten. Sie soll Religion folglich als „Lebensweise“ behandeln und sich nicht nur auf religiösen Diskurs beschränken. 2) Die Analyse soll die identitätsbildenden Kräfte herausarbeiten im Blick auf Gruppenbildung und die Entstehung einer Weltanschauung. 3) Und schließlich soll der gesellschaftliche Wandel und dessen Bedeutung für die Theologien im Blick sein.

Auf den folgenden Seiten werde ich kurz die einflussreichen Vor-schläge Schreiters mit dem Ziel erörtern, den eigenen Ansatz auch hin-sichtlich der Methode besser zu verorten und auf Anschlussmöglichkeiten zu prüfen. Ich werde mich dabei auf das analytische Handwerkszeug konzentrieren.

Exkurs: Zu den zentralen Feldern kontextueller Analyse

Wo es um Methoden von Analyse und Beschreibung geht, richtet sich Robert Schreiters Aufmerksamkeit mehr auf fremde Kulturen als auf fremde christliche Praxen. Dies hat meines Erachtens mit einer impliziten Begrenzung seiner Sicht-weise zu tun. Wenn man diese kennt, kann man freilich auf Schreiters Impulse mit erheblichem Nutzen zurückgreifen. Deshalb zunächst eine kurze kritische Anmer-kung.

Bei der Lektüre von Schreiters Buch bin ich den Eindruck nicht losgeworden, dass der Autor das Anpassungsmodell nicht wirklich verlassen hat. Analyse der Kultur erfolgt, um den Einheimischen zu helfen, eine kontextuelle Theologie zu produzieren. Das kann sicher eine mögliche Arbeitsperspektive sein; ich selbst arbeite als theologischer Lehrer in Lateinamerika ähnlich. Das Problem bei Schrei-ter wird freilich dann deutlich, wenn er von außen induzierte theologische

Entwick-58 Auf diese Weise stehen zum Beispiel Geertz‘ Theorie von Bedeutungsnetzen und Kurt Lewins Feldtheorie recht unverbunden nebeneinander (90) und neben verschiedenen Schulen der Semiotik, ohne dass die Ansätze vertieft oder miteinander integriert würden.

Beide können dadurch nicht genutzt werden und haben somit eher assoziativen Charakter.

lungen als Anfangspunkt einer kontextuellen Theologie begreift (48, 50). Das ist die Situation der klassischen Heidenmission. Dies ist aber nicht der Fall, wenn schon christliche Praxis „vor Ort“ existiert, welche neue Impulse von außen transformiert. Die „paradoxen, verwirrenden und auch schmerzvollen Konse-quenzen“ (50) einer Kontextualisierung kommen doch gerade dadurch zustande, dass eine lokale Praxis gut verankert ist, den Interessen der Akteure entspricht und die von außen kommenden Impulse wirksam verändert. Schreiters Programm scheint mir hingegen die planvolle Kontextualisierung durch den „Seelsorger“ und die Verbindung der Ortskirche zur (katholischen) Universalkirche zu verfolgen. Ist diese Begrenzung klar, kann man die Impulse Schreiters für kontextuelle Arbeit gewinnbringend aufnehmen.

Entscheidend an Schreiters Ansatz und meines Erachtens der wichtigste An-knüpfungspunk ist das Bemühen, eine fremde Kultur von innen her, mit deren eigenen Augen (69) sehen zu wollen; dies aber nicht durch die Zauberkraft von Intuition und Empathie, sondern methodisch kontrolliert. Mit anderen Worten:

Es ist klar, dass hier ein akademischer, „westlicher“ Theologe explizit mit seinen Mitteln zu verstehen sucht. Das bürgt für Redlichkeit und das Ernstnehmen der eigenen kontextuellen Bedingtheit. Es geht ihm u.a. darum, die wichtigsten

„Themen“ einer Kultur und deren Entstehung zu finden. Was die Theologie im Besonderen angeht, so beschränkt er sich nicht auf schriftliche oder gar akade-mische Produktion. Theologen können Viele sein: Propheten, Dichter, Weise, Priester, Gemeinden und auch Professionelle (36 ff.). Die Sprache der Theologie ist vielfältig: schriftliche Abhandlungen, Gedichte, Riten, Mythen, Erzählungen, Tänze, Filme usw.

Wenn man diese Vielfalt vom Ausgangspunkt akademisch fundierter Theologie her betrachtet und sie gemäß dem schreiterschen Kriterium der Ganzheitlichkeit interpretieren will, stellt sie erhebliche methodische Anforderungen.

Nach einer Kritik von funktionalistischen, ökologischen und materialistischen sowie strukturalistischen Ansätzen der Kulturwissenschaft entscheidet sich Schrei-ter für Semiotik – und damit für alle entsprechenden Probleme. Die Semiotik als Wissenschaftszweig ist recht diffus und eben vor allem auf Zeichensysteme ge-richtet. Die soziale Dimension wird durch Kombination mit anderen Wissen-schaften eingeführt. Schreiter nimmt dementsprechend vielerlei Anstöße unter-schiedlicher Schulen auf.58 Auf diese Weise bleiben viele Ansätze recht unverbun-den nebeneinander stehen und man fragt sich, wie das in einer Untersuchung

59 Schreiter: Theologies 62, 69 f.; vgl. deutsch Schreiter: Abschied 103, 113 f. Die zung von domaine mit „Domäne“ ist ungeeignet, wie man vor allem auf S. 103 der Überset-zung feststellen kann. Ich werde „Bereich“ sagen.

operationalisiert werden soll. Nichts desto weniger gelingt es Schreiter unter jedem seiner Kriterien interessante theoretische Impulse aus der Semiotik aufzunehmen.

Dem Kriterium der Ganzheitlichkeit einer Analyse sucht Schreiter vor allem durch das Konzept der „semiotic domains“59 zu entsprechen. Diskurse bestimm-ter Lebensbereiche bilden solche domains; zum Beispiel Politik, Wirtschaft, Familie etc. Jeder semiotische Bereich ist von einer (oder mehreren?) besonders starken Metapher beherrscht, der „root metaphor“ (Victor Turner); zum Beispiel „Markt“

im Bereich der Wirtschaft. Eine solche root metaphor ist etwas, das jeder versteht, der mit dem entsprechenden semiotischen Bereich vertraut ist.

Ich halte insbesondere die Idee der root metaphor für sehr fruchtbar im Blick auf die Relationierung unterschiedlicher gesellschaftlicher Felder und die Binnen-strukturierung eines jeden. Leider fehlt bei Schreiter aber eine Methode zur Entzif-ferung der Zeichensysteme und zur Verbindung der domains untereinander. Dafür ist der Bezug auf Einzelmetaphern als Bindeglieder zu zufällig. Allerdings sind die Begriffe der Metapher oder des Symbols operationalisierbar, wenn Zeichen und Handlungen besser miteinander vermittelt werden. Dazu bräuchte man aber eine handlungsorientierte Feldtheorie (zum Beispiel die von Bourdieu), welche Zeichen als Handlungsweisen, genauer: Operatoren, integriert.

Schreiters Identitätsbegriff kommt nicht aus der Semiotik. Das macht die Ver-bindung zu den anderen Theorieelementen schwierig. Dementsprechend arbeitet der Autor mit zwei Ansätzen mehr oder weniger parallel. Einerseits versteht er Identitätsbestimmung von den Grenzziehungen her, im Sinne einer Unterschei-dung von innen versus außen: ein sozialer Prozess. Andererseits gehören be-stimmte semiotic domains zum Innenfeld einer Identität und beschreiben sie: eine semiotische Struktur. Das ist von der grundlegenden Idee her eine interessante Kombination von zwei unterschiedlichen Ansätzen. Allerdings sind die Ansätze meines Erachtens zu wenig miteinander vermittelt.

Man kann dagegen – praxeologisch gedacht – Identität auch von innen her bestimmen. Dazu fasst man semiotic domains als implizit und gemäß bestimmten gesellschaftlichen Praxisfeldern organisierte praktische Logiken von Akteuren auf und analysiert sie im Detail. Dann können die Grenzbestimmungen organisch von der praktischen Logik gesellschaftlicher Akteure her vorgenommen werden. Die Innen-Außen-Differenz ist so nicht einfach nur theoretisch vorgegeben, sondern empirisch als inhaltlich bestimmte Differenz zwischen Akteuren benennbar. Mit anderen Worten: Ein Baptist ist sicher nicht zunächst deshalb ein Baptist, weil er nicht Katholik sein will, sondern weil ihm am Baptistsein etwas gefällt. Bourdieus Theorie, die Feld, Habitus und praktische Logik integriert, hilft mit einer

ent-sprechenden methodischen Operationalisierung in der Identitätsproblematik meines Erachtens wesentlich weiter. (Vgl. Schäfer: Theorie)

Wandel (114 ff.) kommt bei Schreiter vor allem als Transformation von Zeichen-systemen in den Blick. Das ist unter der Voraussetzung eines semiotischen An-satzes zu erwarten. Schreiter blickt von außen auf Kulturen als Ganzes; er geht nicht weiter zur Innenperspektive. Brauchbare Operationalisierungen fehlen also auch hier. Der Hinweis, man solle auf Metaphern achten, die den Wandel benennen (116) zeigt nur die Außenperspektive. Es kommt auf die Metaphern an, mit denen bzw. durch die sich der Wandel ereignet.

Wandel kann natürlich als Transformation von Zeichensystemen beschrieben werden. Das hat seinen guten Sinn und ist wichtig für die Theologie. Aber erstens braucht man eine bessere Operationalisierung für die empirische Arbeit. Und zweitens hat Wandel mit dem Handeln von Akteuren, ihren Interessen, ihren Strategien und (symbolischen und materiellen) Einsätzen sowie mit ihrer Macht in den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen zu tun. Dieser Dynamik sind Zei-chen als Handlungen unterworfen, denn ZeiZei-chen existieren nicht außerhalb sozia-ler Relationen. Das gilt natürlich auch und vor allem für Metaphern, die Wandel erzeugen.

Schreiter erwähnt die Unbewusstheit der semiotischen Regelsysteme (84 f.) im Rückgriff auf die russische Semiotik der Tartu-Schule. Für alle drei Kriterien – Ganzheitlichkeit, Identität und Wandel – scheint mir dies Theorem von besonde-rer Bedeutung. Laut Tartu-Schule befinden sich die semiotischen Regelsysteme als generative Strukturen im Gedächtnis der Akteure (93). Schreiter arbeitet diesen Gedanken allerdings nicht aus. Von dieser Annahme ausgehend hätte er jedoch alle drei zentralen Forschungsbereiche unter einer gemeinsamen theoretischen Voraussetzung angehen können.

Man hätte nämlich den engeren Bereich der Semiotik als Zeichentheorie verlassen und zu einer „Soziologie der symbolischen Formen“ (Bourdieu) überge-hen können. Diese unbewussten generativen Strukturen können praxeologisch als Netze der zugleich individuellen wie kollektiven Wahrnehmungs-, Urteils- und Handlungsdispositionen von Akteuren aufgefasst werden, welche sich über die praktische Logik der gesellschaftlichen Felder direkt mit den Relationen des Handelns und der gesellschaftlichen (Macht-) Strukturen vermitteln lassen. Anders herum gesagt: die gesellschaftlichen Relationen erweisen sich so als direkt inhalt-lich relevant für inkorporierte Zeichensysteme, auch theologische.

Zusammenfassend lässt sich sagen: Schreiters zentrale Forderung ist, eine fremde Kultur mit deren eigenen Augen zu sehen, und zwar metho-disch reflektiert und nicht mit den Wundermitteln der Intuition. Für die

60 Vgl. Schäfer: Theorie, mit einem solchen Modell und entsprechender Theorie.

Validität von Beschreibungstheorien etabliert er die Kriterien Ganzheit-lichkeit, Identität und Wandel.

Dem Kriterium der Ganzheitlichkeit versucht er durch die semiotischen Theorien der semiotic domains und der root metaphors zu entsprechen. Das recht unverbundene Nebeneinander von Zeichensystemen und Handeln in der Semiotik kann freilich durch diese Theorien nicht behoben werden.

Aber diese Theorieelemente können leicht in die praxeologische Feld- und Habitustheorie aufgenommen werden und dort die Relation von Zeichen und Handlungen präzisieren helfen (wenngleich Praxeologie auch ohne diese Elemente gut auskommt).

Identität beschreibt Schreiter auf zwei Weisen: über die Abgrenzungs-funktion und eine semiotisch gefasste inhaltliche Bestimmung. Diese bleiben wiederum unverbunden. Ausgehend von der Theorie der im Habi-tus abgelagerten Strukturen der praktischen Logik können Identitäten allerdings auf eine überzeugende Weise integral beschrieben werden, unter systematischer Einbeziehung sowohl von Identitätskonstruktion vermittels Zeichen als auch vermittels Abgrenzungen. Inhalte und Abgrenzung sind in ein und demselben praxeologischen Identitätsmodell leicht modellierbar.60 Den gesellschaftlichen Wandel fasst Schreiter als einen Wandel von Zeichensystemen auf. Aus praxeologischer Sicht kann Wandel dargestellt werden auf der Grundlage einer Beschreibung von Machtverhältnissen, Interessenlagen und Strategien der beteiligten Akteure – und zwar unter explizitem Bezug auf die Vermittlung des Wandels in den Zeichensyste-men der praktischen Logik. Zeichen werden dabei selbst als „Handlun-gen“, genauer: Operatoren, begriffen, die in Prozessen des Wandels Wir-kung zeigen.

Wenn man davon ausgeht, dass in Zeichen gefasste Regelsysteme gesell-schaftlich erzeugt und implizit (unbewusst) in den Akteuren wirksam sind, hat man damit einen archimedischen Punkt, um Schreiters drei Kriterien für eine hinreichende Beschreibung zu erfüllen: Ganzheitlichkeit des methodischen Zugangs, Analyse von Identitätsbildung und Beschreibung von Wandel. Dies leistet eine in der Analyse von praktischer Logik opera-tionalisierte Theorie des Habitus (der praktischen Logik, der gesellschaftli-chen Praxisfelder und der Praxisformen) weit besser als jede Semiotik.

Praxeologische Theorie ist in diesem Sinne ganzheitlich, interpretiert Identitäten und deutet Wandel. Und sie bleibt keineswegs bei einer

kultur-61 Solch einen Versuch könnte ich natürlich unternehmen. Er würde sich jedoch nur in die lange Reihe von Kulturdefinitionen einordnen, die Kroeber/Kluckhohn: Culture, bereits vor Jahrzehnten zusammengestellt haben und die sicher noch stark angewachsen ist.

wissenschaftlichen Perspektive stehen, sondern vermittelt ihre Erkennt-nisse mit der Theologie.

Robert Schreiter hat für die kontextuelle Theologie eine sehr wichtige Arbeit geleistet. Er hat in die Theologie ein neues Vokabular eingeführt.

Doch man kann immer noch ein bisschen mehr tun.