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D. Wissenschaftlich theologische Praxis 1: Hermeneuti- Hermeneuti-sche Rahmenbedingungen

1. Theologie im Kontext: Praxis

Theologie als eine Tätigkeit von Menschen ereignet sich immer in zwi-schenmenschlichen Bezügen, sozialen Prozessen und gesamtgesellschaftli-chen Strukturen und Institutionen. Theologie als Praxisform steht nicht einem Ding namens „Kontext“ als ihrem Gegenstand gegenüber; sie

geschieht in ihrem Kontext als ein Prozess unter vielen anderen in diesem Feld. Mehr noch: der Kontext, als Praxisfeld verstanden, ist den Theologie treibenden Menschen über deren Habitus teilweise sogar inkorporiert. Er ist also „außen“ und „innen“. Praxis und Habitus greifen ineinander.

a. Theologie als Praxis

Aus praxeologischer Perspektive begreift man den sozialen Raum ausge-hend von seinen Relationen als ein Netzwerk von Positionen; man geht nicht von sozialen Substanzen aus. Es gibt im praxeologischen Vokabular keinen Sprung vom grammatischen Subjekt zur ontologischen Substanz.

So wird auch eine Gesamtheit von Akteuren nicht als „Substanz“ bzw.

„Subjekt“ konstruiert, dem irgendwelche Eigenschaften „wesentlich“

zukommen.

Das heißt, als erstes sollte man sich von der Vorstellung lösen, Theologie sei so etwas wie eine geschlossene Einheit und stehe ihrem Kontext gegen-über. Theologie an sich gibt es gar nicht. Vielmehr treiben Menschen Theologie, das heißt, sie denken nach, reden miteinander, tragen vor und schreiben. Theologie ist folglich eine Weise menschlicher Praxis, eine

„sinnlich menschliche Tätigkeit“ (Marx). Wenn Menschen Theologie treiben, gehen in diese Tätigkeit folglich andere Tätigkeiten, Leiden und Daseinsbedingungen auf sehr verschiedene Weise mit ein. Dies lässt sich wiederum auf sehr unterschiedliche Weise darstellen. Eine der Möglich-keiten ist die einer komplexen Vernetzung der theologischen Tätigkeit mit anderen Feldern menschlicher Praxis. Das Netz sollte man sich dann als ein Gewebe vorstellen mit dichten und weniger dichten Webstrukturen, mit unterschiedlich verlaufender Textur, losen Fäden, Rissen und Überla-gerungen. Das Entscheidende an der Vorstellung ist, dass man hier von Relationen und Verflechtungen redet und nicht davon, dass eine quasi-Substanz anderen quasi-quasi-Substanzen gegenübersteht.

Wenn man Theologie als Praxisform begreift, sind alle anderen Formen menschlicher Praxis – mehr oder weniger mittelbar – ihr Kontext. Den Kontext einer Theologie bildet dann die Gesamtheit aller Praxisfelder mit ihren Logiken, ihren objektivierten und inkorporierten Normen, Regeln und Regelmäßigkeiten, den (subjektiven und objektiven) Interessen, Strate-gien und Praktiken der Akteure, ihren Institutionen, ihren Konjunkturen sowie der spezifischen Verteilung von Gütern, Chancen und Macht; und zwar insofern als diese Felder auf die Theologie treibenden (individuellen

und kollektiven) Akteure wirken und – umgekehrt – von diesen affiziert werden. Dabei hat das religiöse Feld im Allgemeinen eine größere Bedeu-tung für Theologie als andere Felder, etwa das der Ökonomie oder das des Sports. Der Kontext orientiert und begrenzt die Produktion von Theologie und das Verstehen fremder Theologien.

Als Teil des Netzes gesellschaftlicher Praxis ist theologische Arbeit also mit anderen Praxisformen verknüpft. Diese Verknüpfung ereignet sich durch praktische Beziehungen auf vielen Ebenen. Angefangen mit dem Status des Produktionsfeldes von Theologie in der jeweiligen Gesell-schaft (akademisches Feld oder nicht?), über den Gebrauch von Theolo-gien (Staatskirche, Freiwilligkeitskirche, „säkularisierte“ Gesellschaft?), über institutionelle oder politische Zwänge oder Chancen (politische Allianzen oder Kirchenverfolgung?), soziale Position der Kirchenglieder und der Theologen (welche soziale Klasse, welche Laufbahnperspekti-ven?), kulturelle Position (ethnisch definierte Kirche oder nicht, Position der Ethnie in der Gesamtgesellschaft?) bis hin zu den kognitiven, affekti-ven und leiblichen Dispositionen derer, die Theologie treiben – das heißt der inkorporierten Form all der vorweg genannten Faktoren.

b. Kontext

Sehr wichtig am praxeologischen Vokabular ist, dass es uns ermöglicht, vom inkorporierten und wahrgenommenen Kontext zu reden.

Die Theorie des Habitus besagt, dass sich die in einer Kultur herr-schenden Relationen über die gesamte Sozialisation den Menschen inkorpo-rieren. Anders gesagt: das Gewebe der Dispositionen der Wahrnehmung, des Urteilens und des Handelns eines Menschen (ausgedehnt auf Körper, Affekte und Denken) wird gemäß der gesellschaftlichen Wirklichkeit gestaltet, in der ein Mensch lebt. Ein Kontext ist somit nicht nur „außen“, sondern auch „innen“; er ist einverleibt. Mit andern Worten: das Netzwerk der Dispositionen des Habitus ist dem der jeweiligen praktischen Logik homolog. Wer also Theologie treibt, tut dies auf der Grundlage einer

„inneren“, inkorporierten, zugleich subjektiven wie objektiven, teils im-pliziten und teils exim-pliziten Übereinstimmung mit seinem Kontext.

Zugleich existiert ein Kontext für Theologie treibende Menschen nicht an sich, sondern als wahrgenommener Kontext. In der aktuellen Situation des Theologisierens orientieren und begrenzen die Dispositionen der Wahr-nehmung die Möglichkeiten des Denkens. Manches sieht man eben und manches nicht. Die Wahrnehmung ist ihrerseits zunächst einmal von den

langfristig angelegten Dispositionen des Habitus orientiert und begrenzt.

Sodann wirken aber auch mittel- und kurzfristige (wenngleich immer mit dem Habitus vermittelte) Faktoren wie zum Beispiel Handlungsbedarf durch Wandlungen des Feldes und Neudefinition von Grenzen und Chan-cen, Dissonanzen zwischen Feld und Habitus, Interessen, Bedürfnisse, Nachfragen und vieles mehr bis hin zu momentanen individuellen Stim-mungen. All diese Faktoren orientieren und begrenzen die Wahrnehmung des Kontextes und damit die Vorstellungen, die man sich von ihm macht, die Urteile und die Handlungsoptionen. Aus diesen Wechselbeziehungen zwischen Praxisfeldern und Habitus entsteht somit die Nachfrage nach praktischen Problemlösungen ebenso wie die nach übergreifendem Sinn.

Wir haben uns dem Kontextbegriff unter den Voraussetzungen der bourdieuschen Feldtheorie genähert. Kontext kann folglich als Praxisfeld bezeichnet werden, allerdings in spezifischer Hinsicht. Ein Kontext ist ein von Akteuren oder Beobachtern in Funktion seiner Relevanz für eine bestimmte Praxisform wahrgenommenes Feld gesellschaftlicher Relatio-nen. In unserem Falle ist die Praxisform das Hervorbringen von Theolo-gien. Man kann einen Kontext also als ein Netz von dafür als relevant empfundenen Relationen beschreiben. Diese Relationen zwischen unter-schiedlichen gesellschaftlichen Akteuren ereignen sich auf verschiedenen Praxisfeldern und regeln sich nach den objektiven Vorgaben, welche durch die Prozesslogiken der Felder mit ihren aktuellen Konjunkturen und durch die Dispositionen der beteiligten Akteure vorgegeben werden. Sie lassen sich in einem relationalen Modell verschiedener Positionen des gesell-schaftlichen Raumes als Netzwerk beschreiben.

Es ist wichtig, nicht aus dem Blick zu verlieren, dass sich auch die Hervor-bringung von Theologie selbst als Kontext konstituiert. Die Positionen und (Macht-) Relationen im Feld theologischer Produktion orientieren und begrenzen die Theologie-Treibenden in ihrer Tätigkeit. Wie Theologen das theologische Feld und die weiteren gesellschaftlichen Zusammenhänge wahrnehmen, hängt nicht zuletzt von ihrer Zugehörigkeit zum theologi-schen Feld und von ihrer Position darin ab. Beides strukturiert ihre Wahr-nehmungsdispositionen. Im Zusammenhang der Wahrnehmung nicht-theologischer Kontexte stellt sich damit die Frage, ob und wie die theolo-giespezifische Vorstrukturierung der Wahrnehmungsdispositionen die Wahrnehmung und Beurteilung nicht-theologischer Kontexte spezifisch qualifiziert bzw. verzerrt. Im Zusammenhang des Verstehens fremder Theologien stellt sich die gleiche Frage in Bezug darauf, auf welche Weise

die eigene Position im theologischen Feld den Blick auf andere Feldposi-tionen beeinflusst. Und im Zusammenhang der Produktion von Theologie stellen sich beide Fragen erneut. Da voraussetzungsloses Verstehen be-kanntlich unmöglich ist, läuft das Problem aus praxeologischer Sicht darauf hinaus, sowohl deskriptive wie normative theologische Arbeit als Konstruktion von wissenschaftlichen Modellen zu betreiben. Auf diese Weise können die theologischen Modelle unter direktem Bezug auf Kon-textmodelle entwickelt werden. Außerdem hat die Arbeit mit Modellen theologiehygienische Wirkung.

Die systematisierende Arbeit mit Modellen ist bei einer Theologie als

„sinnlich menschlicher Tätigkeit“ freilich eingebunden in den gleichzeiti-gen Dialog mit Andersdenkenden als einer wichtigleichzeiti-gen Quelle theologischer Kreativität und Selbstkritik.

c. Verstehen, Hervorbringung und Dialog

Verstehen, Hervorbringung und Dialog sind drei Bereiche, die für Überle-gungen zur kontextuellen Theologie meines Erachtens besonders beachtet werden sollten. Sie sind sehr eng miteinander verflochten, unterliegen aber unterschiedlichen Bedingungen.

Das Verstehen anderer Theologien ist eine Grundbedingung für das Theo-logietreiben. Dies schon deshalb, weil jede Theologie eine Position im Feld aller Theologien ist und in diesem Sinne durch die Differenz von anderen Theologien bestimmt ist und im Gegenzug jene bestimmt. Die Selbst-positionierung in diesem Feld erfolgt in der Arbeit wissenschaftlicher Theologie kontinuierlich auf implizite und explizite Weise. Man beschreibt eine fremde Theologie, beschreibt die eigene und setzt beide zueinander in Beziehung. Die Tatsache, dass man sich (aufgrund langjähriger Arbeit in einem bestimmten Feld, etwa dem der asiatischen, der europäischen oder auch der lutherischen Theologie) an bestimmte Grundpositionen gewöhnt und Grenzziehungen eher implizit vollzieht, ändert nichts daran, dass das Ziehen von Grenzen eine Grundbedingung zur Konstitution einer eigenen Position ist. Diese Positionierung setzt zumindest einen gewissen Grad des Verstehens anderer Positionen voraus. Andere, fremde Theologien zu-mindest ansatzweise verstehen zu können, gehört also schon zu den Grundvoraussetzungen jedweden Theologisierens. Dies spitzt sich zu in Situationen interkultureller Begegnung mit ungewöhnlich fremden Theolo-gien. Hier wird es dann auch plausibler, dass Verstehen nur ausgehend von den kontextuellen Bedingungen der Hervorbringung einer Theologie

106 Luhmann diskutiert dies als das Problem des „blinden Flecks“ einer jeden Beobach-tung. Die den Beobachtern unbekannten Grundunterscheidungen des Erkennens sind der

„blinde Fleck“ (Luhmann: Sthenographie 63), der die Beobachtung und die Klassifikation überhaupt erst ermöglicht. Man kann solche Grundunterscheidungen allenfalls dann zu Gesicht bekommen, wenn man den Gesichtspunkt der Beobachtung ändert, also von anderen Grundunterscheidungen aus und mit einem anderen blinden Fleck beobachtet.

erfolgen kann. Aber dieser Grundsatz gilt auch für weniger einander frem-de, ähnliche Theologien. Eine fremde Theologie von ihrem Entstehungs-kontext her zu verstehen ist eine allgemein anerkannte Bedingung dafür, sie überhaupt auch nur annähernd zu verstehen. Zunächst erfolgt eine Beschreibung von ihrem eigenen Kontext her und dann die theologische Interpretation.

Die eigene Theologie auf dem Hintergrund des eigenen Kontextes zu verstehen, ist ebenso notwendig, denn es gibt keine Norm ohne Beschrei-bung. Hervorbringung von Theologie ist somit abhängig von einer Beschreibung des eigenen Kontextes und damit der Problematiken, von der das Theolo-gisieren geprägt wird. Das heißt, der Kontextbezug sollte in seiner Bedeu-tung für die Gestalt der jeweiligen Theologie erkennbar sein. Dabei ist es gleichgültig, wie weit der jeweilige Kontext gefasst ist. Er kann durchaus global sein, wenn etwa Globalisierung von Interesse ist. Aber die Position, von der aus in diesem Kontext Theologie produziert wird, sollte in der wissenschaftlichen Konstruktion einer Theologie erkennbar sein. Das Produkt – ein theologischer Entwurf, etwa über den Heiligen Geist, Jesus Christus oder die Schöpfung – sollte erkennen lassen, woraus es gemacht ist. Eine als solche erkennbare Beschreibung des Bezugskontextes ist auf jeden Fall Grundlage für die Verfahren theologischer Interpretation und Urteilsfindung sowie für die Erschließung handlungsleitender Perspekti-ven, wenn man nicht den kontextbedingten Verkennungen und dem Irrtum einer (objektivistischen oder subjektivistischen) Universalisierung der eigenen Position aufsitzen will.

Schließlich scheint es mir wichtig, den kritischen Bezug auf die eigene Produktion zu bewahren durch die Selbstbeschreibung der eigenen Theologie in Beziehung zu ihrem Kontext. Die reflexive und selbstkritische Rück-wendung auf die eigene Produktion von Theologie ist notwendig, aber nicht einfach zu bewerkstelligen. Die Selbstanalyse vermag recht weit voranzuschreiten. Aber die konstitutiven Grund-Unterscheidungen eigener theologischer Produktion vermag sie kaum zu erschließen.106 Dies verweist auf die Notwendigkeit des Dialogs mit Anderen. Diese können durch die Sicht von außen entscheidende Beobachtungen beitragen.

107 Dietrich Ritschl: Theologie, etwa untersucht wissenschaftliche Theologie im Blick auf ihre Logik in meisterlicher Weise.

Die drei Aspekte Verstehen, Hervorbringung und Dialog werden in den folgenden Ausführungen als innerer roter Faden mitlaufen.

2. Theologie und praktische Logik: Gebrauch, Differenz und