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C. Praxeologie und Wissenschaft

1. Ökumene: zur Verwendung des Kulturbegriffs

Explizit kontextuelle Theologie operiert mit der Relation von Theologie und Kultur. In der Ökumene hat die Arbeit mit und die Diskussion um den Kulturbegriff seit langem eine wichtige Stellung. Deshalb legt es sich nahe, dass ich meinen eigenen Ansatz kontextueller Theologie in dieser Diskussion verorte.

Allerdings: Den Kulturbegriff der Ökumene gibt es nicht. Aber es lässt sich vielleicht so etwas wie ein zentraler Bestand von Vorstellungen benennen, der sich in ökumenischen Schlüsseltexten62 mit dem Begriff „Kultur“

verbindet.

Als Bezugsgrößen des Kulturbegriffs werden „Gesellschaft“, „Volk“

oder „ethnische Gruppe“ genannt. Man geht also davon aus, dass sich bestimmte Kulturen auf abgrenzbare „Räume“ beziehen. Faktisch werden diese Binnenräume von Kulturen in den Texten theoretisch konstruiert, je nach den vorherrschenden Erkenntnisinteressen. Deshalb sollte man nicht den Fehler begehen, diese Räume für ontologisch gegeben zu halten. Der Begriff der Kultur in den analysierten Texten bezieht sich also auf theore-tisch konstruierte gesellschaftliche Räume und bezeichnet sie als ganze.

Bezogen auf diese Räume wird Kultur dementsprechend als „geschlos-senes Ganzes“, „Sinnzusammenhang“, „System“ oder „Rahmen“ bezeich-net, der „Identität“ und „Überleben“ ermöglicht. Man unterstellt also, dass

63 Vgl. Duraisingh: Hope 31.

64 Dieser Bezug wurde in Neu Dehli 1961 und Bangkok 1973 hergestellt. In den späteren Texten wurden die Elemente gesellschaftlicher Güterproduktion und Institutionalität nicht mehr erwähnt. Nahm mit einer zunehmenden expliziten Politisierung der Diskussion auch der Idealismus wieder zu?

Kultur dem gesellschaftlichen Raum eine innere Strukturierung verleiht, die es ermöglicht, die Relationen innerhalb dieses Raumes – jedenfalls annä-hernd – als Sinnganzes zu erfahren; mindestens aber unterstellt man, dass in einem solchen Raum eine einigermaßen folgerichtige Logik funktioniert.

Diese Logik zielt auf praktische Effekte: „Identität“ und „Überleben“ der jeweiligen Bezugsgröße (Gesellschaft, Volk etc. ). Entsprechend der prakti-schen Orientierung dieses Kulturbegriffs wird hervorgehoben, dass Kultu-ren historisch bedingt sind und sich in dauerndem Wandel befinden sowie im Austausch mit anderen Kulturen. Der Kulturbegriff bezieht also die Variabilität der inneren und äußeren Relationen ein, welche eine Kultur ausmachen.

Die inneren Relationen werden sehr vielfältig beschrieben. Alltagssprach-lich (!) könnte man von folgenden Bereichen sprechen, die in den De-finitionen immer wieder vorkommen: das Geistige (1), die Institutionen (2), die Lebensführung (3), verschiedene Felder des Kulturschaffens (4) sowie die Erstreckung von Kultur in der Zeit (5).

1) Im Raum einer Kultur spielen eine wichtige Rolle: „Ideen“, „Denk-weisen“, „Wertvorstellungen“, „Weltanschauungen“, „Symbole“, „Spra-che“.63 Man geht also davon aus, dass gesellschaftlichen Akteuren ko-gnitive und axiologische Strukturen inkorporiert sind, und zwar als deren spezifische Art und Weise, die Welt zu sehen. Über die Entstehung dieser kognitiven Strukturen wird nichts gesagt.

2) Des weiteren werden „Institutionen“ und „soziale, politische und wirtschaftliche Strukturen“ genannt.64 Man berücksichtigt also durchaus die gesellschaftliche Produktion und Verteilung von wirtschaftlichen Gütern, Macht und Einfluss, welche in Institutionen verschiedenster Art objektiviert sind. Über deren Verhältnis zu den Weisen des Wahrnehmens und Denkens gibt es indes keine Auskunft. Dies zeigt eine mangelnde Vermittlung von Zeichengebrauch, Handeln und Institutionen. Das wie-derum lässt auf implizite Axiome des Denkens schließen, die älterem Vokabular entsprechen: geistig versus materiell, Abbildtheorie der Er-kenntnis etc. Gerade die Vermittlung von Zeichen, Handeln und

Institu-tionen ist aber für praxeologische Theorie und kontextuelle Theologie von zentraler Bedeutung.

3) Einen sehr hohen Stellenwert in den ökumenischen Definitionen von Kultur hat das menschliche Handeln und seine grundlegenden Struk-turierungen. „Ethos“, „Lebensgewohnheiten“, „Konventionen“, „Sitten“,

„Gebräuche“, „Riten“, „Lebensgestaltung“, „menschliche Beziehungen“

werden als zentrale Elemente von Kultur genannt. Dies markiert das Eindringen neuen Vokabulars in die ökumenische Rede von Kultur. Der Ansatz beim Ethos verhindert – im Gegensatz zur o.g. Tendenz – eine sterile Gegenüberstellung der „materiellen“ und „geistigen“ Strukturen nach Art der Abbildtheorie des Bewusstseins. Im Ethos der Akteure verbinden sich nämlich die inkorporierten und objektiven Strukturen der Gesellschaft in der Weise, dass das Ethos zugleich als strukturiert und strukturierend angesehen werden kann. Bourdieus Begriff des Habitus trifft genau dies.

4) Die Definitionen benennen immer wieder gesellschaftliche Praxis-felder wie „Religion“, „Kunst“, „Literatur“, „Erzählung“, „Technik“,

„Musik“. Dabei ist in den ökumenischen Texten die Beziehung zwischen Institutionen, Handlungen und Zeichen nicht geklärt. Es liegt aber auf der Hand, dass in diesen Feldern die Akteure entsprechend zu ihrem Ethos oder Habitus und den objektiven Strukturen eben dieser Felder handeln.

Auf diese Weise ergibt sich die Beziehung zwischen symbolischen und

„materiellen“ Strukturen über die Praxis der Akteure. Die Benennung der Felder erfolgt dabei scheinbar willkürlich. Ebenso wie beim gesellschaftli-chen Raum (1) ist diese scheinbare Willkür schlicht Ausdruck der legitimen Tatsache, dass diese Felder gemäß dem jeweiligen Erkenntnisinteresse konstruiert werden.

5) Kulturen erstrecken sich in der Zeit und wandeln sich. Demgemäß ist von „Traditionen“, „gemeinsamem Gedächtnis“, „Erbe“ und der Per-spektive der „künftigen Generationen“ die Rede. Zeit ist eine unabdingba-re Kategorie für das Verstehen menschlicher Praxis. Die ökumenischen Definitionen berücksichtigen auf ihre Weise die faktische Strukturierung des Ethos durch kollektive „Muster“ vermittels des Prozesses der Soziali-sation. Sie sind also anschlussfähig für eine Theorie, die mit einem Modell von zugleich kollektiven und individuellen Dispositionen der Wahrneh-mung, des Urteilens und des Handelns arbeitet. Darüber hinaus ist man aufmerksam auf die Bedeutung der Zukunftsprojektionen – also der wahr-genommenen Chancen und Begrenzungen des Handelns – für die Struktu-rierung gegenwärtiger Dispositionen.

65 Lediglich Nairobi (Krüger/Müller-Römheld: Nairobi) erwähnt für die Beziehung zwischen den Kulturen auch „Kulturimperialismus“.

66 Dazu im Zusammenhang mit Mission und Proselytismus vgl Schäfer: Witness, und verändert auf spanisch Schäfer: Proselitismo.

Die Beschreibung des „Binnenraumes“ von Kulturen in den ökume-nischen Definitionen reduziert sich somit auf die Benennung von Elemen-ten. In ihrer Gesamtheit – und insbesondere durch die spezielle Stellung von Ethos und Zeit – erwecken die Texte nicht den Eindruck einer onto-logischen Auffassung von Kultur als etwas Unveränderlichem und in feste Bereiche Eingeteiltem. Vielmehr scheint mir in diesen Texten eine rela-tionale Sicht der Gesellschaft bereits implizit, teilweise auch explizit, vor-handen zu sein. In diesem Sinne halte ich die relationale Sozialtheorie Bourdieus für anschlussfähig an die ökumenische Diskussion. Sie ist ge-eignet, wichtige Ansätze weiter zuzuspitzen.

Die Problematik von Macht und Herrschaft – aus der relationalen Sicht der Praxeologie von vornherein im Kulturbegriff berücksichtigt – spielt allerdings für die Wahrnehmung von Kultur in den ökumenischen Doku-menten eine bemerkenswert geringe Rolle.65 Gleichwohl artikuliert die ökumenische Bewegung immerfort ein starkes Interesse an Machtverhält-nissen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft.

Wenn es ihr offensichtlich noch schwerfällt, dieses Interesse in den Bereich der Kultur zu vermitteln, kann praxeologische Theorie die Verbin-dung unschwer herstellen. Die Beziehungen, die sowohl den Binnenraum einer Kultur hervorbringen als auch zwischen verschiedenen Kulturen existieren, sind asymmetrisch. Ungleichheit muss nicht immer Herrschaft bedeuten und schon gar nicht Machtausübung – sie kann es aber. Herr-schaft und Macht werden im praxeologischen Vokabular nicht als Eigen-schaften von (individuellen oder kollektiven) Subjekten verstanden, als deposita gewissermaßen. Die Begriffe qualifizieren Beziehungen zwischen Akteuren bzw. Positionen des gesellschaftlichen Raumes. Deshalb kann das praxeologische Vokabular alle Beziehungen – soziale, politische, reli-giöse, kulturelle usw. – in dieser Hinsicht zur Sprache bringen; bis hin zur symbolischen Herrschaft und Gewalt, die in den gesellschaftlichen Mecha-nismen der Anerkennung (Ehre) wirksam sein können.66

Die ökumenischen Texte, etwa der Bericht der Weltmissionskonferenz in San Antonio, sprechen von Kulturen als „sowohl gehorsame Antworten

67 Wietzke: Antonio 179; ähnlich Duraisingh: Hope 31.

auf den Willen Gottes als auch Ausdruck menschlicher Sünde (Hervorh.

HS)“67. Damit wird explizit theologisch über Kultur geredet. Dazu an dieser Stelle nur so viel: Aus unserer Perspektive sind Kulturen immer beides gleichzeitig. Eine Überhöhung von Kultur durch natürliche Theologie ist somit ebenso ausgeschlossen wie ihre offenbarungspositivistische Verteufelung. Theologie aus praxeologischer Perspektive ist auch an die-sem Punkt pragmatisch – und damit Luthers Zugang nicht unähnlich.

Im Blick auf die Verwendung des Kulturbegriffs muss allerdings noch folgendes differenziert werden. In den ökumenischen Texten bezieht sich der Begriff der Kultur auf so gut wie alle gesellschaftlichen Relationen.

„Kultur“ schließt also die gesamte gesellschaftliche Wirklichkeit ein. Damit werden Kulturen tendenziell als Gesamtheiten gegenüber anderen Kultu-ren gesehen. Dies liegt vermutlich am globalen Blick ökumenischen Den-kens. Kontextuelle Theologie aus praxeologischer Perspektive kann sich damit allerdings nicht zufriedengeben. Die Innenperspektive braucht genaue Unterscheidungen. Und hier gibt sowohl die Alltagssprache als auch die Sozialtheorie Bourdieus die Unterscheidung von Kultur versus Wirtschaft, Politik etc. vor; das heißt: Kultur als ein Praxisfeld versus andere Praxisfelder. Kultur ist auf dieser Sprachebene also eines von ver-schiedenen gesellschaftlichen Feldern. Beide Verwendungen des Kultur-begriffes scheinen mir sinnvoll und nützlich. Es hat außerdem keinen Sinn, hier eine Arbeitsdefinition vorzulegen, die sich im Gespräch über den vorliegenden Vorschlag und in der weiteren Verwendung des praxeologi-schen Vokabulars nicht durchhalten lässt. Ich verwende den Kulturbegriff deshalb auf beide Weisen:

1. In einer Verwendungsmöglichkeit meint „Kultur“ die Gesamtheit aller Traditionen, Praktiken, Diskurse, Institutionen usw. eines bestimmten Kollektivs im Unterschied zu einem anderen, zum Beispiel der japanischen Kultur im Vergleich zur lateinamerikanischen Kultur.

2. In der anderen Verwendung meint „Kultur“ ein bestimmtes Feld gesellschaftlicher Reproduktion (oder auch: Praxisfeld) im Unterschied zu anderen Feldern. Die Besonderheit des „kulturellen Feldes“ bestimmt sich somit im Unterschied etwa zum ökonomischen, zum politischen, zum rechtlichen usw. (Auch dies sind nur Konstruktionen gemäß dem Be-obachtungsinteresse.) Damit ist Kultur ein abgegrenzter gesellschaftlicher

Praxisbereich, der etwa Theater, Schriftstellerei, Verlagswesen etc. ein-schließt. Die Besonderheit des kulturellen Feldes liegt damit nicht in „geis-tiger“ Produktion im Gegensatz zu „materieller“ Produktion in anderen Feldern. „Geistige“ Produktion existiert auch in Politik und Wirtschaft;

andererseits werden in der Kunst auch ganz materielle Dinge wie etwa Statuen aus Bronzeguss hergestellt. Die Besonderheit des kulturellen Feldes liegt vielmehr in seiner Reflexivität. In kultureller Produktion (ge-mäß dieser zweiten Verwendung des Begriffs) richtet sich eine Gesellschaft auf sich selbst, auf die Gesamtheit ihrer inneren Beziehungen, sowie auf ihre Relation zu anderen Gesellschaften und Kulturen (jetzt in der ersten Verwendungsweise des Kulturbegriffs). Sprechen wir also vom „kulturel-len Feld“, so meinen wir die gesellschaftlichen Elemente von Reprodukti-on (Akteure wie etwa Theatergruppen, Arbeit wie etwa Denken, Schreiben und Malen, Produkte wie etwa Bücher, Inkorporiertes wie etwa Denk-weisen, Objektivierungen wie Titel, Institutionen wie zum Beispiel das Kino, die Oper, Verlage etc.), die einer Gesellschaft dienen, um über sich selbst zu reflektieren.

Keine der beiden Verwendungsweisen des Kulturbegriffs unterschei-det somit zwischen „geistig“ und „materiell“. Beide schließen Akteure, Arbeit, Institutionen usw. ein – nur eben in unterschiedlichen Hinsichten.

Es kommt darauf an, den Gebrauch des Begriffs zu beachten.

Damit ist die Bedeutung von Kultur für das kontextbewusste Ver-stehen und Hervorbringen von Theologie freilich erst thematisiert. Es ist noch nichts über die Vermittlung von Kultur bzw. Kontext mit Theologie gesagt. Bevor ich darauf aber im Sinne einer praxeologisch orientierten kontextuellen Theologie eingehen kann, muss der Ansatz noch theologisch abgegrenzt und verortet werden.

2. Dogmatik: Liberale Theologie, dialektische Theologie und