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139 DAS SPÄTWERK

Im Dokument Band 3: Von Giorgione zum frühen Tizian (Seite 140-144)

dert ist, der andere aber wohl aus dem im Hintergrund sichtbaren Ort stammt. Es

handelt sich bei dem älteren Mann wohl um einen Arzt oder Bader, der zu einer Untersuchung oder Behandlung des jüngeren Mannes gekommen ist.“483 Derart verstiegene Gedankengänge sind in der Tat dazu angetan – vor allem am Beispiel von Giorgiones rätselhaften Bildinhalten –, die Methode der Ikonologie vollends in Verruf zu bringen. Ebenso wenig nachvollziehbar ist Hoffmans Vorschlag, die Iko-nografie des Tramonto mit den „Drei Lebensaltern des Menschen“ in Verbindung zu bringen, zumal hier lediglich zwei Generationenvertreter auszumachen sind.484

Ein extremes Beispiel, welch seltsame Blüten ein unkritischer Umgang mit der Ikonologie bisweilen treiben kann, bietet Tschmelitsch, der sogar die Präsenz des hl. Georg leugnet – mit folgender, fast schon ans Absurde grenzender Argumen-tation: „Hier aber muss doch diese Gestalt in einem Zusammenhang mit den Männern im Vordergrund des Bildes treten. So müssen wir wohl glauben […], dass der Reiter und der Verwundete vorne derselbe Mann sein müssen, in zeit-lichem Abstand. […] Hinten kommt der junge Held hoch zu Ross und tatfreudig herausgesprengt, vorne erscheint er verwundet, wohl durch das Gift des Drachen.

So geht unsere Schilderung schon in die Deutung [?] über.“ Anstatt sich in ei-ner dermaßen weit hergeholten Interpretation zu verstricken, wäre der Autor gut beraten gewesen, sich auf sein bezüglich der Landschaft zutreffendes Resümee zu beschränken: „Bedeutsam erscheint hier, wie sehr eine ganze Landschaft Trä-ger einer seelischen Stimmung wurde! […] Die sinkende Sonne gibt so recht die Stimmung einer schweren, hoffnungslosen Melancholie. Die im Einzelnen auch lyrisch erfasste Stille wirkt doch lastend, bedrückend. Eine große Apathie liegt über allem, einzig aufrecht bleibt die Treue des Gefährten.“485 Gemessen daran bleibt ein Deutungsversuch des Figuralen wahrscheinlich auch weiterhin ein vergebliches Unterfangen, mithin auch einmal mehr das Rätselhafte an Giorgione ungelöst.

Wie der Tramonto einen gravierenden Einschnitt in der Entwicklung hin zum auto-nomen Landschaftsbild bewirkte, eröffnete sich mit der Schlafenden Venus (Dres-den, Gemäldegalerie) eine neue Ära weiblicher Aktdarstellung. Letzteres bestätigt auch Clark, wenn er schreibt: „In der europäischen Malerei nimmt die Dresdener Venus ungefähr die gleiche Stellung ein, wie sie innerhalb der [antiken] Plastik die knidische Venus innehatte.“486 Laut Pochat „ist die Dresdener Venus als klassisch zu bezeichnen, und diese poetische Verherrlichung des Frauenkörpers sollte fortan einen paradigmatischen Einfluss auf die Aktdarstellung nicht nur in Venedig, son-dern auf die spätere Malerei überhaupt ausüben“.487

Im Jahr 1525 sah Michiel im Hause des Gerolamo Marcello ein Gemälde, das er so beschrieb: „Das Bild mit der nackten Venus, die in einer Landschaft schläft, mit Cupido, war von der Hand des Zorzo aus Castelfranco, aber die Landschaft und der Cupido wurden von Tizian vollendet.“ Auch Ridolfi (1648) bestätigt den Standort des Werks, „terminato da Titiano“; desgleichen Boschini (1660), der es als Arbeit Giorgiones bezeichnet.488 Die erste wissenschaftlich fundierte Zuschrei-bung des Bildes an Giorgione stammt von Morelli, der es mit jenem von Michiel beschriebenen identifizierte, gleichsam „wiederentdeckte“.489 Gleichwohl war es

Abb. 40, S. 141

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DAS SPÄTWERK noch ein langer Weg, ehe die Forschung Morellis Attribution weitgehend aner-kannte. Ausgehend von Zweifeln an der Richtigkeit von Morellis „Michiel-Iden-tifikation“, gingen manche Fachleute so weit, die Venus – logischerweise unter Missachtung von Michiels Einschränkung: „ma lo paese ed Cupidine forono fi-niti da Titiano“ – sogar zur Gänze Tizian zuzuschreiben, darunter in der neueren Forschung auch Lucco, der wenigstens einräumt, das Bild könnte von Giorgione begonnen worden sein.490

Unklar ist, weshalb Giorgione die Venus unvollendet ließ. Waren es andere drängende Aufgaben oder sein jäher Tod, die den Abschluss der Arbeiten verhin-derten? Im Rekurs auf Michiels Notizia ist die Frage, ob es sich bei der Landschaft, vor allem deren Architekturelemente betreffend, um eine eigenständige Inven-tion Tizians handelt, bis heute umstritten. Schon Gronau vertrat die Meinung, die Landschaft sei von Giorgione bereits skizziert gewesen, ehe sie von Tizian ausge-führt wurde.491 Ähnlich sah dies L. Venturi, dem zufolge der rechte Landschafts-abschnitt mit der Häusergruppe – allein schon aus zwingend kompositionellen Gründen – von Giorgione geplant gewesen sein muss. Dass Tizians Vollendung der Landschaft auf einem „Vorentwurf“ Giorgiones basierte, stellten auch Rich-ter und Mather außer Zweifel.492 Seit Posse (1931) und Hofer (1946) mehren sich die Stimmen, wonach Tizian die gesamte Landschaft, u. zw. nach „eigenen Ent-würfen“ gemalt habe. In eine analoge Richtung weist Baldass, nur mit der Ein-schränkung auf die Architektur rechts, die „auch der Erfindung nach“ von Tizian stamme.493 Dieser Auffassung hat sich die spätere Forschung zunehmend ange-schlossen, basierend auf der Tatsache, dass Tizian schon bald nach Giorgiones Tod die Architekturmotive aus der Venus wörtlich auf die Gemälde Noli me tangere (den rechten Gebäudekomplex) und die Zigeunermadonna (das Kastell links mit der sich dahinter erhebenden Gebirgsformation) übertragen hat. Diese Werkhin-weise beziehungsWerkhin-weise Motivrückgriffe scheinen im Sinne einer Tizian-Präferenz zu überzeugen. Wie jedoch Pedrocco zu Recht betont, manifestiert sich in ihnen

„kein entscheidendes Kriterium, denn Tizian hätte diese Landschaft[selemente]

auch nach Giorgione kopieren können“.494

Im Jahr 1699 war die Venus in den Besitz von August II. von Sachsen gelangt.

1843 entdeckte der Restaurator der Dresdener Galerie den wahrscheinlich im 18. Jahrhundert übermalten Cupido, entschloss sich jedoch, diesen wegen seines schlechten Erhaltungszustands neuerlich zu übermalen.495 Bezüglich des zu Füßen der Göttin kauernden Cupido gab es – im Gegensatz zur Landschaftsproblematik – nur selten Bedenken, diesen als eigenschöpferische Zutat Tizians zu betrachten.

Diese Auffassung vertritt neben anderen Kunsthistorikern auch Pignatti, der im Cupido einen selbstständigen Beitrag Tizians sieht, den Hügel mit der Gebäude-gruppe hingegen für ein Autograf Giorgiones hält.496 Wenn Hornig die übermalte Stelle als „tote Fläche“ empfindet, meint er damit wohl auch, dass der nunmehr verborgene Putto zum ursprünglichen Bildkonzept Giorgiones gehörte.497 Dem widerspricht Pochat zu Recht, wenn er schreibt: „[mit Tizians Hinzufügung des Liebesgotts] entstand ein ganz neues Bildgefüge, ein Ausgleich von Massen, der nicht dem ursprünglichen Entwurf [Giorgiones] entsprochen haben dürfte.“498

Da-Abb. 41, S. 141

raus lässt sich folgern, dass dem Künstler die eigenmächtige Einbeziehung des Cupido vermutlich nicht erwünscht gewesen wäre, er die Genehmigung dazu dem jugendlichen Mitarbeiter vielleicht sogar verweigert hätte. Denn nicht zu leugnen ist, dass die zeitlose Ruhe der Schlafenden Venus durch das narrative Moment der lebhaften Figur empfindlich gestört wird, es somit wohl im Sinne Giorgiones ge-wesen wäre, die nachträglich durch Cupido besetzte Stelle frei zu lassen.

Wie schon angedeutet, „gehört die Dresdner Venus zu den bahnbrechenden Werken der abendländischen Malerei. Es handelt sich um die erste großformatige Darstellung dieses Themas, das die [liegende] Göttin in völliger Nacktheit zeigt“.499 Der Umstand, dass die Göttin die gesamte Bildbreite einnimmt und sich mit lü-ckenlos geschlossenem Umriss präsentiert, verleiht ihr ein hohes Maß an Monu-mentalität. Sie liegt mit überkreuzten Beinen auf einem zerwühlten weißgrauen Tuch, den von einem roten, zweigeteilten Polster gestützten Oberkörper leicht angehoben. Die Figur ist dem Betrachter zugewandt, dergestalt, dass sich der Ein-druck einer verhaltenen Drehbewegung aufdrängt: Während die linke Brust, der gesenkte Arm und das gestreckte Bein von der Seite her gesehen sind, ist der übrige Körper in Drauf- beziehungsweise Vorderansicht wiedergegeben. Im Kon-trast dazu das frontal gedrehte Haupt, das sich in den abgewinkelt angehobenen Arm schmiegt und vom Dunkel einer ins Bild ragenden Felswand abhebt. Dass dem Antlitz der Göttin, klassisch modifiziert, der Gesichtstypus der Judith und der Castelfranco-Madonna zugrunde liegt, ist evident. Justi zufolge, der die

Darstel-40 Giorgione, Schlafende Venus, Leinwand, 108 x 174 cm, Dresden, Gemäldegalerie

41 Rekonstruktion der Venus mithilfe einer Röntgenaufnahme

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DAS SPÄTWERK lung des Venus-Körpers durch das „klassische Gesetz der Klarheit“ bestimmt sieht und diesbezüglich auf antike Wurzeln verweist, „geschieht das Spiel der Gelenke nach dem Grundsatz des ausgewogenen Kontraposts“.500 Die Übertragung die-ses chiastischen Gestaltungsprinzips auf eine liegende Aktfigur ist zweifellos ein Verdienst Giorgiones – ein Novum nicht nur in der venezianischen Malerei. Dem entsprechend weist der rechte Arm nach oben, der linke nach unten, ist das linke Bein gestreckt, das rechte leicht geknickt. Zudem war Justi m. W. der Erste, der auf Giorgiones Bestreben aufmerksam gemacht hat, die Körperproportionierung nach einem strengen Kanon festzulegen. Laut Justi sei „der Grundsatz, nach dem hier die Maße bestimmt sind, einem antiken Schriftsteller entnommen, dem Vi-truv“.501 Wie Nachmessungen bestätigen, hat sich Giorgione in der Tat zum Teil an dessen berühmtem, Kaiser Augustus gewidmetem Werk De architectura libri X orientiert, das, 1415 wiederentdeckt, erstmals um 1486 in Rom und in einer zweiten Ausgabe 1511 – also knapp nach Giorgiones Tod – in Venedig im Druck erschienen war. Justis ‚Proportionsrechnung‘ bringt folgendes Ergebnis: „Die Kör-perlänge, vom Scheitel zur Sohle, ist die Grundlage der Einzelmaße: die Höhe des Kopfes soll nach Vitruv ein Achtel, das Gesicht ein Zehntel der Körperlänge betra-gen; das Antlitz wiederum aus drei gleich hohen Teilen bestehen, Stirn, Nase und Untergesicht. Misst man Giorgiones Figur nach, so findet man diese Vorschriften befolgt […]. Nun gibt aber Vitruv für den Fuß das unglaubliche Maß von einem Sechstel der Körperlänge – das hat man alsbald überall als unmöglich erkannt, auch Giorgione fühlte sich darin frei, und da er den Fuß klein liebt, so gibt er ihm die Länge der Hand und des Gesichts.“502 Wiederum der Regel Vitruvs folgend, liegt der Schoß genau in der Mitte der Körperachse, darin auch exakt mit der bildteilenden Vertikalen übereinstimmend. Diese akademisch anmutende Propor-tionskalkulation und der straff geschlossene Körperumriss bergen naturgemäß die Gefahr einer statuarischen Versteifung, was auch Hornig so gesehen hat, wenn er kritisch bemerkt: „[Die Venus] fügt sich einer geometrischen Grundform ein, weshalb ihr der anschauliche Charakter von etwas Künstlichem, Modellhaftem, und leicht Unbeweglichem eignet.“ Widersprüchlich dazu seine korrektere Beob-achtung, wonach „ein einheitlicher Bewegungszug die Gestalt durchströmt“, was daher rührt, dass die Gestalt von sanft verlaufenden Wellenlinien umrissen wird.

Hinzu kommt – und das ist das entscheidende dynamische Moment –, dass sie im unteren Abschnitt von einem leicht gekrümmten Segmentbogen eingefasst wird.

Diese biegsame, einem gespannten Bogen vergleichbare Körperkontur nimmt vom angehobenen rechten Arm ihren Ausgang und schließt mit dem abgewinkelten, jäh verkürzten Unterschenkel, den das durchgestreckte linke Bein überlagert. Dies verleiht der Gestalt eine „federnde Leichtigkeit und scheint sie irdischer Schwere zu entheben“, fast schon den Eindruck des „Schwebens“ vermittelnd.503 Letzteres wird durch das weiße Tuch verstärkt, das sich mit seiner scharf zerknitterten, kons-truiert anmutenden Faltengebung merklich von der Liegenden absetzt. Dass dieses Elaborat von Tizian stammt, wurde seit Justi und Richter m. W. nie ernstlich bestrit-ten. Dazu Justi: „Es ist ersichtlich nach einem Stück Stoff getreu abgezeichnet, das sich der Maler im scharfen Werkstattlicht zurechtlegte; die Modellzeichnung ist

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