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B. Ansätze kontextueller Theologie

1. Interkulturelle Erfahrungsfelder

Interkulturelle und kontextuelle Theologie sind eng miteinander ver-knüpft. Die Begegnung mit fremden, ungewohnten theologischen Ansät-zen macht die eigene Relativität bewusst und entwickelt Sensibilität für die Voraussetzungen fremden und eigenen Denkens. Insbesondere unter den Bedingungen kultureller Globalisierung beeinflusst schon der bloße inter-kulturelle Kontakt (ob gewollt oder nicht) die Wahrnehmung des Eigenen.

Vor allem die eigene Kontextabhängigkeit und Relativität werden deutlich.

Für die Hervorbringung von Theologie wird dies in doppelter Weise relevant: explizit in der interkulturellen Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Theologien; implizit in der jeweiligen Bestimmtheit durch unbemerkt wirksames kulturelles Erbe oder auch durch stillschweigendes Misstrauen. Im Blick auf das Verstehen fremder Theologien ist es der fremde Kontext, der überhaupt erst einen Ansatz für das Verstehen bietet.

Alles in allem wird es in diesem Rahmen schnell plausibel, dass die Berück-sichtigung des gesellschaftlichen bzw. kulturellen Kontexts für die Wahr-nehmung und die Produktion von Theologie wichtig ist.

Exkurs: Zur Literatur aus der Diskussion um interkulturelle und kontextuelle Theologien

Im folgenden Literaturbericht werde ich das Gewicht auf kontextuelle Theologie in interkultureller Perspektive legen. Allerdings haben auch vermeintlich rein

„lokale“ Theologien eine passive und/ oder aktive interkulturelle Dimension. Jede Theologie im „globalen Dorf“ oder im „Haushalt“ der oikumene ist immer auch durch Andere schon mitbestimmt.

Vgl. zur regen Diskussion um interkulturelle und kontextuelle Theologie Collet:

Theologien, Collet: Bemerkungen, Gern: Bausteine, Gern/Ustorf: Europa, oder auch den an Jochen Margull: Überseeische Christenheit I und II, anknüpfenden Forschungs-bericht Überseeische Christenheit III mit Beiträgen von Brandt, Dehn, Dockhorn, Kamphausen, Lienemann-Perrin, Löffler und Ustorf. Die Arbeit des Evange-lischen Missionswerkes e.V. in Hamburg (zum Beispiel Evangelisches Missions-werk: Theologie, mit Beiträgen von Blaser, Lenkersdorf, Dussel, Cone, u.a.) fördert die Diskussion um kontextuelle Theologie ebenso wie die des Missionswissen-schaftlichen Instituts Missio e.V. in Aachen; vgl. Missio: Jahrbuch, seit 1993 und die Bibliographie zur kontextuellen Theologie weltweit in Missio: Kontext, seit 1979.

Zum Dialog mit der Dritten Welt vgl. Metz/Rottländer: Lateinamerika. Eine sehr

spezifische, aber signifikante Auseinandersetzung zwischen deutscher Diskurs-ethik und BefreiungsDiskurs-ethik findet sich dokumentiert u.a. in Fornet-Betancourt:

Ethik, Fornet-Betancourt: Diskursethik, und Fornet-Betancourt: Kritik. Blaser:

Volksideologie, diskutiert kontextuelle Theologie kontrovers in Gegenüberstellung zur Barmer Theologischen Erklärung; ähnlich Sauter: Kontext. Zu dieser Diskussi-on auch Evangelisches MissiDiskussi-onswerk: Barmen. Ebenfalls sei verwiesen auf viele der laufenden Forschungen, die von Mitgliedern der Arbeitsgemeinschaft Ökumeni-sche Forschung (vgl. Werner: Arbeitsgemeinschaft und die jährlich folgenden Be-richte in der Ökumenischen Rundschau) durchgeführt werden. Eine wichtige Arbeit zu den ethnopsychologischen Voraussetzungen interkultureller und kontextueller Wahrnehmung liegt vor mit Kayales: Gottesbilder. Mittlerweile gibt es auch ein-schlägige Lexikonartikel, wie zum Beispiel Schreiner: Theologie, Pobee: Theology, Waldenfels: Theologie, Friedli: Theologie und Löffler: Theologie. In der deutschen theologischen Diskussion wird – als Folge des Stichwortes der „Tertiaterranität des Christentums“ (Margull) – Kontextualität häufig als Spezifikum der Theolo-gien der Dritten Welt und als Herausforderung an uns thematisiert (vgl. Kamp-hausen/Löffler/Ustorf: Theologie). Hans Waldenfels: Fundamentaltheologie, hat diese Herausforderung mit einem eigenen Entwurf kontextueller Theologie aufgenom-men.

In der angelsächsischen Literatur über kontextuelle Theologie ist generell eine engere Verbindung zum missionarischen und apologetischen Interesse spürbar.

Inkulturation, Indigenisierung und Kontextualisierung sind unterschiedliche Weisen, die Propagierung des Evangeliums zu betreiben. Die Rolle von Kultur (und damit Kulturwissenschaft) für die Missionierung wurde bereits von Eugene Nida in den fünfziger Jahren programmatisch vertreten (vgl. zum Beispiel Nida:

Mission, Nida: Relationships, oder Nida: Selection). Methodische Aspekte diskutiert die Fuller-Dissertation von Haleblian: Contextualization, oder auch der Band von Hesselgrave/Rommen: Contextualization. Ein interessanter Diskussionsband liegt vor mit dem zweiten Band der Boston Theological Institute Annual Series von Ruy O.

Costa: Faith, der Beiträge zu verschiedensten Aspekten kontextueller Theologie versammelt; im Großen und Ganzen bleibt aber auch diese Diskussion bei Kon-textualisierung als einer besonderen Form der Anwendung stehen, vgl. etwa Costa:

Inculturation. Max Stackhouse: Apologia, setzt sich auf der Grundlage eines Diskus-sionsprozesses kritisch mit kontextuellen Theologien auseinander. Stephen Be-vans: Models, stellt verschiedenste Ansätze kontextueller Theologie vor und disku-tiert sie kritisch. Robert Schreiter: Theologies (dt. Schreiter: Abschied) legt eine systematische Reflexion über Kontextualität von Theologie vor. Die beiden letztgenannten Werke gehen weit über den apologetischen Rahmen hinaus.

Aus der Perspektive der Dritten Welt möchte ich hier zunächst hinweisen auf die Arbeit der Ecumenical Association of Third World Theologians (EATWOT). Doku-mente der Arbeit finden sich auf deutsch u.a. in Bertsch: Herausgefordert,

Tor-res/Fabella/Appiah-Kubi: Evangelium. Sitzungsberichte auf englisch in Tor-res/Eagleson: Americas, Abraham: World, Appiah-Kubi: Africa, Fabella: Asia, Fabella/Torres: Doing, Torres/Eagleson: Challenge, Torres/Fabella: Gospel; und Sekundärliteratur zur Arbeit von EATWOT in Dussel: Theologien, Evers: Europa, Luchetti: Bekehrung, Oduyuye: Passion, Okure: Oaxtepec, Torres: Konferenz.

Ein exzellenter Überblick über theologische Positionen der Dritten Welt findet sich in Theologien der Dritten Welt (Concilium, 1988, 5) mit Beiträgen von Boff, Mveng, Balasuriya, Santa Ana, Cone, Rayan, Luchetti Bingemer, Torres, Foliard, Richard, Chung u.a. Ähnlich auch International Review of Mission: Context. Vgl.

auch den Reader von Diane: Theologies. Biographien von Befreiungstheologen finden sich in Waldenfels: Theologen. Zur lateinamerikanischen Befreiungstheologie vgl. in deutscher Sprache die Dokumente der Bischofskonferenz in Medellín in Adveniat: Medellín, und u.a. die folgenden Werke: Gutiérrez: Theologie, Míguez Bonino: Theologie, Clodovis Boff: Praxis, Croatto: Bibel, Dussel: Herrschaft, Collet:

Christus, und zur ökonomistischen Strömung Assmann/Hinkelammert: Götze. Zu Asien allgemein vgl. Pieris: Asien, Pieris: Liebe, und Balasuriya: Befreiungstheologie;

Battung: Theologie, und Beltran: Theologie, zu den Philippinen; Ahn: Tor, Moltmann:

Minjung, zu Korea; Song: Theologie aus chinesischer Perspektive; M.M. Thomas:

Christus, aus indischer. Link-Wieczorek: Reden, zu Afrika und Asien im Vergleich.

Zu Afrika vgl. Bujo: Theologie; auch Rücker: Theologie, bei dem Unterschiede zur Befreiungstheologie deutlich werden, und Mveng: Befreiungstheologie, der diesen Akzent für Afrika setzt. May: Christus, als ein Entwurf aus dem pazifischen Raum.

Zu verschiedenen Christologien von Frauen in der Dritten Welt vgl. Strahm: Rand und zu den Gottesbildern Kayales: Gottesbilder.

Aber auch in den USA und Europa haben sich kontextuelle Theologien ent-wickelt. Zu Befreiungstheologien in den USA vgl. Cone: Gott, und Folliard: Litera-tur. Zu Europa vgl. Casalis: Ideen, Dirks: Gefahr, Eicher/Mette: Seite, Schott-roff/Schottroff: Gott, und aus lutherischer Perspektive Becker: Kontext, mit Beiträ-gen von JürBeiträ-gen Becker, Gerhard Sauter, Roman Roessler, Michael Trowitzsch, Friedrich Hauschildt und Walter Altmann. Eine kontextuelle Barth-Interpretation legte Klappert: Versöhnung, vor. Eine ökumenische Missionstheologie in kon-textueller Perspektive bietet Werner: Mission. Klaus Koschorke: Kontextualität, zieht Konsequenzen aus der Diskussion für die Kirchengeschichtsschreibung, Norbert Mette: Theologie, für die praktische Theologie, allerdings beschränkt auf die Per-spektive des Befreiungsmodells. Besonders unterstreichen möchte ich als Beiträge besonderer Art den hervorragenden Artikel von Hollenweger: Kontext, sowie seine Trilogie Hollenweger: Leibhaftigkeit, Hollenweger: Mythen, und Hollenweger: Geist.

Und schließlich kann auch feministische Theologie als kontextuelle und Befrei-ungstheologie aufgefasst werden, vgl. Jost/Kubera: Farben, Kassel: Theologie, und Fabella/Lee: Dream.

Was die inhaltliche Ausrichtung der verschiedenen Theologien angeht, so sind die Einflüsse der verschiedenen Kontexte sehr deutlich. Ein kurzer Überblick auf der Grundlage von Gern: Bausteine, und Gern/Ustorf: Europa, mag das verdeutli-chen.

In Asien hat die philippinische Befreiungstheologie viel Ähnlichkeit mit der lateinamerikanischen. Der politische Kontext steht im Vordergrund, zum Beispiel in der Theologie aus jesuanischer Perspektive von Carlos Abesamis: Analyse des Leidens des Volkes, die Bibel als Dokument des Befreiungshandelns Gottes, das Volk als Subjekt von Theologie und die Nachfolge als Teilnahme an der Befrei-ung. Dieser Ansatz wird noch zugespitzt in der Theologie des Kampfes bei Edicio de la Torre. Koreanische Minjung Theologie, etwa von Ahn Byung-mu, hat ebenfalls einen stark politischen Blickwinkel; der Begriff des Volkes (ochlos) und seiner Leiden ist zentral; der Tod Jesu ist Beginn der Befreiungsgeschichte. Ganz anders setzt der Chinese Choan Seng Song an, wenn er das kulturelle Erbe des Volkes aufnimmt, um Erfahrungen und Hoffnungen des gedemütigten Volkes auf Chris-tus zu beziehen. Tissa Balasuriya aus Sri Lanka setzt dem westlichen Universalitäts-anspruch eine planetarische Theologie auf dem Hintergrund der asiatischen Tradition des religiösen Pluralismus entgegen. Sein Landsmann Aloysius Pieris greift ebenfalls asiatische, genauer: buddhistische, Tradition auf und kombiniert sie mit einer jesuanisch begründeten Christologie der Armut und des Kampfes mit den Armen, die explizit im Einklang steht mit buddhistischer Lehre. M.M. Thomas aus Indien stellt in seinen Arbeiten ebenfalls immer wieder die Frage nach einer möglichen Verbindung des asketischen Ideals Indiens mit dem Christentum. In buddhistischer (nicht shintoistischer) Tradition arbeitet der Japaner Katsumi Taki-zawa über Transzendenzproblematik im Gespräch mit der Dialektischen Theolo-gie; und Seichi Yagi stellt grundlegende onto-theologische Reflexionen über Gott und Wahrheit an.

In Afrika zeigt sich ebenfalls eine deutliche Differenz zwischen politisch und kulturell orientierten Theologien. Die südafrikanischen Theologien, zum Beispiel von Allan Boesak und Frank Chicane sind von der politischen Frontstellung gegen die Apartheid gekennzeichnet und haben einen starken Akzent auf Befreiung.

Akzent auf den Befreiungskampf legt auch Teresa Okure aus Nigeria. Canaan Banana (Zimbabwe) stellt auf diesem Hintergrund methodologische Reflexionen an, die Verortung der Reflexion in der Praxis fordern. Kulturelle Praxis in Afrika ist stark von der Ahnenverehrung durchdrungen. Vor allem westafrikanische Theologen setzten einen Schwerpunkt auf diese Frage. Jean Marc Ela sucht die Sprache des Glaubens bei den Bauern und den Armen; dazu gehört, die Gemein-schaft mit den Ahnen in die GemeinGemein-schaft der Heiligen mit einzuschließen. Für Benezet Bujo ist Christus der „Proto-Ahn“. O. Bimwengi-Kweshi arbeitet in erkennt-nistheoretischen Überlegungen die Tradition als grundlegenden Parameter afrika-nischen Denkens heraus. Das Denken selbst sei dialogisch, symbolisch, auf Kon-kretes bezogen. Auf jeden Fall beansprucht es einen eigenständigen afrikanischen Weg zur christlichen Theologie.

48 Vgl. auch die Sektion über neuere Ansätze in der Einleitung.

In Lateinamerika setzt man in der Theologie einen starken politischen und ekklesiologischen Schwerpunkt. Erst in jüngerer Zeit kommen Fragen kultureller Identität zur Sprache. Gustavo Gutiérrez hat nach seinem Grundlagenwerk mit stark politischem Fokus stärker auf die Frage der Evangelisation abgehoben. Für Leonar-do Boff war neben der politischen Dimension der Befreiung die ekklesiologische Dimension in der Auseinandersetzung mit dem Vatikan von besonderer Bedeu-tung. Jon Sobrino konzentriert sich auf die Verankerung der Ekklesiologie bei den Armen und eine Zivilisation der Armut als Waffe gegen die Verzweiflung. Eine wichtige Tendenz ist die Verschränkung von Ökonomie und Theologie, für die vor allem Franz Hinkelammert, Hugo Assmann und Enrique Dussel stehen. Aus dieser Perspektive spielt die Kapitalismuskritik – etwa über den Idolatrie-Begriff – eine zentrale Rolle. Der Fokus ist das „System“, welches die Armen (bzw. neuerdings

„das Subjekt“) erdrückt. Sehr nahe an diesem Ansatz entwickelt die Methodistin Elsa Tamez eine Befreiungstheologie aus feministischer Perspektive; ähnlich, aber stärker an kulturellen Fragen orientiert, Ivonne Gebara in Brasilien. Christologie und Martyrium spielen in der lateinamerikanischen Theologie eine wichtige Rolle, besonders ausgearbeitet durch den Jesuiten Jon Sobrino. In neuerer Zeit zuerst wohl von José Comblín, wird der Pneumatologie mehr Aufmerksamkeit geschenkt. Der Brasilianer Paulo Suess steht für die Perspektive auf Kultur: Inkulturation des Evangeliums ist nötig mit Respekt vor den einheimischen Kulturen, aber mit Ausrichtung auf Befreiung.

Ansätze kontextueller Theologie in Europa findet Wolfgang Gern u.a. bei Ulrich Duchrow in der Kritik am Weltwirtschaftssystem, bei Konrad Raiser aus der Praxis der Ökumene heraus, bei Walter Hollenweger mit seinem Programm narrati-ver und interkultureller Theologie, bei Georges Casalis, der eine induktive Theologie aus der Nachfolgepraxis vorschlägt sowie Hans Waldenfels mit seiner kontextuellen Fundamentaltheologie, die Kontext vom „Sitz im Leben“ her versteht.48

Bei Gern und Ustorf findet sich noch kein Hinweis auf die Theologie des pazifischen Raumes, zum Beispiel John D‘Arcy May oder Dick Avi mit ihrer Beto-nung der Schöpfungstheologie.

Die enge Verknüpfung interkultureller und kontextueller Theologie ist in theoriegeschichtlicher und systematischer Hinsicht interessant. Inter-kulturelle Theologie widmet sich zunächst dem Verstehen einer anderen, in einem fremden Kontext entstandenen Theologie. Ähnlich wie in der Ethnologie, nur später, entwickelte sich so auch in der Theologie ein Bewusstsein der eignen Relativität und kulturellen Bedingtheit durch den Kontakt mit Fremdem auf gleicher Ebene; genauer: mit fremden Christen,

49 Vgl. Ebeling: Dogmatik I,11, über Dogmatik, als „systematisch verfahrende(r) Rechen-schaft über den christlichen Glauben“.

50 Vgl. hierzu vor allem Bevans: Models, und Schreiter: Abschied 23 ff. Irrelevant für unsere Diskussion ist das „translation model“. (Was Schreiter: Theologies 9 ff., „adaptation model“

nennt, rechne ich auch dazu.) Im Mittelpunkt des „Übersetzungsmodells“ steht die Über-tragung des Evangeliums in eine nichtwestliche Kultur; das soziologische Werkzeug ist funktionalistisch. Dieses Modell habe ich schon unter dem Stichwort der „Kontextualisie-rung“ kritisiert.

die anders Theologie treiben. Der Versuch, interkulturell zu verstehen, bildet damit theoriegeschichtlich sowie hermeneutisch und methodolo-gisch eine Vorstufe zu einem kontextsensiblen Selbstverständnis von Theologen und einer kontextbewussten Hervorbringung von Theologie.

Die Methoden interkulturellen Verstehens sind somit unmittelbar relevant für das Verstehen eigener Theologie und gehen in die Entwicklung von Methoden zur kontextbewussten Produktion von Theologie über.