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65Hinweis auf Giorgiones „Gefallen an Liebesabenteuern“ legitimiert. So gedacht ist

nicht zu übersehen, dass die beiden wichtigsten Faltenbahnen – die eine schräg über Judiths Oberkörper drapiert, die andere zwischen deren Beine geklemmt – ein gemeinsames Ziel haben: den durch eine Faltenspalte unverhohlen preisgege-benen Schoß der Heldin, der auch das formale Zentrum des Gemäldes markiert.

Steinböck zufolge „besteht eine gewisse Unentschiedenheit zwischen der durch das entblößte Bein besonders hervorgehobenen Körperlichkeit und der Verhüllung des Körpers durch eine flächenbetonte Draperie. Man gewinnt den Eindruck, als könnte sich die Figur von dieser Draperie ‚befreien‘, oder besser, als sei diese erst nachträglich hinzugefügt worden. Dies würde bedeuten, dass die Judith nackt konzipiert wurde“, wobei nur zu ergänzen wäre, dass Giorgione den Schritt zu völliger Nacktheit erst 1508 am Stehenden Frauenakt in einem Fresko am Fondaco dei Tedeschi vollzogen hat.201 Diese diskussionswürdige Theorie führt den Autor zur Frage nach der Genese des Judith-Figurentypus, dessen antike Wur-zeln in der Forschung schon immer außer Streit standen. In der Tat gab es in den Sammlungen venezianischer Adelshäuser, vor allem in jener des Kardinals Grimani, genügend „Antiken“ (darunter auch der Typus einer stehenden Venus), die Gi-orgione als Anregung gedient haben könnten. Steinböck nähert sich dem Prob-lem gleichsam auf Umwegen, indem er zunächst auf Albrecht Dürers Kupferstich Die Entscheidung des Herkules (1498/99) verweist, dessen drei Figuren untrüglich antiken, durch Grafikkopien beziehungsweise -studien vermittelten Quellen ver-pflichtet sind.202 Ein Vergleich mit Dürers Stich ist instruktiv, zumal die mit dem Stock auf die nackte Verführerin einschlagende Virtus mit ihrem nackten, vorge-stellten Bein und dem vom Gewand verhüllten Standbein beachtliche Parallelen zur Judith zeigt, zudem teilt sie mit dieser allein schon durch ihre erhöhte Position den Anschein von Abgehobenheit. Auch ein Blick auf die der Antike prinzipiell nä-her stehende florentinische Malerei bringt Analogien zutage. Hervorgehoben sei Steinböcks Hinweis auf Andrea del Sartos Justitia (Florenz, Chiostro dello Scalzo), deren Kontrapost-Haltung jedoch – und das ist der entscheidende Unterschied zur Judith – fest im Boden verankert ist. Hinzu kommt das Schwert, das Justitia osten-tativ vorweist und mit festem Griff umfangen hält, wogegen es Judith – lediglich als unverzichtbares Attribut anmutend – dezent zurücknimmt und nur mit den Fingerspitzen berührt.203

Wie problematisch eine am biblischen Text haften bleibende Deutung Ju-diths sein kann, hat E. Wind geradezu beispielhaft bewiesen, wenn er von einer

„schrecklichen Amazone […] von einer katzenhaften Eleganz und verderblichen Bezauberung“ spricht.204 Dass gerade das Gegenteil zutrifft, findet sich schon in Justis hermeneutischem Kommentar bestätigt: „Giorgione will nicht die Ge-schichte der Judith erzählen, der Retterin Bethuliens, die tapfer und heuchlerisch in das Lager des furchtbaren Holofernes ging, ihn betörte und enthauptete. […]

Kein Hinweis auf das Geschehnis, nicht durch die Dienerin, nicht einmal durch kleine Figuren im Hintergrund; nichts in Haltung oder Miene verrät etwas von gro-ßer Tat […] von patriotisch-frommer Erniedrigung des Weibtums zu mordender Tücke.“205 Diese Einschätzung bringt Tschmelitsch wie folgt auf den Punkt: „Das

17 Albrecht Dürer, Die Entscheidung des Herkules, Kupferstich

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DIE VENEZIANISCHE FRÜHPHASE ist nicht die blutrünstige Gestalt der Bibel, die Rächerin und Mörderin, es ist eine zwar blutvolle, doch eben eine Allegorie des Sieges des reinen Geistes über bru-tale Gewalt“ – eine Allegorie, fügen wir hinzu, die das Spannungsverhältnis zwi-schen Mann und Frau sowie politisch-militärischer Räson und liebender Hingabe zu universaler Aussagekraft erhebt.206 Ähnlich sieht dies Steinböck, allerdings um eine wichtige Bedeutungsnuance ergänzt: „Etwas Abstraktes setzt sich durch; eine Idee wird manifestiert. Die Erinnerung an Daviddarstellungen wird als gegenständ-lich verwandt empfunden; diese Judith ist etwa dem David Michelangelos ver-gleichbar, indem dieser Heros des Alten Bundes zum Träger einer konzentrierten Charakterisierung, einer aktualisierten Tugendhaftigkeit wird, die auf dem Boden eines zeitpolitischen Gehaltes steht.“207 Letzteres führt zu Eller, der den v-förmigen Kleidausschnitt über Judiths Bein als Anfangsbuchstaben Venedigs, folglich die alttestamentarische Heldin als Personifikation der über einen Feind triumphieren-den Venezia interpretiert. In der Tat ist es „möglich, dass Giorgione triumphieren-den biblischen Konflikt auf die venezianische Geschichte und Gegenwart überträgt“. Hier kommt der Landschaftsausschnitt mit der Stadtsilhouette ins Spiel, die Eller überzeugend mit Triest identifiziert. Danach handelt es sich um eine idealisierte, vom Norden her gesehene Darstellung der Stadt, die sich zwischen dem Wald am Monte Grisa und der von Bergen geschützten Meeresbucht erhebt, wobei die Kathedrale San Giusto mit dem gedrungenen, flach schließenden Campanile sowie das benach-barte Kastell einwandfrei zu erkennen sind. Dazu die erhellenden Ausführungen des Verfassers zum historischen Sachverhalt: 1369 besetzten die Venezianer Triest, mussten aber die Stadt bereits 1381 vertraglich den Habsburgern überlassen. „Der Konflikt war zur Zeit der Entstehung des Bildes latent und 1508–1509, also etwa vier Jahre nach Entstehung des Gemäldes wurde Triest erneut von den Venezia-nern besetzt, bis es 1509 endgültig an Maximilian von Öster reich fiel. Triest bil-dete eine Venedig erheblich störende Unterbrechung seines Territoriums und die Gleichsetzung mit der Grenzfestung Betulia scheint durchaus naheliegend.“208 Wie aus dem Zitat hervorgeht, datiert Eller die Tafel, m. E. korrekt, auf ca. 1503/1504, womit er sich Pedroccos früher Datierung („unweit der Madonna in Castelfranco von 1504“) annähert. Pignatti zufolge fällt die Judith in Giorgiones „nachbellini-anische“ Phase. Als Argument dafür nennt er eine „leichtere Pinselführung“, die den Anschein erweckt, „als habe ein unmerkliches Flimmern in den Konturen den bellinianischen Sinn für ‚Abgrenzungen‘ gegen die Tiefe atmosphärischer Räume aufgelöst“.209

Laut Pignatti zählt auch die Castelfranco-Madonna (Castelfranco Veneto, Dom) zu Giorgiones „nachbellinianischer“ Schaffensphase.210 Die Tafel ist Giorgiones ein-ziges erhaltenes Altargemälde und dessen erstes gesichertes Auftragswerk. Nach Ridolfi (Maraviglie dell’Arte, 1648) wurde sie von dem Kondottiere der venezia-nischen Republik, Tuzio Costanzo, anlässlich des Todes seines Sohnes Matteo für den Dom von Castelfranco in Auftrag gegeben.211 Matteo wurde in der dem hl.

Georg geweihten Kapelle beigesetzt, die Tuzio Costanzo entweder 1489 – nach seiner Ankunft in Castelfranco – oder nach dem frühen Tod seines Sohnes

erwor-Rechte Seite:

18 Giorgione, Castelfranco-Madonna, Holz, 200 x 152 cm, Castelfranco, Dom

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DIE VENEZIANISCHE FRÜHPHASE ben hatte. Als der Dom (Patrozinium: hl. Liberale) einem Neubau (Weihe: 1777) weichen musste, wurde die Familienkapelle von ihrem ursprünglichen Standort im rechten Bereich der alten Vorhalle in das rechte Seitenschiff des Nachfolge-baus versetzt.212 Die in die Wand eingelassene Grabplatte des Verstorbenen ist mit August 1504 datiert. Indessen existiert kein Archivmaterial, das dessen To-desdatum überliefert. Die früheste Textquelle zum Tod Matteos mit Bezug auf die Grabinschrift stammt von Francesco Sansovino, der in seinem Werk Della origine et de’ fatti delle famiglie illustri d’Italia von 1582 berichtet: „Der zweitgeborene Sohn Matteo, schön von Antlitz und von vornehmem Aussehen, in der Blüte sei-ner 23 Jahre Anführer von 50 Lanzen, wurde zu Lebzeiten seines Vaters im Casen-tinischen Krieg verwundet, und da er im Jahre 1504 in Ravenna starb, schrieb man ihn auf sein marmornes Grab.“ Die erste Erwähnung des Altarbildes findet sich in den anlässlich des Besuchs des Bischofs von Treviso in Castelfranco 1635 verfassten visite pastorali, in denen das Gemälde als „von der Hand des hochbe-rühmten Malers Giorgione aus Castelfranco gemalt“ angesprochen wird.213 Diese Zuschreibung sowie der künstlerisch hohe Rang des Altarbilds wurden nie infrage gestellt. Auch Joachim von Sandrart hat es 1683 als „Hauptwerk“ des Malers bezeichnet.214 Ausgerechnet Roberto Longhi, in Italien wie eine Ikone der Kunst-wissenschaft verehrt, bildet eine Ausnahme, wenn er dem Werk eine „gewisse Unsicherheit“ anlastet, ja sogar von einem „kläglichen, glücklicherweise folgen-losen Versuch“ spricht.215 Einen relevanten Quellenwert hat auch der von Nadal Melchiori veröffentlichte Catalogo historico di Castelfranco (1724–1735), in dem von der Grabkapelle („errichtet für Tuzio Costanzo [den Sohn des Muzio, Admiral und Vizekönig von Zypern], der für die venezianische Republik Soldaten anführte und in Castelfranco wohnhaft war“) und vom Tod Matteos 1504 in Ravenna so-wie dessen Beisetzung „am Altar des hl. Georg“ im Dom von Castelfranco (die Nennung der Grabplatte mit Inschrift inbegriffen) berichtet wird. Was die Datie-rung des Gemäldes anlangt, gibt es eine qualifizierte Mehrheit von Forschern, die sich, ausgehend vom Kontext mit Matteos Tod und dem auf dessen Grabplatte vermerkten Datum „August 1504“, das als Terminus post quem angesehen wird, für 1504/1505 einsetzt. Ungeachtet dessen gibt es auch Gegenstimmen, die – im Anschluss an Richters Datierung „nicht später als 1500“ – für um 1500, bisweilen sogar für das Ende des Quattrocentos plädieren; darunter prominente Kunsthis-toriker, wie Ballarin, Humfrey und Anderson, die somit den Produktionsanlass von Matteos Tod leugnen und, was noch gravierender ist, den Umstand übergehen, dass ihre Frühdatierung auch eine radikale Revision der tatsächlich frühen Werke Giorgiones mit sich bringen würde.216

In die Datierungsdebatte hat sich unlängst auch Settis eingeschaltet, beginnend mit der Frage, ob das auf der Grabplatte angeführte Datum „wirklich das Todes-datum Matteos ist, wie gemeinhin angenommen wird? Zweifellos nicht“, so seine die Untersuchungsergebnisse vorwegnehmende Antwort. Wie die in der Inschrift der Jahreszahl vorangestellten Wörter pientissime posuit zu bestätigen scheinen,

„handelt es sich nicht um [Matteos] Todesdatum, sondern um jenes, zu dem das Denkmal [die Grabplatte] gesetzt und gewidmet wurde. Es ist möglich, dass zu

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