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105DIE MITTLERE SCHAFFENSPHASE

Im Dokument Band 3: Von Giorgione zum frühen Tizian (Seite 106-118)

wendung, fast schon in en face-Ansicht wiedergegeben. Wie um möglicher Kritik

die Stirn zu bieten, fixiert der Maler den Betrachter mit stechendem Blick. Ein mar-kant ausgebildetes Kinn, ein zusammengepresster Mund, eine kräftige Nase sowie die zwischen den scharf gezogenen Augenbrauen konzentriert hervortretenden Falten zeugen von unverbrüchlicher Willensstärke. Darüber hinaus evoziert das beinahe zur Hälfte in Schatten getauchte Gesicht den Eindruck des Geheimnis-vollen, dem sich anscheinend auch Vasari nicht zu entziehen vermochte, als er den Gesichtszügen des Künstlers „den Ausdruck tiefsten Denkens und feinsten Scharfsinns“ attestierte.369 David/Giorgione trägt über einem dunkelgrünen Rock einen Brustharnisch, der – wie das dunkelbraune Haar und das gedämpfte Rot des Umhangs – fast gänzlich vom dunklen Grund absorbiert wird. Nachhaltiger als in den übrigen Bildnissen des Künstlers „hängt die Farbengebung aufs Engste mit der Lichtordnung zusammen, […] sind die einzelnen Farben der Hell-dunkel-Be-wegung […] untergeordnet“.370 Lediglich die rechte Gesichtshälfte wird vom Licht erfasst, wobei sich jegliche Konturenbildung im umgebenden Dunkel auflöst. Da die gesamte Halspartie tief verschattet ist, scheint sich das Antlitz des Helden, wie vom Rumpf getrennt, in einem Schwebezustand zu befinden. Ein weiterer Licht-reflex zeigt sich auf der rechten Schulter, den metallischen Glanz des Harnischs betonend. Das von links einfallende Licht entspricht – beispiellos in der venezia-nischen Renaissance-Malerei – „dem Kerzenlicht in einem geschlossenen Raum“

(Eller), womit Giorgione Caravaggios Hell-dunkel-Malerei, insbesondere aber des-sen Lichtregie um nahezu ein Jahrhundert vorweggenommen hat.371 Die Komposi-tion steht im Zeichen einer Diagonalen, die vom schräg gestellten Haupt und vom grauen Hemdausschnitt am rechten Oberarm ihren Ausgang nimmt und vor der Fragmentierung des Gemäldes in das extrem verkürzte Haupt Goliaths mündete.

Das Braunschweiger Selbstporträt wird von den meisten Autograf-Befürwor-tern, darin Justi folgend, in die späte Schaffensperiode (1508–1510) Giorgiones datiert. Da es bezüglich des chiaroscuro, der äußerst restriktiven Buntfarbgebung sowie der ostentativ dem Betrachter zugekehrten Schulter des Dargestellten dem Krieger relativ nahe steht, sollte man es den Fondaco-Fresken zeitlich voranstellen und Hornigs Datierungsvorschlag „um 1507“ zustimmen.372 Wie in anderen Fällen fehlt es auch hier nicht an Versuchen, über das konkrete biblische Sujet hinaus weitere Bedeutungsebenen aufzudecken. Allzu weit hergeholt scheint mir hier die im Rahmen eines Giorgione-Seminars (1978/79) entwickelte und auf Hartlaubs tiefenpsychologischen Ansätzen basierende Theorie, der zufolge, so Hornigs Be-richt, der Kopf Goliaths auf ein Porträt von Giorgiones Vater hindeute. „Damit würde die Darstellung zu einer Art Racheakt, zu einer Hinrichtung in effigie des eigenen Vaters wegen der Zeugung beziehungsweise Aussetzung des eigenen, möglicherweise unerwünschten Sohnes. Das Braunschweiger Selbstbildnis wäre dann so etwas wie ein gemalter Protest gegen den eigenen Vater.“373 Und nur am Rande vermerkt: Besonders kurios und zugleich als exemplarische Warnung vor überzogenen Interpretationen dienlich ist Ellers vermutlich durch Vasari inspirierter Deutungsversuch. Dem Vitenverfasser zufolge war Giorgione ein veritabler Frau-enheld, „wohlbewandert in Liebesdingen“. Wie Eller daraus schließt, sei es „nicht

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fern aller Wahrscheinlichkeit, dass er [Giorgione] bei einer Schönheit den Kopf verlor, etwas kopflos reagierte und vor ihr kapitulieren musste […] und vielleicht [und damit noch nicht genug] hat er sich deshalb auf der gemalten Frau [Catenas Madonna] eines anderen Malers dargestellt.“374

Aufmerksamkeit gebührt auch Giorgiones zweitem Selbstporträt, das – ur-sprünglich im Besitz von Herzog Leopold Wilhelm – 1848 nach Budapest gelangte, wo es heute im Szépmüvészeti Múzeum aufbewahrt wird. Analog zum Holzschnitt in Vasaris Text zeigt das Gemälde lediglich Giorgiones Kopf- und Brustansatz. Im Gegensatz zu den meisten Forschern, die es als Kopie ansehen oder seine Exis-tenz, wie etwa Della Pergola oder Lucco, überhaupt ignorieren, spricht m. E. kaum etwas dagegen, es, einer an Justi anschließenden Minderheit von Fachleuten folgend, als Vorstudie zum Braunschweiger Selbstporträt einzuschätzen. Dafür sind zwei Argumente ins Treffen zu führen: zum einen die sich vor allem am Haar manifestierende Spontaneität des Pinselduktus, zum anderen der Umstand, dass es sich hier um ein mit Öl auf Papier gemaltes Bild handelt. Es wäre schon sehr ungewöhnlich gewesen, hätte sich ein an der Veräußerung seines Elaborats ge-wiss interessierter Kopist eines solch unattraktiven Bildträgers bedient und sich mit einer dem Skizzenhaften angenäherten Arbeitsweise begnügt. Giorgiones Gesichtszüge – die zusammengerückten Brauen, die heruntergezogenen Mund-winkel usw. – gleichen in fast allen Details, der angehobene Kopf und die Licht-Schatten-Aufteilung inbegriffen, jenen im Braunschweiger Gemälde. Und doch gibt es auch gewisse Unterschiede, zumal die Budapester Version den „viel un-mittelbareren Eindruck einer kritischen Studie“ vermittelt. Laut Ferino-Pagden, die übrigens ebenfalls dazu neigt, das Budapester Bildchen als Giorgione-Autograf anzuerkennen, „ist der Blick direkter, penetranter, kritisch prüfend […]. Statt des melancholischen, kontemplativen Ausdrucks im Braunschweiger Bild empfindet man hier den einer konzentrierten Selbstbeobachtung.“375

31 Giorgione, Bildnis Giorgiones, Papier auf Holz geklebt, 91 x 63 cm, Budapest, Szépmüvészeti Múzeum

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M Y T H O S U N D R Ä T S E L

La Tempesta („Das Gewitter“, Venedig, Accademia)

Die Tempesta ist das vielleicht meistuntersuchte Werk der europäischen Ma-lerei und als eines der berühmtesten Rätselbilder der Kunstgeschichte bis heute Gegenstand unzähliger Deutungsversuche – wie es Gentili formuliert hat: „das verschwiegenste unter allen verschwiegenen Gemälden Giorgiones“.376 Darüber hinaus signalisiert das Gemälde trotz Einbeziehung des Figuralen bereits den Über-gang zur autonomen Landschaftsmalerei. Nachdem Giorgione in seiner frühen Schaffensperiode, etwa im Urteil Salomos und in der Feuerprobe des Moses, noch für eine strikte Trennung zwischen Landschaft und Figurenensemble gesorgt hatte, konzipierte er hier erstmals eine Landschaft, die sich als Ganzes vom unteren Rah-men nach der Tiefe hin entwickelt. Sie wird zur zentralen und entscheidenden Komponente, zumal die Figuren, aus der Bildmitte gedrängt, laterale Positionen einnehmen und dadurch dem schon am unteren Bildrand ansetzenden Raumkon-tinuum eine freie Entfaltungsmöglichkeit sichern. Die Landschaft, so Pochat, ist

„von eigenem Leben und dynamischen Kräften durchdrungen, hat sich im Bilde aus der Abhängigkeit von der Menschenfigur gelöst und ist in panhumanistischem Sinne zum aktiven Träger des Inhalts geworden. Auch diese Landschaft ist als eine poetische Allegorie […] von tieferer Bedeutung durchdrungen, aber dies ändert nichts an der Tatsache, dass die Menschenfigur der Landschaft untergeordnet wird“.377 Die Landschaft steht als natura naturans im Zeichen des Bewegten und Wandelbaren, präsentiert sich somit im ständigen Prozess der Selbsterneuerung.

Dementsprechend sieht der Maler auch den künstlerischen Schöpfungsakt als of-fenen Prozess, in dem er sich – auf vorbereitende Zeichnungen verzichtend – die Möglichkeit offenhält, das Bild immer wieder, wie Übermalungen und Pentimenti bezeugen, zu verändern. Mit der Dynamisierung des Bildgeschehens fühlt sich auch der Betrachter dazu aufgerufen, am schöpferischen Prozess visuell aktiv teil-zunehmen, wodurch sich ihm – vom Künstler wohl bewusst intendiert – auch ein beträchtlicher Deutungsfreiraum eröffnet. Giorgiones Leistung, zum ersten Mal in der abendländischen Kunst mittels Licht und Farbe Figuren und Landschaft in ein rhythmisch-einheitliches Gefüge zu bringen und dadurch der Schöpfung das Ge-heimnis einer naturhaft-kosmischen Harmonie zu entlocken, war, wie Rosand be-tont, nur möglich, „nachdem sich in Venedig Leinwand als Bildträger durchgesetzt und sich in der Folge die Struktur von Malgrund und Farbe verändert hatte. Die neue Technik kehrte die traditionelle Abfolge von hell nach dunkel in der Tafelma-lerei um; jetzt näherte sich der Maler, ausgehend von einer dunkleren Farbschicht [als Grundierung], schrittweise hellen Tönen. […] In Giorgiones Kunst tritt Licht

Abb. 32, S. 109

Abb. 9, S. 35; Abb. 10, S. 37

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MYTHOS UND RÄTSEL aus Dunkelheit hervor, die geschlossene Oberfläche wird langsam aufgebrochen, und der einzelne Pinselstrich gewinnt […] auch in seiner Aussagekraft an Bedeu-tung“.378

Marcantonio Michiel sah das Werk 1530 im Hause des Gabriele Vendramin und beschreibt es als „el paeseto in tela con la tempesta con la cingana et soldato, fu de man de Zorzi de Castelfranco“.379 Aus diesem knappen Inventartext geht hervor, dass schon Michiel in der Landschaft mit dem heraufziehenden Gewitter die Hauptattraktion des Gemäldes gesehen hat, wogegen er mit dem figuralen Hinweis auf einen Soldaten und eine Zigeunerin im Vagen stecken bleibt. Dieszüglich konnte ihm auch Gabriele nicht weiterhelfen, zumal selbst Giorgione – be-kannt für seine stets mehrdeutigen Bildinhalte – von der Nennung eines korrekten Bildtitels Abstand genommen haben könnte. Dass nun Gabriele auch der Besteller des Gemäldes war, ist zwar nicht beweisbar, aber auch nicht gänzlich auszuschlie-ßen, zumal er laut Nepi Scirè mit Giorgione befreundet war und dessen Werk in seinem camerino delle anticaglie (= Antiquitäten-Kabinett) aufbewahrte.380 Wie seinem Testament von 1547 zu entnehmen ist, hatte er sich in dieses mit kostba-ren Kunstgegenständen gefüllte Refugium oftmals zurückgezogen, um „ein we-nig Ruhe und Seelenfrieden (dato un poco di riposo et de quiete de animo)“ zu finden.381 Überlegenswert in diesem Zusammenhang ist Justis Annahme, wonach Giorgione – ohne Rücksicht auf konkrete Bildprogrammwünsche eines Auftragge-bers – gleichsam „auf Vorrat“, also ausschließlich der eigenen Fantasie folgend, gemalt habe. Ein Parallelbeispiel dafür liefert Lorenzo Lotto, von dem bekannt ist, dass er bisweilen ebenso „per piacermi“ gearbeitet hat.382

Am Ende des 18. Jahrhunderts gelangte das Gemälde zusammen mit der Vec-chia in den Besitz der Sammlung von Girolamo Manfrin, wo es, wie aus einem Brief Lord Byrons aus dem Jahre 1817 hervorgeht, unter dem Namen „Familie Giorgiones“ inventarisiert war. Mit derselben Bezeichnung wird es von Nicodemi, dem Verfasser eines 1872 veröffentlichten Führers zur Pinacoteca Manfrin, wie folgt beschrieben: „Dieses Bild […] zeigt den Maler aufrecht stehend im Garten seines Hauses, während eine nackte Frau, die auf der Wiese sitzt, ein Kind stillt.

Diese ist vielleicht Cecilia, die Geliebte Giorgiones […].“383 Wickhoff war der Erste, der die in der Tat zu eindimensionale ‚Familientheorie’ abgelehnt hat. Ihm zufolge handelt es sich hier um Adrastos und Hypsipyle, die Opheltes stillt, Personen aus der Thebais des Statius – eine Hypothese, die indes genauso wenig zu überzeugen vermag.384 In der Folge gab es eine fast schon unüberschaubare Flut von Deu-tungsversuchen, die bis in die Gegenwart nicht versiegt ist. „Dass bis heute keiner überzeugen konnte, könnte seinen Grund nicht nur im mangelnden Scharfsinn des Interpreten haben, sondern auch im Bilde selbst, das sich zwar so bedeutungs-trächtig präsentiert, dass es komplizierte Analysen geradezu herausfordert, ande-rerseits aber bisher noch jede auf Eindeutigkeit gerichtete Analyse am Ende ins Leere laufen ließ.“385 Schon seit mehr als einem Jahrhundert steht die Untersu-chung der Tempesta unter der Vorherrschaft jener Ikonologen, welche, die Mehr-deutigkeit von Giorgiones Aussagen verkennend und fast immer den zwingen-den Kontext von Form und Inhalt missachtend, mit dem punktuell-hermetischen

DIE DREI PHILOSOPHEN

32 Giorgione, La Tempesta, Leinwand, 82 x 73 cm, Venedig, Accademia

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MYTHOS UND RÄTSEL Verweis auf eine literarische oder philologische Quelle den Glauben verbinden, den verschlüsselten Wahrheitsgehalt des Kunstwerks entdeckt zu haben – kurz:

Sie sehen meist nur das, was sie sehen wollen. „Was am Kunstwerk Kunst ist, rein aus der Anschauung her zu erfassen“, bleibt ihnen ein fremdes Anliegen.386 Eine rühmliche Ausnahme ist Justi, der schon früh gegen das visuelle Desinteresse der Ikonologenzunft aufgetreten ist und dem wir die m. E. überzeugendste, zu Unrecht vergessene Formanalyse verdanken. Er zählt zu den wenigen Giorgione-Forschern, für die der nicht selten berechtigte Vorwurf Adornos bezüglich der

„Kunstfremdheit der Kunstwissenschaften“ gewiss keine Gültigkeit hat.387 Dem rechten Bildrand angenähert, sitzt eine junge Frau, die ihr Kind stillt und mit beiden Armen schützend umfängt, auf der Wiesenmatte einer zerklüfteten Felsnase, die keilförmig – mit großem dynamischem Potenzial angereichert – bis weit in die linke Bildhälfte vorstößt. Ihr nach links geneigter Körper ist parallel zur Bildebene in Seitenansicht wiedergegeben. Lediglich mit dem Kopf vollzieht sie eine leichte Drehbewegung, den Blick auf den Betrachter gerichtet. Obwohl den konsequent abgewinkelten Gliedmaßen ein expansiv dynamisches Spannungspo-tenzial innewohnt – der linke Arm überkreuzt den Oberkörper, sodass die Hand auf dem rechten Knie zu liegen kommt, und die wie im Laufschritt angeordne-ten Unterschenkel schneiden sich im rechangeordne-ten Winkel – fügt sich der Körper zu einem geschlossenen Ganzen, das sich strukturell in ein Dreieck einschreiben lässt.

Während ein über die Schulter fallendes weißes Tuch den Oberkörper (die dem Säugling gereichte Brust ausgenommen) fast gänzlich verhüllt, präsentiert sich der Unterkörper in schwellender Nacktheit, deren erotische Note durch die gespreizten Beine noch unterstrichen wird. Das über die Schulter drapierte Tuch laut Hornig als „Handtuch“ zu identifizieren und daraus zu folgern, dass „die Frau ein Bad genommen hat“, somit an eine „Nymphe oder Nixe“ erinnere, ist ebenso skurril wie hermeneutisch irreführend.388 In Wahrheit handelt es sich um einen leintuch-ähnlichen Umhang, der sich als schmaler Streifen an der rechten Körperkontur der Mutter fortsetzt, dort sich als durchlaufende Linie mit der Schrägen des rechten Unterschenkels verbindet, dann zwischen den Beinen verschwindet, um schließ-lich, als Sitzunterlage dienend, rechts außen als zerknittertes Faltenbündel wieder hervorzutreten. Einem Felsblock im Vordergrund entwächst ein Strauch, dessen transparent gefiedertes Blattwerk die Schenkel, das Gesäß und den Rücken der Kauernden einem vegetabilen Schleier gleich zärtlich zu umspielen scheint. Da-neben die dürren Zweige eines abgestorbenen Strauchs, der im Kontrast mit dem sprießenden Strauch Werden und Vergehen von Mensch und Natur symbolisiert.

Der mittleren Felsspalte scheint eine Quelle zu entspringen, die als Sinnbild des Le-bens von einem mit unergründlich dunklem Gewässer gefüllten Naturbecken auf-gefangen wird. Hinter der hellen Fläche der Frauengestalt erhebt sich ein bis zum rechten Rahmen ansteigendes dunkelolivgrünes Gebüsch, das zusammen mit dem Rasenstück in vergrößertem Maßstab den triangulären Umriss der breit dimensi-onierten Figur wiederholt. Relevant ist vor allem die Hypotenuse eines Dreiecks, die – parallel verschoben zur schräg verlaufenden Kontur der Figur und zur nach rechts weisenden Bilddiagonalen – einen strukturell entscheidenden Beitrag zur

111 LA TEMPESTA Komposition leistet. Hinter dem Buschwerk steigt ein in dunkle Vegetation

einge-betteter gegabelter Baumstamm empor, der Vertikalen des Rahmens angeglichen, die von der Kante des ausschnitthaft ganz an den Rand gedrängten und sich hell vom umgebenden Dunkel abhebenden Gebäudes zusätzlich betont wird. Die bis zur oberen Bildgrenze reichende Baumkrone verschmilzt mit den darunter befind-lichen, gleichfarbigen Gebüschen zu einem einheitlichen Formgebilde, dessen in-nerer, zunächst schräg anlaufender Umriss im oberen Abschnitt in großem Bogen nach links ausgreift. Mit den drei vis-à-vis positionierten dünnstämmigen Bäumen, deren Laubmassen einander durchdringen und sich zum Teil nach rechts neigen, resultiert daraus eine innerbildliche, der Form eines Ovals angenäherte Rahmung, die dem Betrachter einen tiefenräumlichen Ausblick auf den Fluss, die perspekti-visch organisierte Gebäudereihe und den Himmel öffnet.

Wie Röntgenaufnahmen offenlegen, war Giorgione ursprünglich von einem anderen Figurenkonzept ausgegangen, indem er links unten zunächst einen sit-zenden weiblichen Akt malte, diesen dann verwarf und in einem zweiten Arbeits-gang durch die Gestalt eines Jünglings ersetzte.389 Weit von der stillenden Mut-ter entfernt, ist dieser knapp an den linken Bildrand gedrängt. Das weiße Hemd und die rote Jacke bilden einen heftigen Bunt-unbunt-Kontrast, der seine Nähe zum Betrachter noch zusätzlich unterstreicht. Die beträchtliche Distanz zwischen den beiden Figuren wird dadurch überbrückt, dass sich das Weiß am Umhang der Kauernden wiederholt. Obwohl diese gegenüber dem Jüngling räumlich etwas zurücktritt, scheint sie angesichts ihres hellen Inkarnats und unterstützt durch den flächenkommunikativen Gestaltfaktor der Ähnlichkeit, wie er sich am Weiß nie-derschlägt, mit ihm auf einer annähernd gleichen Bildebene angesiedelt. Schon hier beginnt sich im Bild die mehrfach auftretende, Spannung erzeugende Am-bivalenz von Flächen- und Raumkomposition abzuzeichnen. Der Jüngling steht auf einer schmalen Felsplatte, deren Braunton unvermittelt in das Olivgrün ei-nes Rasenstücks mündet. Vor ihm öffnet sich der gefährlich dunkle Schlund des Quellbeckens, wodurch ihm ein Übertritt ans andere Ufer beziehungsweise eine direkte Kontaktnahme mit der Frauengestalt verwehrt bleibt. Er ist frontal und in Kontrapost-Haltung wiedergegeben. Arme und Beine stehen im Gegensatz: Dem Standbein entspricht der durchgestreckte rechte Arm, dem leicht gewinkelten und vorgesetzten Spielbein der gebogene und auf den Rücken gelegte Arm. Licht-Schatten-Kontraste verleihen ihm jene sanfte Beweglichkeit und „weiche Grazie“

(Justi), die den ähnlich gekleideten Gestalten in den früheren Bildern (z. B. in der Feuerprobe des Moses) noch fremd ist. Der Kopf ist ins Profil gedreht. Das von dunklem Haar gerahmte Antlitz zeigt – vor allem in der Augen- und Stirnpartie – starke Schattierungen; die Mundwinkel verraten ein verhaltenes Lächeln. Der Jüngling scheint die Kauernde zu betrachten, wobei die in seiner Schulterhöhe verlaufende Marmorplatte, auf der zwei Säulenstümpfe lagern, die genau auf den Kopf der Frau zielende Blickrichtung verdeutlicht. Zudem sorgt das auch an den Architekturelementen aufscheinende Weiß für eine Verbindung der beiden Prota-gonisten. Wie seine modische, an die Tracht von Mitgliedern der Compagnie della Calza erinnernde Kleidung (geschlitzte Hose und verschiedenfarbige Strümpfe)

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MYTHOS UND RÄTSEL verrät, präsentiert sich der Jüngling gewiss nicht in der ihm fälschlich von Michiel zugedachten Rolle eines Soldaten, zumal er anstatt einer Lanze einen Hirten-stab umfängt. Eller zufolge handelt es sich eher um einen der patrizischen Ge-sellschaftsschicht angehörenden Mann, der sich „als Hirte verkleidet“ hat.390 Die aufrechte Haltung des Jünglings wird von mehreren architektonischen Vertikalen unterstrichen. Zunächst von den erwähnten Säulenstümpfen, dann von dem über ihm aufragenden, ebenfalls fragmentarischen Bauwerk, dessen Höhenzug durch Blendarkaden verstärkt wird. Daneben ragt ein Bündel schlanker Baumstämme empor, welche die Richtung des Hirtenstabs fortsetzen. Zu den Senkrechten gesellt sich die Horizontale der Marmorplatte, die auf einem aus Ziegeln bestehenden Mauerblock lagert. An dessen rechter Abbruchstelle sind noch drei Ziegellagen stehen geblieben, die vermuten lassen, dass sich das Gemäuer ursprünglich – vor seiner Teilzerstörung – nach rechts fortgesetzt hat, um sich dem Fluss als Schutz-damm in den Weg zu stellen. Der Jüngling wird durch das rektangulär starre Sys-tem der Bauelemente hermetisch eingefasst. Er vertritt den engeren, durch Ar-chitektur versinnbildlichten Bereich menschlichen Schöpfertums, mit dem die der Frau zugedachte, von orthogonalen Eingriffen freie, viel weiter ausgreifende Zone natürlichen Wachstums kontrastiert. Dieser Gegensatz wird jedoch insofern aus-geglichen, als beide Zonen – die linke nachdrücklicher als die rechte – flächenpro-jektiv strukturiert sind.

Daran schließt der innerbildlich gerahmte Ausblick in die Fluss-Stadt-Land-schaft, deren Raumkontinuum lediglich durch die Horizontale der streng bildpa-rallel angelegten, visuell auch die vorderen Bildzonen miteinander verbindenden Brücke unterbrochen wird. Diese ruht auf Holzpfosten, deren auffallende Höhe dem Gefahrenpotenzial eines Hochwassers Rechnung trägt. Wenn Hetzer schreibt:

„Der aus der Tiefe nach vorne strömende Bach verbindet in kontinuierlicher Bewe-gung Ferne und Nähe“, so unterläuft ihm ein doppelter Irrtum: Zum einen handelt es sich nicht um einen Bach, sondern um einen Fluss, zum anderen strömt dieser nicht in den Vordergrund, wo sich das von ihm hermetisch abgeriegelte Quellge-wässer befindet.391 In Wirklichkeit fließt er in Richtung einer nach rechts unten fallenden Raumdiagonale, um dann abrupt hinter der die Kauernde hinterfangen-den Vegetation zu verschwinhinterfangen-den. Ein aus dem Wasser ragender Steinblock, an dem sich die Wellen brechen und rechts hinter ihm weißlich aufschäumen, gibt

„Der aus der Tiefe nach vorne strömende Bach verbindet in kontinuierlicher Bewe-gung Ferne und Nähe“, so unterläuft ihm ein doppelter Irrtum: Zum einen handelt es sich nicht um einen Bach, sondern um einen Fluss, zum anderen strömt dieser nicht in den Vordergrund, wo sich das von ihm hermetisch abgeriegelte Quellge-wässer befindet.391 In Wirklichkeit fließt er in Richtung einer nach rechts unten fallenden Raumdiagonale, um dann abrupt hinter der die Kauernde hinterfangen-den Vegetation zu verschwinhinterfangen-den. Ein aus dem Wasser ragender Steinblock, an dem sich die Wellen brechen und rechts hinter ihm weißlich aufschäumen, gibt

Im Dokument Band 3: Von Giorgione zum frühen Tizian (Seite 106-118)