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C. Praxeologie und Wissenschaft

3. Hermeneutik: Hervorbringen und Verstehen von Sinn im Kontext

3. Hermeneutik: Hervorbringen und Verstehen von Sinn im

In den folgenden Zeilen möchte ich mich an dieses Spezifikum annä-hern, indem ich den praxeologischen Ansatz in zwei Hinsichten verorte.

Zunächst möchte ich ganz kurz eine Abgrenzung zu objektivistischen und subjektivistischen Denkansätzen vornehmen. Sodann möchte ich die Frage der kontextbezogenen Hervorbringung von Sinn und Bedeutung auf-nehmen. Im Blick auf unser Interesse an kontextueller Theologie halte ich die Auseinandersetzung mit der spezifischen Problematik von Zeichen, insbesondere in ihrer Form der „Rede“ (Ricoeur), für wichtig.

Auch wenn man kontextbewusst Theologie treiben will, bleiben Probleme von Objektivismus und Subjektivismus als Risiken relevant. Es reicht bei weitem nicht, sich mit Emphase von der „klassischen Theologie“

loszusagen und sich an Sozialwissenschaften zu orientieren, denn diese sind von ähnlichen impliziten Axiomen bestimmt. Die Vorstellung, die man sich davon macht, in welcher Weise Zeichen, Kultur und Erkennen aufeinander bezogen sind, ist für die Theologie von großer Bedeutung, denn davon hängt auch ab, was man unter Wahrheit versteht. Die Diffe-renz zwischen einer subjektivistischen und einer objektivistischen Sicht auf diese Zusammenhänge ist für die Verortung des praxeologischen Ansatzes wichtig.

„Objektivismus“ und „Subjektivismus“ zeichne ich hier in einer sche-matischen Weise, um nach beiden Seiten hin die Extrempole eines Konti-nuums der Auffassungen deutlich zu machen. Dies ist von Bedeutung im Blick auf die Grundlinien eines praxeologischen Ansatzes für kontextbe-wusste Theologie. Denn Praxeologie verarbeitet Impulse aus verschiede-nen Quellen beider Richtungen. Damit ist ein Blick auf die typischen Irrtumsanfälligkeiten beider Seiten eine heilsame Voraussetzung für die Herausbildung einer eigenen Position.

Exkurs: Zur Entstehung von Sinn aus objektivistischer und subjektivistischer Sicht

Objektivismus: Im Blick auf den Objektivismus sind es vor allem zwei Probleme, die uns beschäftigen werden: die Auffassung, der Sinn von Zeichen komme allein durch ihren Ort im Zeichensystem zustande, und die andere Meinung, der Sinn von Zeichen lasse sich als eine Widerspiegelung der gesellschaftlichen Verhältnisse in den Köpfen der Menschen hinreichend erklären.

77 Durkheim: Regeln 106. Zu diesen sozialen Sachverhalten gehört etwa, dass es Pflichten gibt, die „außerhalb meiner Person und der Sphäre meines Willens im Recht und in der Sitte begründet sind“ (105). Die Übereinstimmung mit solchen objektiven Regeln leitet Durkheim aus der Sozialisation ab. Dies wird – trotz aller Kritik an Durkheims Objektivis-mus – in Zukunft ein wichtiger Anknüpfungspunkt auch für Theorien des Handelns bleiben, die die sozialen Akteure stärker einbeziehen als dies bei Durkheim der Fall ist.

Der strukturalistische Objektivismus betrachtet – in Anlehnung an die Kon-zeption Saussures vom System der Sprache – als zentrale Aufgabe der Wissen-schaft vom Menschen im Allgemeinen, mindestens aber der Ethnologie, die aus der unbewussten Tätigkeit des Geistes hervorgehende, den menschlichen Lebens-vollzügen vorausliegende und sie bestimmende allgemeine geistige Struktur he-rauszuarbeiten. Entsprechend zum marxschen oder durkheimschen Objektivismus behandelt auch der Strukturalismus soziale Tatbestände wie Dinge. (Durkheim:

Regeln 115) Das läuft auf die Annahme hinaus, es gäbe „besondere Arten des Handelns, Denkens, Fühlens, deren wesentliche Eigentümlichkeit darin besteht, dass sie außerhalb des individuellen Bewußtseins existieren“77.

Für Lévi-Strauss in seiner einflussreichsten Schaffensperiode sind dies die objektiven und universalen Strukturen des menschlichen Geistes. „Wenn, wie wir meinen, die unbewußte Tätigkeit des Geistes darin besteht, einem Inhalt Formen aufzuzwingen, und wenn diese Formen im Grunde für alle Geister, die alten und die modernen, die primitiven und die zivilisierten dieselben sind – wie die Unter-suchung der symbolischen Funktion, wie sie in der Sprache zum Ausdruck kommt, überzeugend nachweist – , ist es notwendig und ausreichend, die unbe-wußte Struktur, die jeder Institution oder jedem Brauch zugrunde liegt, zu finden, um ein Interpretationsprinzip zu bekommen, das für andere Institutionen und andere Bräuche gültig ist, vorausgesetzt natürlich, daß man die Analyse weit genug treibt.“ (Lévi-Strauss: Anthropologie 35) Texte, Rituale und Gegenstände sind als Zeichen in Zeichensystemen vor allem um ihrer Strukturen willen interessant, von denen man annimmt, dass sie Homologien zu gesellschaftlichen Strukturen auf-weisen, welche eben darauf beruhen, dass „der menschliche Geist, wenn er bis in die Mythen hinein determiniert erscheint, es a fortiori überall sein muß“ (Lévi-Strauss: Mythologica I 24).

Unter einer solchen Voraussetzung erscheint Handeln als die Anwendung der als objektive, geistige Tatbestände existierenden Regeln des sozialen Lebens, etwa die der Verwandschaftssysteme. Die subjektiven Faktoren des Handelns ver-schwinden nahezu ganz unter den Vorgaben der objektiven Regeln. Dies auch dann, wenn Lévi-Strauss unter explizitem Rückgriff auf Marx einen Vermittler zwischen der Praxis und den auf sie gerichteten Praktiken einsetzt. Denn dieser Vermittler ist „das Begriffssystem..., durch dessen Wirken eine Materie und eine Form, die beide jeder unabhängigen Existenz ermangeln, sich zu Strukturen ausbilden, d.h. zu empirischen und zugleich intelligiblen Wesen“ (Lévi-Strauss:

Denken 154). Lévi-Strauss gesteht hier immerhin zu, „daß die Praxis vor den

Strukturen da ist“ (Ricoeur: Hermeneutik 69), und dass Letztere Überbau der Ersteren sind. Der spezifische Beitrag aber, den Lévi-Strauss zur marxschen Theorie des Überbaus geben möchte, liegt nun vor allem darin, den Überbau als ein System herauszuarbeiten. Dieses System baut auf konstitutive, paarweise gruppierte Einheiten auf und treibt die „Dialektik des Überbaus“ dadurch voran, dass es selbst (als System) „die Rolle des die Synthese zwischen Idee und Tatsache Vermittelnden spielen und die letztere wieder in ein Zeichen verwandeln wird. Der Geist geht auf diese Weise von der empirischen Vielfalt zur begrifflichen Ein-fachheit über, und dann von der begrifflichen EinEin-fachheit zur bezeichnenden Synthese.“ (Lévi-Strauss: Denken 155) Indem in die Analyse dieses vermittelnden Systems von Zeichen das Erbe der strukturalistischen Linguistik einfließt und kreativ weiterentwickelt wird, kommt eine mit dem Zeichenbegriff, der Homolo-gie, der Kommutation usw. virtuos operierende Analytik zustande, auf die auch Bourdieu zu analytischen Zwecken aufbaut – freilich auf der Grundlage einer vollständig anderen Vermittlung von Zeichen und Handeln.

Das Problem dieses Ansatzes liegt darin, dass Lévi-Strauss sich die Vermittlung von Praxis, Struktur und Praktiken als alleiniges Werk des Geistes denkt, ohne in die konkreten Bedingungen der Praxis eingebundene Akteure. Dass aber sogar die Person Claude Lévi-Strauss selbst sehr wohl in dieser Theorie vorkommt, wird deutlich in einem Gespräch mit Fritz Raddatz von Die Zeit. Hier nimmt der Struk-turalist Stellung zu folgendem Zitat seiner selbst, das der Interviewer ihm vorlegt:

„Jeder von uns ist eine Art Straßenkreuzung, auf der sich Verschiedenes ereignet.

Die Straßenkreuzung selbst ist völlig passiv...“ (Raddatz/Lévi-Strauss: Gespräch) Das Subjekt, der Akteur fehlt demnach in der Theorie völlig. Lévi-Strauss bestätigt dies und begründet u.a. wie folgt: „Mein ganzes Denken ist geprägt vom Fehlen des Gefühls persönlicher Identität.“ (ibd.) Damit ist der Akteur Lévi-Strauss aber deutlich da, und zwar als jemand, dessen persönliche affektive Kapazität über die Gestalt einer vermeintlich allgemeingültigen Theorie entscheidet. So viel zum Akteur Lévi-Strauss.

Die philosophiegeschichtliche Positionsbestimmung seiner subjektlosen Systemtheorie der Zeichen nimmt Lévi-Strauss wie folgt vor: „Wir erkennen diesen Aspekt unseres Versuchs vortrefflich bei Paul Ricoeur wieder, wenn er ihn mit Recht als ‚Kantianismus ohne transzendentales Subjekt‘ qualifiziert. Weit entfernt jedoch, dass uns die Beschränkung eine Lücke zu signalisieren scheint, sehen wir darin, auf philosophischer Ebene, die unvermeidliche Konsequenz der Wahl, die wir mit einer ethnographischen Perspektive getroffen haben: da wir uns auf die Suche nach den Bedingungen begeben haben, in denen die Wahrheits-systeme wechselseitig umkehrbar und folglich für mehrere Subjekte gleichzeitig annehmbar werden können, gewinnt die Gesamtheit dieser Bedingungen den Objektcharakter, der mit einer eigenen Realität ausgestattet und unabhängig von jedem Subjekt ist. ... Wir behaupten also nicht, zeigen zu können, wie die Men-schen in Mythen denken, sondern wie sich die Mythen in den MenMen-schen ohne deren Wissen denken.“ (Lévi-Strauss: Mythologica I 25, 26) Lévi-Strauss sieht die

78 Lévi-Strauss, in Gurvich W./E. Moore: La sociologie du XXe siécle. Paris: Presses Uni-versitäires de France, 1947, Bd. II, 527, zit. nach Bourdieu: Sinn 76.

Vermittlung zwischen gesellschaftlicher und symbolischer Struktur letztlich in einer, der Akteure nicht bedürfenden und dem Bewusstsein verborgenen „Tätig-keit des Geistes“, die sich de facto nicht zuletzt als eine „unbewußte Zweck-mäßigkeit“78 darstellt. Diese wiederum produziert, nach der Interpretation Bour-dieus, jene „vernünftigen und offenbar gewollten Hervorbringungen ohne Her-vorbringer, die der Strukturalismus vorwies, indem er die gesellschaftlichen Bedin-gungen von Produktion, Reproduktion und Gebrauch symbolischer Objekte mit derselben Handbewegung verschwinden ließ, mit der er ihre immanente Logik aufzeigte.“ (Bourdieu: Sinn 76)

Das Zaubermittel ist, nach Bourdieu, der Begriff des Unbewussten, der die Prinzipien der Wirksamkeit des Geistes der Erklärung entzieht und die Wirkungen anderer Faktoren ausschließt. Damit zerbricht, im Urteil Bourdieus, die ohne handelndes Subjekt konstruierte Beziehung zwischen Praxis, Struktur und Prakti-ken – auf die Lévi-Strauss jedenfalls in Das Wilde DenPrakti-ken Wert legt – vollends:

„Unter der Maske eines radikalen Materialismus ist diese Philosophie der Natur eine Philosophie des Geistes, die auf eine Spielart des Idealismus hinausläuft“

(Bourdieu: Sinn 77), und zwar auf einen Idealismus ohne Subjekt.

Die Lösung des Problems kann nun nicht darin bestehen, nach Art des rationa-listischen Subjektivismus das Subjekt zum allwissenden Gespenst seiner selbst zu machen; sie deutet sich vielmehr in Zugeständnissen von Lévi-Strauss selbst an.

Diese laufen seinen prinzipiellen Positionen tendenziell zuwider: „Auch wenn wir nicht ausschließen wollen, daß die redenden Subjekte, die die Mythen hervor-bringen und weitertragen, sich ihrer Struktur und Wirkungsweise bewusst zu werden vermögen, so kann dies doch nicht auf normale Weise geschehen, sondern höchstens auf partielle und sporadische.“ (Lévi-Strauss: Mythologica 25) Eine solche partielle und sporadische Bewusstwerdung geschieht etwa in der Manipulation des Schamanen an einem Mythos zum Zwecke seines medizinischen Gebrauchs bei einer schwierigen Entbindung (Lévi-Strauss: Anthropologie 204 ff., 220 f.). Die Bewusstwerdung und mit ihr die veränderte Form des Mythos erscheinen bei Lévi-Strauss aber lediglich als Ausnahme von der Regel der unbewussten Verwen-dung seiner „normalen“ Form, der objektiv festgelegten und in allen Teilen voll-ständigen Struktur des Dinges „Mythos“. Die Idee der Ausnahme von der Regel rettet so die Geschlossenheit und Objektivität der Struktur. Der Gebrauch, das heißt Praxis, bricht also auch bei Lévi-Strauss die artifizielle Ganzheit der unbe-wussten objektiven Strukturen des Geistes. Nur verbietet es die objektivistische Axiomatik dem Autor, die theoretischen Konsequenzen aus dieser Beobachtung zu ziehen. Lévi-Strauss kann seine Diktion nicht einfach dahingehend ändern, dass er schlicht von einer nur teilweisen Unbewusstheit und einer nur relativen

Geschlos-79 Lévi-Strauss: Anthropologie 111. (Hervorh. HS) Lévi-Strauss zitiert Marx: Zur Kritik der politischen Ökonomie. Berlin, 1963, 161.

senheit der symbolischen Systeme sprechen könnte – die theoretischen Konse-quenzen wären zu weitreichend.

Aus dem Blickwinkel eines Objektivismus der gesellschaftlichen Strukturen wurde Lévi-Strauss der Vorwurf des Idealismus gemacht. Er wehrt diesen Vor-wurf ab, indem er selbst auf Marx Bezug nimmt, und zwar auf die Passage in Zur Kritik der politischen Ökonomie, in der Marx die gesellschaftliche Wertzuweisung an Edelmetalle u.a. auf deren „ästhetische Eigenschaften“ zurückführt, auf deren Symbolfunktion also, die ihnen Überfluss und Reichtum konnotiert. Lévi-Strauss folgert: „Also fordert Marx selbst uns auf, symbolische Systeme festzulegen, die der Sprache und den Beziehungen, die der Mensch mit der Welt unterhält, zu-grundeliegen“.79

Hier ergeben sich zwei Probleme: Das geringere ist dies, dass Marx vermut-lich mit dem Wort „zugrundeliegen“ nicht einverstanden wäre, sondern Wert legen würde auf die Formulierung: „Nicht das Bewusstsein bestimmt das Leben, sondern das Leben bestimmt das Bewusstsein.“ (Marx/Engels: Ideologie 27). Dies schon allein deshalb, weil die „deutschen Ideologen“, orientiert am „Fortgang des Begriffs“, die gesamte Anstrengung ihrer Reflexionsarbeit darauf verwendet haben, die Gedanken von den tatsächlich herrschenden Verhältnissen zu trennen und als unabhängige, in sich logische und geschlossene Systeme zu etablieren.

(Marx/Engels: Ideologie 49) Wenn es auch für Marx und den Marxismus sicher zutrifft, dass sie dazu neigen, die Abstraktionen gesellschaftlicher Verhältnisse und Positionen, wie etwa Klassen oder Produktionsweisen, zu verdinglichen, (Bour-dieu: Sinn 71) so spricht Marx aber doch gerade dem „Ideellen“ das objektive Sein als Ding ab und bezeichnet es als „das im Menschenkopf umgesetzte und über-setzte Materielle“ (Marx: Kapital 27), also als abhängig von der konkreten Erfah-rung der gesellschaftlichen Widersprüche.

Allerdings ist man ebenfalls schlecht beraten, wenn man sich diese Umsetzung nach Art der orthodox marxistischen Widerspiegelungstheorie vorstellt; wenn man sich also die Spuren der „Entwicklung des Weltganzen“ im Geistigen nach Art eines „Spiegelbildes dieser Entwicklung in den Köpfen der Menschen“ (En-gels: Anti-Düring 26) vorstellt. Es ist gewiss nicht von geringem Nutzen, sich Entsprechungen zwischen verschiedenen Praxisfeldern und ihnen zugeordneten Vorstellungskomplexen klarzumachen; Modelle von strukturellen Homologien können dabei sehr hilfreich sein. Aber die allzu physikalische Auffassung einer Spiegelung – eine „auf die Füße“ gestellte platonische Abbildtheorie – ist nicht geeignet, die im Produktionsprozess des Ideellen sich einschleichenden und oft nützlichen Verkennungen der materiellen Lebensbedingungen wahrzunehmen, denen die Akteure erliegen, in deren Köpfen sich die Vorstellungen bilden. Sie

80 Marx geht es hier ja keineswegs um eine ontologische Aussage über den Menschen oder eine Wertung des Kapitalisten als Person, sondern um eine Bestimmung des Verhält-nisses, unter dem sich die Teilhaber des ökonomischen Austauschprozesses „als Re-präsentanten von Ware“ begegnen. Insofern sind die „ökonomischen Charaktermasken der Personen nur die Personifikationen der ökonomischen Verhältnisse..., als deren Träger sie sich gegenübertreten“. (Marx: Kapital 100) Vgl. auch: „Zur Klärung von Mißverständnissen ein Wort. Die Gestalten von Kapitalist und Grundeigentümer zeichne ich keineswegs in einem rosigen Licht. Aber es handelt sich hier um die Personen nur, soweit sie die Personi-fikation ökonomischer Kategorien sind, Träger von bestimmten Klassenverhältnissen und Interessen.“ (Marx: Kapital 16)

nimmt eben keine Logik der Praxis wahr. Damit verkennt eine Widerspiegelungs-theorie letztlich auch die gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse selbst. Sie ist nämlich nicht in der Lage, die Herrschaft der Verhältnisse über die geistigen Vorstellungen von den Verhältnissen wahrzunehmen und zu beschreiben, die ja gerade darin besteht, Herrschaft in Abrede zu stellen und im Bewusstsein des Knechtes die Vorstellung von Autonomie zu erzeugen. Und selbst wenn man ein

„falsches Bewusstsein“ konstatiert, so ist dies doch zunächst nicht mehr als die negative Konsequenz der in der Widerspiegelungstheorie enthaltenen Auffassung, dass die geistigen Vorstellungen die materiellen Verhältnisse eben widerspiegeln müssten. Nun stecken aber auch hinter den „Charaktermasken“80 der Kapitalisten Menschen. Und wenn man sich an Marx‘ Frühschriften hält, sieht man, dass Bewusstsein von konkreten Menschen in konkreten gesellschaftlichen Verhält-nissen produziert wird: „Die Produktion der Ideen, Vorstellungen, des Bewußtseins ist zunächst unmittelbar verflochten in die materielle Tätigkeit und den materiellen Verkehr der Menschen, Sprache des wirklichen Lebens.“ (Marx/ Engels: Ideologie 26) Und die sie produzierenden Menschen kann man eben nicht nur als „Gegen-stand“ auffassen, sondern muss sie im Hinblick auf ihre „sinnliche Tätigkeit“

verstehen, und zwar in ihrem „gegebenen gesellschaftlichen Zusammenhange“

und den „vorliegenden Lebensbedingungen“ (Marx/Engels: Ideologie 44).

Wenn man sich also das von Lévi-Strauss formulierte Programm zu eigen machen will und sich anschickt „symbolische Systeme festzulegen, die der Sprache und den Beziehungen, die der Mensch mit der Welt unterhält, zugrundeliegen“

(Lévi-Strauss: Anthropologie 111), kommt man nicht darum herum, auch die gesell-schaftlichen Verhältnisse zu berücksichtigen. Dies aber nicht nach Art der Wider-spiegelungstheorie. Es kommt vielmehr entscheidend darauf an, die Dispositionen der Akteure und ihre Verortung in der Praxis des tätigen Lebens im Blick auf Struktur und Wandel dieser Systeme mit zu bedenken. Die Akteure sind darin als gesellschaftliche Wesen aufzufassen und nicht als isolierte Individuen; aber sie sind nicht der anonymen Objektivität symbolischer oder gesellschaftlicher Systeme zu opfern.

Subjektivismus: Die Idee der Hervorbringung der gesellschaftlichen Wirklichkeit aus der intersubjektiven Beziehung sowie die Frage nach den subjektiven

Sinn-welten als Referenzpunkte für das soziale Verstehen stehen im Mittelpunkt der folgenden Überlegungen.

Die intersubjektive Beziehung bildet den Fokus des Interesses phänomenologi-scher Soziologie. Der Ansatz der Phänomenologie beim subjektiven Bewusstsein prägt seit Alfred Schütz, über den symbolischen Interaktionismus, bis zur Ethno-methodologie, auch die gesellschaftswissenschaftlichen Ansichten darüber, was zu analysieren und zu verstehen sei: Gegenstand der Untersuchungen ist in erster Linie die Sinnwelt, die von Subjekten hervorgebracht wird, sowie die Wahrneh-mung der Subjekte von den Sinnwelten und der Sozialwelt. Erst in zweiter Linie sind die materiellen gesellschaftlichen Strukturen bzw. Institutionen von Interesse, und dies vor allem als auf die Subjekte rückwirkende Objektivationen aus inter-subjektiver Sinnsetzung. Gemäß der Orientierung der Phänomenologie am Ge-schehen der leibhaftig vermittelten Erfahrung der Subjekte, konzentriert sich ihr Blick auf die unmittelbare Lebenswelt der Subjekte, die diesen, nach phänomeno-logischer Ansicht, als eine „fraglos gegebene“ sich darbietet. Die Erfahrung der Subjekte und das aus ihr entspringende Wissen bauen als intersubjektive Gescheh-nisse selbst die Sozialwelt auf, und zwar – folgt man Schütz – gleichsam in kon-zentrischen Kreisen: a) ausgehend von der Erfahrung des „alter ego in der natürli-chen Anschauung“ (Schütz: Aufbau 137), in der das Du als sinnhaftes Gegenüber allererst konstituiert wird; b) über die „soziale Umwelt und die Wirbeziehung“

(Schütz: Aufbau 227), welche sich wiederum über die Erfahrung des konkret leiblichen Gegenübers ergibt; c) bis zur Überschreitung der konkreten Leiblichkeit und Anschaulichkeit in der „Mitwelt“ und der idealtypischen „Ihr-Beziehung“

(Schütz: Aufbau 245).

Entsprechend der zentralen Stellung des subjektiven und intersubjektiv vermittelten Wissens und der leiblichen Vermittlung der konkreten, nahen lebens-weltlichen Beziehungen ist der zentrale Gegenstand des Interesses für die in phänomenologischer Tradition stehende Sozialwissenschaft das „Alltagswissen“

oder „Allerweltswissen“ (Berger/Luckmann: Konstruktion 16) der Subjekte. Das aber bedeutet, dass der Gegenstand der Erforschung das Bild ist, das sich die Menschen von ihrer Welt machen.

Selbst wenn man weiterhin bei der Idee der Repräsentation bleibt, bereitet der Ansatz Schwierigkeiten. Es geht nämlich der Blick für die Wirksamkeit der gesell-schaftlichen Praxis in den Repräsentationen der Sozialwelt verloren, wenn sich die Wissenschaft auf die Erstellung von „Konstruktionen zweiten Grades“ (Schütz) beschränkt, welche jene geistigen Konstruktionen nachzeichnen, in denen die Subjekte ihre Welt als Wissen von der Welt entwerfen. Diesen „symbolischen Sinnwelten“ wird folgende – vielfach kritisierte – Funktion zugeschrieben (Ber-ger/Luckmann: Konstruktion 98 ff.): Sie überhöhen die von den Subjekten als selbstverständlich erlebte Alltagswelt; und sie legitimieren und integrieren die

81 Vgl. Berger: The Sacred Canopy, 1967; dt. Berger: Dialektik.

Alltagswelt durch den „heiligen Baldachin“81 der symbolischen Repräsentationen, ohne dabei die in diesen Sinnwelten ausgefochtenen Kämpfe zwischen objektiv gegensätzlichen Positionen zu beachten. Statt dessen lösen Berger und Luckmann mögliche gesellschaftliche Gegensätze in nebeneinander existierende „Teilsinn-welten“ (Berger/Luckmann: Konstruktion 133 f.) hinein auf, welche für moderne pluralistische Gesellschaften typisch seien. Man kann beides als das Ergebnis aus dem Zusammenspiel einer egozentrischen Auffassung von Subjektivität mit der Annahme der Selbstverständlichkeit des lebensweltlichen Erfahrens und Sinn-gebens auffassen.

Ich möchte die Theoreme keineswegs als gänzlich falsch bezeichnen. Auch steht außer Zweifel, dass subjektivistische Phänomenologie Vieles sehr genau in den Blick bekommt – nicht zuletzt die Zeitstruktur der subjektiven Erfahrung auf eine Weise, wie sie der strukturalistischen Analyse verborgen bleiben muss. Aber der Ansatz beim Subjekt greift zu kurz. Oder mit Horkheimer gesprochen: „Die bloße Beschreibung des bürgerlichen Selbstbewußtseins gibt also nicht schon die Wahrheit über diese Klasse. Auch die Systematisierung der Bewußtseinsinhalte des Proletariats vermöchte kein wahres Bild seines Daseins und seiner Interessen zu liefern.“ (Horkheimer: Theorie 34) Berger und Luckmann verweisen selbst auf eine gewisse Engführung des subjektivistischen Ansatzes, wenn sie zunächst feststellen:

„Dieses Welterfassen ist nicht das Ergebnis selbstherrlicher Sinnsetzungen seitens isolierter Individuen, sondern es beginnt damit, daß der Einzelne eine Welt ‚über-nimmt‘, in der Andere schon leben“ (Berger/Luckmann: Konstruktion 140); und zwar – wiederum subjektivistisch gedacht – durch die Beziehung zu einem

„signifikanten Anderen“ (141) in der Primärsozialisation (das heißt also zu einer Zeit in der das Bewusstsein des Subjekts als eines selbstbewussten, rationalen und freien noch nicht in vollem Maße ausgebildet ist). Die Primär- und die Sekundär-sozialisation finden „immer in einer gegebenen Gesellschaftsstruktur statt. ... Mit anderen Worten: mikrosoziologische oder sozialpsychologische Analysen der Internalisierungsphänomene müssen immer auf dem Hintergrunde eines makroso-ziologischen Verständnisses ihrer strukturellen Aspekte vorgenommen werden“

(Berger/Luckmann: Konstruktion 174).

Mit dieser Problemstellung nähern sich Berger und Luckmann bereits einer Ant-wort auf die Frage nach der Erfahrung der Alltagswelt als einer evidenten und fraglosen an; auf die Frage also „nach der Deckungsgleichheit der analytischen Strukturen mit den einverleibten, welche die für das praktische Erfahren der vertrauten Welt typische Illusion unmittelbaren Verstehens verschafft und zu-gleich die Frage nach ihren eigenen Bedingungen der Möglichkeit ausschließt“

(Bourdieu: Sinn 50). Dennoch reicht die Beobachtung von Berger und Luckmann nicht weit genug. Denn die Forderung der beiden Autoren nach einer

Berücksich-tigung der makrosoziologischen Perspektive bleibt so lange ohne signifikante Konsequenzen, wie das Verhältnis zwischen Sozialstruktur und Subjekt als ein Verhältnis der bloßen, sozialisatorisch erworbenen und in symbolischen Re-präsentationen abgebildeten Entsprechungen gedacht wird, ohne sich bildende – weil sozialstrukturell angelegte – Widersprüche, Diskontinuitäten und Dissonan-zen sowie die Veränderungen in der Zeit auch theoretisch und methodisch zu berücksichtigen.

Dazu aber ist es nötig, nicht nur das Wissen der Subjekte über ihre Welt in der Analyse zur Kenntnis zu nehmen, sondern auch (und in Abhebung vom Wissen selbst) die objektiven und implizit wirkenden Strukturen und die Herrschafts-weisen des gesellschaftlichen Lebens, die das Wissen strukturieren und in seinem So-Sein hervorbringen und verändern, sowie die Prozesse der Einverleibung, Transformation und Exteriorisierung dieses Wissens durch die Akteure. Die

„Grundfrage der soziologischen Theorie“ sollte demnach nicht nur so gestellt werden: „Wie ist es möglich, daß subjektiv gemeinter Sinn zu objektiver Faktizität wird?“ (Berger/Luckmann: Konstruktion 20) Es wäre vielmehr hinzuzufügen (ohne damit eine zeitliche Abfolge zu implizieren): Wie ist es überdies möglich, dass objektive Faktizität gemeinten Sinn hervorbringt? Und wie arbeitet dieser Sinn in den Akteuren und wird von ihnen verarbeitet? Denn stillschweigend von der subjektiven Konstruktion der Wirklichkeit sowie der Fraglosigkeit und Legitimität des in der „Sinnwelt“ aufgehobenen Gegebenen auszugehen, läuft darauf hinaus, dass eine intersubjektiv orientierte wissenschaftliche Analyse von Praxisfeldern – also Kontexten – systematisch etwas Wichtiges übersieht: dass nämlich gerade die objektiven Strukturen des Gegebenen die Grenze ziehen zwischen dem, was ein Subjekt in einer bestimmten Position wahrnehmen kann, und dem, was es nicht wahrnehmen kann. Es ist aber vielfach gerade das von den Subjekten nicht Wahr-genommene (sowohl das ihnen Selbstverständliche, in Fleisch und Blut Überge-gangene, als auch auf der anderen Seite das ihnen Unbekannte, einem Anderen aber Bekannte), was die gesellschaftlichen Unterschiede als Distinktionsmerkmale – u.U. gesellschaftlicher Herrschaft – hervortreten lässt. Wenn also ein Katholik sich beim Betreten einer evangelischen Kirche bekreuzigt oder wenn ein zum Essen in die Vorstandsetage eingeladener „verdienter“ Arbeiter die Schnecken-zange und ihre Funktion nicht kennt, dann ist es gerade das deplacierte Verharren im Bekannten bzw. das nicht Bekannte, das diese Personen in ihrer Position identifiziert und festlegt.

Das Selbstverständliche, das die Subjekte als ihr gesellschaftlicher Hintergrund zutiefst bestimmt, ist auch und gerade dann anwesend, wenn man meint, ein intersubjektives Verhältnis aufgebaut zu haben, „so als gäbe es die objektiven Verhältnisse gar nicht“ (Bourdieu: Strukturalismus 19). Zwar ist es der phänomeno-logischen Soziologie gelungen, wichtige Verhaltensstereotype herauszuarbeiten, die eine gewisse Allgemeinheit zumindest in abendländischen Gesellschaften beanspruchen können. Aber es scheint doch eine zu weit greifende Annahme, intersubjektive Beziehungen zwischen zwei Menschen verstehen zu können, ohne