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TEILHARD DE CHARDIN

Im Dokument Sieben Positionen zum Logos (Seite 92-108)

Pierre Teilhard de Chardin

THOMAS BROCH

Ein Wort zuvor

Um es vorweg zu sagen: Wörtlich-explizit kommt der Begriff des Logos im Werk von Pierre Teilhard de Chardin SJ (1881–1955) meines Wissens nicht vor. Wohl aber sind bei ihm viele andere Begriffe wie das „Innen der Dinge“, „Person“, „Persona-lität“ oder „personale Energie“, „Liebe“ oder auch „Energie Liebe“, „Freiheit“ u. a.

in ihrer jeweiligen kontextabhängigen Akzentuierung durchaus dem nahe, was Logos als gestaltendes und durchdringendes Prinzip von Mensch, Geschichte und Kosmos bedeutet.1

Bemerkenswert ist allerdings, dass Teilhard in einer seiner früheren, im März 1918 datierten Schriften einen Text verfasst, den er im Rückgriff auf den Schlusschor in Goethes Faust II mit dem Titel „Das Ewig-Weibliche“ überschreibt und der Beatrice in Dantes „Göttlicher Komödie“ widmet.2 Über diesem poetisch-mystischen Text, 1 Zu den nachstehenden Ausführungen verweise ich auf meine Arbeiten: Das Problem der

Freiheit im Werk von Pierre Teilhard de Chardin, Mainz 1977; Apologet und Modernist. Teilhard de Chardin als katholischer Religionsphilosoph?, in: A. Halder/K. Kienzler/J. Möller (Hrsg.), Reli-gionsphilosophie heute. Chancen und Bedeutung in Philosophie und Theologie. Experiment Religionsphilosophie, Bd. III, Düsseldorf 1988, 130–144; Pierre Teilhard de Chardin. Wegbereiter des New Age?, Mainz/Stuttgart 1989; Brückenschlag zwischen Christentum und Moderne. Der Forscher und Priester Teilhard de Chardin, in: J. Hoeren (Hrsg.), Gott-Sucher im Spannungsfeld von Christentum und Moderne, Würzburg 1991, 25–40; Teilhard de Chardin, in: W. Haug/D.

Mieth (Hrsg.), Religiöse Erfahrung. Historische Modelle in christlicher Tradition, München 1992, 425–252; Kosmische Bescheidenheit? Eine kritische Würdigung Pierre Teilhards de Chardin, in: R. Isak (Hrsg.), Kosmische Bescheidenheit. Was Theologen und Naturalisten voneinander lernen könnten (Tagungsberichte der Katholischen Akademie der Erzdiözese Freiburg), Freiburg i. Br. 2003, 149–175; Denker der Krise – Vermittler von Hoffnung. Pierre Teilhard de Chardin, Würzburg 2000; Die Erwartung einer großen Gegenwart – Pierre Teilhard de Chardin (1881–1955), in: M. Delgado/G. Fuchs (Hrsg.), Die Kirchenkritik der Mystiker. Prophetie als Gottes erfahrung, Bd. III: Von der Aufklärung bis zur Gegenwart, Fribourg/Stuttgart 2005, 187–210.

2 L’Éternel féminin, in: Écrits du temps de la guerre. 1916–1919 (Œuvres de Teilhard de Chardin, t. 12, im Folgenden = WW XII), Paris 1965, 279–291, dt. Frühe Schriften, Freiburg/München

steht – in der lateinischen Vulgata-Übersetzung – der Beginn des alttestament-lichen Textes Spr 8,22–36: „Ab initio creata sum …“ Diese biblische Passage, in der die personifizierte Weisheit als Schöpfungsmittlerin zu Wort kommt, greift Teilhard nicht nur in formaler Textgestaltung auf. Er greift damit auch auf die jüdisch-hellenistische Logos-Sophia-Spekulation zurück, wie sie etwa auch im Prolog des Johannes-Evangeliums begegnet, und er gibt – was hier zunächst nur angedeutet werden kann – zu erkennen, dass die Wurzeln seines metaphysischen und mystischen Denkens in der Tradition des Neuplatonismus zu suchen sind und in der späteren Verbindung mit naturwissenschaftlicher Argumentation auf die romantische Naturphilosophie und den Deutschen Idealismus als Referenz verweisen können.

Im Zentrum dieses Textes steht das für Teilhard lebenslang bestimmende Thema der Liebe als der „Urkraft des Kosmos“,3 in ihrer Vielschichtigkeit der erotischen Anziehung und der Sexualität in ihrer ambivalenten Dynamik, der Liebe zum Leben und zum Kosmos bis hin zur Sublimierung und Transzendierung in die Liebe zu Gott hinein und in den anbetenden Glauben an eine alles erschaffende, einende und durchformende göttliche Liebe. Die Liebe in all ihren Formen als Reflex der Liebe Gottes ist für ihn der Logos, durch den alles in einer creatio continua erschaffen und in einer universalen „Amorisation“4 zur Vollendung geführt wird.

„Eine Liebe erbaut physisch das Universum.“5

„Straße des Feuers“ – Teilhards Leben und Schicksal

„Straße des Feuers“ – diese Metapher hat Marie Joseph Pierre Teilhard de Chardin einmal für seinen Lebensweg und seine Lebensberufung verwendet.6 Man kann sein Leben nicht anders bezeichnen als einen Leidensweg, als ein lebenslanges

1968, 235–248.

3 Vgl. dazu besonders M. Trennert-Hellwig, Die Urkraft des Kosmos. Dimensionen der Liebe im Werk Teilhards de Chardin, Freiburg-Basel-Wien 1993.

4 Unv. Tagebuch I, 80 (21. Januar 1945).

5 L’Énergie humaine (Œuvres de Teilhard de Chardin, t. VI, im Folgenden = WW VI), Paris 1962, 90, dt. Die menschliche Energie, Olten-Freiburg 1966, 95.

6 Hymne de l’Univers, Paris 1966 (im Folgenden = HU), 108, dt. Das Herz der Materie. Kern-stück einer genialen Weltsicht, Olten-Freiburg 1990 (im Folgenden = HM), 115.

Ringen um Erkennen und Klarheit, um Verstehen und Verstandenwerden in dem, wofür er brannte und was in ihm brannte.

Geboren wurde er am 1. Mai 1881 im Schloss Sarcenat bei Clermont-Ferrand als viertes Kind einer französischen Adelsfamilie,7 deren traditionelle Frömmig-keit ihn ebenso prägte wie die heimischen Landschaften der Chaîne des Puys.

1899 trat er in den Jesuitenorden ein, 1911 wurde er zum Priester geweiht. Wie in seinem Orden üblich, verbrachte er die Ausbildungszeit an mehreren Stätten:

Aix-en-Provence, Laval, Jersey und Hastings/Essex, aber auch Kairo, wo er als Lek-tor für Chemie und Physik tätig war. Nach 1912 studierte er am Musée d’Histoire naturelle in Paris Geologie und Paläontologie und schuf damit die Basis für seine spätere internationale Reputation als Naturwissenschaftler. Bereits vorher hatte die geistige Begegnung mit Henri Bergsons Buch „L’Évolution Créatrice“ (1908) einen tiefen Eindruck hinterlassen; die Pariser Jahre nach 1912 ermöglichten ihm die Begegnung mit katholischen Denkern der so genannten „Immanenz-Apologetik“, die fast alle dem „Modernismus“-Verdikt zum Opfer fallen sollten.

Die entscheidende Weichenstellung in seinem Denken wird jedoch durch den Ersten Weltkrieg markiert, den er als Sanitätssoldat an vorderster Front erlebte.

Hier geschieht die ausdrückliche Ablösung von der bislang eher traditionellen geistigen und religiösen Prägung; hier entstehen Schriften, die Teilhard als den Mystiker und Visionär von großer denkerischer und sprachlicher Kraft zu erkennen geben, der er ein Lebenlang bleiben sollte, auch wenn später die wissenschaftliche Rationalität – zumindest vordergründig und bei oberflächlicher Betrachtung – den breiteren Raum einnehmen wird. Eine Professur am Pariser Institut Catholique konnte er nach seiner Promotion nur kurze Zeit wahrnehmen, bis ihm seine gei-stige Entwicklung mit ihrem ausdrücklichen Bekenntnis zum Evolutionsdenken und entsprechenden theologischen Konsequenzen Denuntiation und Widerstand traditioneller kirchlicher Kreise und den Konflikt mit dem kirchlichen Lehramt ein-brachten, der ihn ein Leben lang begleitete und in seinen Wirkungsmöglichkeiten behinderte. Eine formelle lehramtliche Verurteilung seiner Schriften ist dank des geschickten Taktierens seines Ordens nie erfolgt. Doch wird er sich – entgegen seinem sehnlichen Wunsch – nur noch für kurze Zwischenaufenthalte in Frankreich aufhalten dürfen, wo seine Arbeiten in aufgeschlossenen Zirkeln herumgereicht werden und große Aufmerksamkeit finden. Die Jahre zwischen 1923 und 1946 verbringt er hauptsächlich in China, wo er sich als Forscher, Expeditionsbegleiter

7 Zur Biographie Teilhards vgl. C. Cuénot, Pierre Teilhard de Chardin. Leben und Werk, Olten-Freiburg 1964 und weitere Aufl.; G. Schiwy, Teilhard de Chardin. Sein Leben und seine Zeit, Bd. I: 1881–1923, Bd. II: 1923–1955, München 1981.

und Institutsleiter in der wissenschaftlichen Fachwelt weltweites Ansehen erar-beitet. Besonders die Entdeckung des Sinanthropus Pecinensis ist eng mit seinem Namen verknüpft. In diese Zeit fällt neben reichhaltiger Briefkorrespondenz und zahlreichen naturwissenschaftlichen sowie philosophisch-theologischen Arbeiten auch die Entstehung seiner beiden Hauptwerke: Le Milieu Divin (1926/27)8 und Le Phénomène Humain (1938–40)9. Beide Werke durfte er nicht veröffentlichen – sein großes Anliegen, sich bei der Hierarchie des Ordens und der Kirche verständlich zu machen und Anerkennung zu finden, blieb bis zu seinem Tod unerfüllt. Dass er in seiner Kirchenkritik stets von kompromissloser Deutlichkeit war, hat sich sicher nicht zu seinen Gunsten ausgewirkt. Dennoch weist er den Gedanken, aus dem Or-den auszutreten oder gar Or-den Priesterberuf aufzugeben, stets entschieOr-den zurück.

Nach 1939 wurde Teilhard durch den Zweiten Weltkrieg unfreiwillig in China festgehalten, erst 1946 konnte er nach Frankreich repatriiert werden. Die weni-gen Jahre, die er dann in seiner Heimat verbrinweni-gen konnte, sind geprägt durch ebenso fruchtbare wie kontroverse Begegnungen mit führenden europäischen Geistesgrößen wie z. B. Gabriel Marcel oder Julian Huxley. Auch lebensbedroh-liche Erkrankungen fallen in diese Zeit. Mit der Wahl zum Mitglied der Académie des Sciences bekundet ihm die Wissenschafts-Community ihre Wertschätzung, zugleich wird ihm kirchlicherseits verboten, einen ihm angebotenen Lehrstuhl am Collège de France in Paris anzunehmen. Die Konflikte spitzen sich zu und zwingen den inzwischen fast Siebzigjährigen erneut ins ausländische Exil – diesmal in die USA. An der Wenner Gren Foundation in New York geht er nach 1950 seinen wissenschaftlichen Arbeiten nach; von dort aus unternimmt er auch einige Expe-ditionen nach Südafrika. Am 10. April 1955 stirbt Pierre Teilhard de Chardin. Nur zwei Patres, einer von ihnen der langjährige Freund Pierre Leroy, begleiten ihn zu seiner letzten Ruhestätte auf dem Jesuitenfriedhof in Saint-Andrews-on-Hudson, über 100 Kilometer von New York entfernt. Da es in Strömen regnet, muss der Sarg vorerst in einer Totenkapelle aufgebart werden, bevor er später beigesetzt werden kann. Sinnenfälliger kann die Einsamkeit dieses Lebens und Sterbens nicht vor Augen treten.10

8 Le Milieu divin. Essai de Vie Intérieure (Œuvres de Teilhard de Chardin, t. IV, im Folgenden = WW IV), Paris 1957, dt. Das göttliche Milieu. Ein Entwurf des Innern Lebens, Olten-Freiburg

71969.

9 Le Phénomène Humain (Œuvres de Teilhard de Chardin, t. I, im Folgenden = WW I), Paris 1955, dt. Der Mensch im Kosmos, München 71964.

10 Vgl. G. Schiwy, a.a.O., Bd. II, 288.

Ein immenses Œuvre – verdächtigt und verkannt

Teilhard hat ein immenses Werk hinterlassen. Allein das 1971 als Ganzes postum veröffentlichte naturwissenschaftliche Œuvre umfasst 11 Bände mit nahezu 5.000 Seiten11 und macht deutlich, warum ihm zu Lebzeiten in wissenschaftli-chen Kollegenkreisen weltweit Anerkennung entgegen gebracht worden ist.

Noch nachhaltigere Wirkung freilich entfaltete sein philosophisch-theologisches Lebenswerk. Die französische Werkausgabe umfasst bislang 13 umfangreiche Bände, von denen 12 in deutscher Übersetzung veröffentlicht sind. Dazu kommen zahlreiche Bände mit Briefwechseln sowie veröffentlichte Tagebücher aus der Zeit des Ersten Weltkriegs. Von großer Wichtigkeit für die Teilhard-Interpretation sind freilich auch die unveröffentlichten Tagebücher nach 1944, die Hefte mit Lektürenotizen, die Teilhard als unermüdlich-vielseitigen Leser ausweisen, sowie zahlreiche weitere Inedita.

Teilhard konnte kein einziges seiner Werke gedruckt sehen, in denen er seine ganzheitliche, Kosmos, Mensch und Gott, Wissenschaft, Philosophie und Glauben integrierende „Weltanschauung“12, so sein eigener Ausdruck, dargelegt und in immer neuen argumentativen Ansätzen zu begründen versucht hat. Sie, die für ihn das Zentrum seiner Sendung bedeuteten, wurden vom wissenschaftlichen Zeitgeist nicht ernst genommen und von der offiziellen Kirche als modernistisch diskreditiert. Erst das Zweite Vatikanische Konzil ließ – vor allem in der Pasto-ralkonstitution Gaudium et Spes – eine gewisse Wertschätzung seiner Anliegen erkennen.13 Gleichzeitig glaubte aber noch 1962 das Heilige Officium, die Bischöfe, Ordensoberen, Seminarleiter und Universitätsrektoren (!) auffordern zu müssen,

„die Geister – namentlich der jungen Leute – vor den in den Werken Pater Teilhards de Chardin und seiner Anhänger enthaltenen Gefahren zu schützen“14.

11 L’Œuvre Scientifique. Textes réunis et édités par Nicole et Karl Schmitz-Moormann. Publi-cation réalisée sous le patronage de la Fondation Teilhard de Chardin, Paris, Olten-Freiburg 1971.

12 Les directions de l’Avenir (Œuvres de Teilhard de Chardin, t. XI, im Folgenden = WW XI), Paris 1973, 181, dt. Mein Weltbild, Olten-Freiburg 1973, 8 (im Folgenden = Wb).

13 Vgl. dazu W. Klein, Teilhard de Chardin und das Zweite Vatikanische Konzil. Ein Vergleich der Pastoral-Konstitution über die Kirche in der Welt von heute mit Aspekten der Weltschau Pierre Teilhards de Chardin, München-Paderborn-Wien1975.

14 Suprema Sacra Congregatio S. Officii, Monitum vom 30. Juni 1962, Acta SS. Congregatio-num. Acta Apostolicae Sedis. Commentarium officiale 54 (1962), p. 526, im latein. Original-text und in dt. Übersetzung veröffentl. in K. Schmitz-Moormann (Hrsg.), Teilhard de Chardin in der Diskussion, Darmstadt 1986, 98 f.

Teilhard war seiner Zeit voraus. Dass er – neben einer großen Zahl seriöser wissenschaftlicher Publikationen weltweit – in den 1960er und 1970er Jahren von unkritischen Verehrern und zehn Jahre später durch die so genannte New-Age-Bewegung vereinnahmt und popularisiert wurde, war einer ernsthaften und kritischen Diskussion, die er verdient hat, nicht zuträglich. Nach einem kurzen Auf-flackern anlässlich des 50. Todestags im Jahr 2005 ist es sehr still um ihn geworden.

Teilhards „denkerische Position“

Im Jahr 1948 unternahm Teilhard – einmal mehr – eine intellektuelle Rechtferti-gung seines Denkens, wohl um doch endlich die GenehmiRechtferti-gung für eine Veröf-fentlichung seines Hauptwerks Le Phénomène Humain zu erreichen. Auf einem dicht beschriebenen Blatt formuliert er dafür den Text Ma position intellektuelle – Meine denkerische Position15.

Methodologische Rechtfertigung

Einmal mehr verwahrt er sich in diesem Text gegen den oft – auch in dem o. g.

Monitum des Heiligen Officiums – erhobenen Vorwurf des „Konkordismus“, also einer Vermischung der Erkenntnisebenen von Glaube und wissenschaftlicher Rationalität. Es ist nicht zu bestreiten, dass an der Basis des Teilhardschen Den-kens ein Glaubensbekenntnis steht, auch da, wo er seine Argumentation mit wissenschaftlichem Anspruch vorträgt.16 So kann er in einer anderen „Kurzformel“

sein Denken in einem dreifachen Glaubensbekenntnis zusammenfassen: „Ich glaube, dass das Universum eine Evolution ist. Ich glaube, dass die Evolution auf den Geist hingeht. Ich glaube, dass der Geist sich im Personalen vollendet [sc. im Menschen, wie er später hinzufügen wird]. Ich glaube, dass das höchste Personale 15 In: Le Cœur de la Matière (Œuvres de Teilhard de Chardin, t. XIII, im Folgenden = WW XIII),

Paris 1976, 171–174 (die im Folgenden kursiv wiedergegebenen Zitate sind dieser Schrift entnommen).

16 Vgl. dazu ausführlich in meinem Buch Das Problem der Freiheit im Werk von Pierre Teilhard de Chardin (s. Anm. 1), 252–256.

der Christus Universalis ist.“17 Aber Teilhard ist methodologisch weder naiv noch unreflektiert. Immer wieder betont er, dass er die verschiedenen Ebenen durchaus methodisch trenne und durchdenke. Aber konsequent zu Ende gedacht, müssten sie sich in einer Gesamtschau treffen. Seine Kritiker schenkten der Bedeutung der Analogie in seinem Denken nicht genügend Beachtung, moniert er seinerseits.18 Bei allen Aspekten dieses Ganzheitsdenkens will er die Spannung von Einheit und Differenz, Kontinuität und Diskontinuität immer mitbedacht wissen. Seine Denkform ist die Dialektik. In der Schrift Esquisse d’une dialectique de l’Esprit (1946) stellt er sein methodologisches Konzept ausführlich dar.19 Aber auch andernorts erläutert er immer wieder seine „Dialektik der Alternanz“20 bzw. „Dialektik der Kohärenz“ oder „oszillatorische Dialektik“21. In unserem Referenztext Ma position intellectuelle merkt er dazu an: „Religion und Wissenschaft repräsentieren im Bereich des Denkens natürlich zwei unterschiedliche Meridiane, welche nicht auseinander zu halten falsch wäre (Irrtum des Konkordismus). Aber diese Meridiane müssen sich not-wendig einmal in einem Pol gemeinsamer Vision treffen (Kohärenz): Sonst verwirrt sich im Bereich des Denkens und des Erkennens alles in uns.“ Das kann in einer integralen Ganzheitsschau auch nicht anders sein: Es gibt keine unverbundenen oder gar einander widersprechenden Wahrheitssegmente; das Wahre ist – um mit Hegel zu sprechen – das Ganze; oder nach Teilhard: „Die Wahrheit ist nichts anderes als die totale Kohärenz des Universums in bezug auf jeden Punkt seiner selbst.“22

Glaubensbekenntnis und wissenschaftlicher Anspruch

Das o. g. dreifache „Ich glaube“ weist Teilhards Denken als ein Bekenntnis aus, als eine Vision, die sich gleichwohl als wissenschaftlich versteht, als „phänome-nologisch“. Es geht ihm – mit anderen Worten – darum, zur Sprache zu bringen, 17 Comment je crois (Œuvres de Teilhard de Chardin, t. X, im Folgenden = WW X), Paris 1969,

117, dt. Mein Glaube, Olten-Freiburg 1972, 116.

18 Brief vom 29. April 1934 an Henri de Lubac SJ, in: Lettres intimes de Teilhard de Chardin à Auguste Valensin, Bruno de Solages et Henri de Lubac. 1919–1955. Introducion et notes par Henri de Lubac (im Folgenden = LVSL), Paris 1972, 270 mit 271 f. Anm. 10.

19 In: L’Activation de l’Énergie (Œuvres de Teilhard de Chardin, t. VII, im Folgenden = WW VII), Paris 1963, 147–158, dt. Die Lebendige Macht der Evolution, Olten-Freiburg 1967, 26–36.

20 WW VII, 149, dt. 26.

21 WW XI, 181.203, dt. Wb, 7.47.

22 WW VI, 71, dt. 72.

was sich dem wirklich „sehenden“ Menschen mit wissenschaftlicher Evidenz auf-drängt. Wenn er in diesem Sinne von „Phänomenologie“ spricht, dann distanziert er sich zum einen von der neuscholastischen Schulmetaphysik, der offiziellen kirchlichen Denkweise seiner Zeit, die er als steril, welt- und lebensfremd bewer-tet. Andererseits bedeutet dies aber auch eine Abgrenzung gegenüber einem materialistischen, positivistischen Wissenschaftsdenken, welches dem Phänomen des Geistes keinen Raum zugesteht: „Im Wesentlichen drückt sich das Denken P. Teil-hards de Chardin nicht in einer Metaphysik aus, sondern in einer Art Phänomenologie.“

„Nichts als das Phänomen“, wird er später schreiben; allerdings auch „das ganze Phänomen“23. Wenn er seine „Weltanschauung“ in anderen Zusammenhängen oft als „Hyper-Biologie“, als „Hyper“- oder „Ultra-Physik“ bezeichnet, dann signalisiert er damit den Anspruch einer übergeordneten Wissenschaft, die die Ganzheit und die Einheit aller dem Denken und der Erfahrung zugänglichen Phänomene zu erfassen versucht. Der Gegenstand dieser Vision ist nicht weniger als eine umfassende Einheit der Wirklichkeit as a whole, wie er sagt: die Einheit von Geist und Materie;

die Einheit der Menschen als einer zur „Übermenschheit“, zur „Super-Menschheit“

berufenen Gemeinschaft; die Einheit von Pysik und Moral, von Wissenschaft, Mystik und Glauben, von tätigem Leben und Anbetung; die Einheit des Universums von seinen Ursprüngen bis zu seinem Ende; die Einheit schließlich von Gott und Welt in einer alles durchdringenden und durchformenden Verbindung von Immanenz und Transzendenz. Und all dies nicht in einem monistischen Identitätsdenken, sondern in geschichtlich-evolutiv vermittelter Dialektik.

Evolution und ihre Gesetze

Die Einheit wird als Prozess verstanden; sie ist Dynamik und Aufgabe. Der Kosmos ist in Evolution – das ist für Teilhard die entscheidende Erkenntnis, die seine inhalt-liche Qualifizierung von „Phänomenologie“ von derjenigen der philosophischen Phänomenologiekonzepte seiner Zeit differenziert, die ihn in lebenslangen Konflikt mit dem kirchlichen Lehramt bringt und zugleich mit den Naturwissenschaftlern seiner Zeit verbindet. Jenseits aller ideologischen Deutung bedeutet Evolution für Teilhard: „Nichts in der Welt könnte über die verschiedenen von der Evolution überwundenen Schwellen hinweg (so kritisch diese auch seien) eines Tages als 23 WW I, 21, dt. 1.

endgültig in Erscheinung treten, das nicht schon vorher ursprünglich dunkel vorhanden gewesen wäre.“24 Alles ist Ergebnis einer Werdegeschichte, deren Wurzeln unabsehbar weit in die Vergangenheit zurückreichen.

Was ihn von der überwiegenden Mehrzahl der Wissenschaftskollegen allerdings trennt, ist seine Interpretation der Evolution von ihrem – derzeitigen – Endziel, dem homo sapiens, her. Der Mensch ist für ihn kein Zufallsprodukt, sondern das Ziel der Evolution. Wenn aber im homo sapiens Phänomene wie Bewusstsein, Geist, Personalität, Freiheit in Erscheinung treten, dann müssen diese, in welcher Form auch immer, von allem Anfang dem Entwicklungsgeschehen innewohnen.

Das „Innen der Dinge“ nennt Teilhard dies – auch in den elementarsten Formen des Vorlebendigen anzunehmen und mitzudenken.25

Diesem „Innen“ entspricht eine äußere, materielle Organisation – beide stehen in einer dynamischen Wechselbeziehung, in der allerdings auf allen evolutiven Ebenen dem „Geistigen“ der Primat zukommt. Anders gesagt: In der Evolution ist eine gestaltende Dynamik am Werk, die sich durch immer komplexere Organisa-tionsformen hindurch bis hin zum Menschen verwirklicht. „Zentrokomplexität“

nennt Teilhard dieses universale Gesetz des evolutiven Prozesses, in welchem immer durchformtere materielle Organisationen mit einem höheren Grad an Spontaneität, Bewusstsein, Zielstrebigkeit, Freiheit korrespondieren – wobei Letzteres, die „radiale“ gegenüber der „tangentialen Energie“, die eigentliche Antriebskraft darstellt: „spirituelle Energie“ weitesten Sinn des Wortes.26 „Dieser Koeffizient der Zentro-Komplexität (oder, was auf dasselbe hinausläuft, des Bewusst-seins) ist das wahrhaft absolute Maß des Seins in den uns umgebenden Wesen.

Es, und es allein, vermag eine wahrhaft natürliche Klassifikation der Elemente des Universums zu begründen.“27 In unserem Text Ma position intellectuelle schreibt Teilhard dazu: „Ein Rekurrenz-Gesetz, alle Erfahrung begründend und beherrschend […] drängt sich unserer Beobachtung auf: ‚Komplexitäts-Bewusstseins’-Gesetz, kraft dessen sich im Inneren des Lebens der kosmische Stoff immer enger in sich einrollt und einem Organisationsprozess folgt, der an einem korrelierenden Anwachsen psychischer Spannung (oder Temperatur) gemessen werden kann. Im Bereich unserer Beobachtung repräsentiert der reflektierende Mensch den erhabensten elementaren Zielpunkt dieser Bewegung der Anordnung.“

24 WW I, 69 f., dt. 47.

25 Vgl. dazu u. a. WW I, 49 ff., dt. 28 ff.

26 Vgl. dazu u. a. WW I., 59 ff., dt. 38 ff.

26 Vgl. dazu u. a. WW I., 59 ff., dt. 38 ff.

Im Dokument Sieben Positionen zum Logos (Seite 92-108)