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61DIE VENEZIANISCHE FRÜHPHASE

wohl seine mit 1487 datierte Madonna degli Alberetti – ein Andachtsbild, dessen

weiches Licht-Schatten-Spiel deutliche Anklänge an ein sfumato zeigt, wobei vor allem das halb verschattete Antlitz der Gottesmutter Giorgione beeindruckt haben dürfte.188 Dass das Gemälde im Palazzo Pitti in Giorgiones bellinianische Periode fällt, darüber besteht in der jüngeren Forschung ein weitgehender Konsens, was allerdings noch keineswegs dazu berechtigt, es – so Lucco im Anschluss an Pignatti – „in die ersten Monate von 1500“, also in unmittelbarer Übereinstimmung mit Leonardos Präsenz in Venedig zu datieren. Meines Erachtens kommt Anderson der Wahrheit am nächsten, wenn sie für eine knapp nach der Allendale-Gruppe liegende Entstehungszeit plädiert.189

Das Gemälde ist vermutlich das früheste von Giorgiones änigmatischen, mehr-deutigen Werken. Die im 17. Jahrhundert geprägte Bildbezeichnung „Marc Aurel zwischen zwei Philosophen“ erscheint beliebig gewählt, zumal der römische Kai-ser ohne Weiteres auch von einem anderen, mit Philosophie und Kunst vertrauten Herrscher, wie etwa Alexander dem Großen, namentlich ersetzt werden könnte.

Auch der Titel „Konzert“ (Pignatti) besagt wenig, wo es sich laut Lucco doch ledig-lich um eine „lezione di canto“ (= Gesangsstunde) handelt. Kurios erscheint mir Ellers Deutungsversuch, der im ein deutliches V bildenden Mantelsaum des Knaben den Buchstaben der Venus symbolisiert sieht, an Vasaris Text erinnernd, wonach Giorgione als versierter Lautenspieler sowohl der Musik als auch schönen Frauen sehr zugetan war.190 Viel naheliegender ist es, die V-Form als Anspielung auf den möglichen Auftraggeber, die Familie Vendramin, zu interpretieren, freilich nur unter der Voraussetzung, dass jenes einst in der Vendramin-Sammlung befindliche und im Inventar als „Bild mit drei Singenden“ beschriebene Gemälde („Un quadro de man de Zorzon de Castelfranco con tre testoni che canta“) tatsächlich mit den Drei Lebensaltern identisch ist. Sollte dies nicht zutreffen, ist immer noch zu be-denken, dass sich damals, wie von Michiel verbürgt, auch Giorgiones Tempesta im Besitz der Vendramin befand.191 Bei genauer Betrachtung bemerkt man auch an der Rockbordüre des rechten Mannes zahlreiche kleine, in das Goldornament eingewobene v-Zeichen – ein weiteres Indiz dafür, dass hier drei, verschiedenen Generationen angehörende Mitglieder der Vendramin-Familie abgebildet sein könnten. Zumindest die extrem realistisch anmutenden Gesichtszüge des Alten las-sen Gedanken an eine konkrete Porträtwiedergabe aufkommen. Doch damit sind hermeneutische Überlegungen zur Vielschichtigkeit der Bildaussage noch keines-wegs erschöpft. Denkt man an die signifikante Affinität des rechten, vom sfumato besonders berührten Gesichts mit Leonardos Kopfstudie, ist sogar eine Hommage auf den großen Florentiner nicht auszuschließen. Stößt diese Idee auf Akzeptanz, wird der Betrachter vielleicht geneigt sein, den Knaben mit dem jungen Giorgione in Verbindung zu bringen, der von Leonardo über die neuen Zielsetzungen der Ma-lerei und ihren Bezug zur Musik unterrichtet wird. So gedacht liegt es nahe, im Al-ten Bellini zu vermuAl-ten, der den bevorstehenden Innovationen mit unverkennbarer Skepsis – einem typischen Wesenszug der älteren Generation – begegnet.

Über all diesen Bedeutungsebenen steht als universale Aussage die durch das Notenblatt verkörperte Beziehung zwischen Musik und Malerei, vom Umstand

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DIE VENEZIANISCHE FRÜHPHASE ausgehend, dass der einfühlsame Betrachter bestimmte Farbtöne und -kombinati-onen häufig mit musikalischen Erfahrungen assoziiert. Gemäß den Vorstellungen des Neoplatonismus, der an der Universität in Padua sowie in den Bildungsstätten Venedigs großen Anklang fand, galt, wie Ballarin näher ausführt, „die Musik und insbesondere der Gesang als direktester Ausdruck der Seele“, wobei sich, so Eller,

„die verschiedenen Tonarten mit den neuplatonischen Prinzipien der Harmonie und der Vollkommenheit verbinden“. Mit Worten Bandmanns: „Jedes Ding [so auch die Malerei] kann sich der Vollkommenheit nur in dem Maße nähern, in-dem es selbst Musik in sich hat, inin-dem es den ewigen Ordnungen angeglichen erscheint.“192 Mit neuplatonischem Gedankengut dürfte Giorgione vor allem bei seinen zeitweiligen Aufenthalten am Hof von Asolo, wo sich Caterina Cornaro mit einem Zirkel prominenter Humanisten mit dem Poeten Pietro Bembo als Mittel-punkt umgeben hatte und sich wohl auch am Lautenspiel Giorgiones erfreute, in Berührung gekommen sein.193

Einst galt die Tafel Judith mit dem Haupt des Holofernes (von Holz auf Leinwand übertragen; St. Petersburg, Eremitage) als Werk Raffaels. In der Sammlung Pierre Crozats wird sie 1729 erwähnt und im Zusammenhang mit der Herstellung einer Kupferstich-Kopie von Toinette Larcher weiterhin als Arbeit Raffaels geführt.194 Erst 1770, als die Tafel – etwa zwei Jahre vor ihrer Veräußerung an Katharina II. von Russland – in den Besitz Louis-Antoine Crozats gelangt, werden Zweifel an der Raffael-Authentizität wach, wird der Meister aus Castelfranco mit dem Vermerk

„Giorgione non de Raphael“ erstmals als Schöpfer des Gemäldes in Betracht gezo-gen.195 Doch erst beinahe ein Jahrhundert später wurde das Bildwerk von Penther, Richter und Morelli, nunmehr auf Basis kunstwissenschaftlich gestützter Überle-gungen, Giorgione zugewiesen – eine Zuschreibung, die fortan fast ausnahmslos Akzeptanz fand.196

Mit der Darstellung der ihren Fuß auf das abgeschlagene Haupt Holofernes setzenden Judith betritt Giorgione ikonografisches Neuland. Ihre schlanke, bei-nahe die gesamte Bildhöhe umfassende Erscheinung ist durch das extrem schmale Hochformat des einst wohl als Schranktür dienenden Gemäldes präjudiziert. Den Beweis dafür liefert ein Holzpfropfen in der Originaltafel, der – vor deren Über-tragung auf Leinwand – das Schlüsselloch ausfüllte.197 Die biblische Heldin steht vor einem dunkelbraunen Gemäuer, dessen rhythmisch versetzter Steinquaderung man bereits in der hl. Familie-Benson und der Oxforder Madonna begegnet. Das Mauerwerk wird rechts, wo es Judith als Armstütze dient, von einem mächtigen Baumstamm überhöht und links abgestuft, den Blick auf eine Landschaft mit Stadtansicht und Gebirgshintergrund freigebend. Zusammen mit der Vertikalen des Baums und den horizontalen Landschaftsschichten bildet es das orthogonale Grundgerüst der Komposition, in das Judith straff eingebunden ist. Ihr leicht ge-neigtes Haupt entspricht der Form eines Ovals, die von flächenhaft geglättetem Haar, aus dem sich nur zwei dünne Löckchen gelöst haben, zusätzlich betont wird.

Das zwischen Licht und Schatten changierende und darin einmal mehr Leonardos sfumato angeglichene Antlitz zeigt sanfte, fast schon zärtlich gestimmte Züge,

Abb. 16, S. 63

63 16 Giorgione, Judith, Leinwand (urspr. Holz),

144 x 68 cm, St. Petersburg, Eremitage

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DIE VENEZIANISCHE FRÜHPHASE die an jene der Madonna von Castelfranco erinnern, womit eine Beziehung an-klingt, auf die bereits Richter in einem an Morelli adressierten Brief mit Hinweis auf den „Castelfranco-Typus“ aufmerksam gemacht hat.198 Einem halbierten Nimbus gleich, wölbt sich über Judiths Haupt ein belaubter Zweig des Baums. Demütig senkt sie ihren Blick auf den Kopf des Holofernes, über dessen Schicksal sie, von Mitleid, vielleicht sogar Zuneigung erfüllt, nachzusinnen scheint. Das Gesicht des Feldherrn, das Pignatti für ein Selbstporträt Giorgiones hält, zeigt keinerlei Spu-ren eines Todeskampfes.199 Wie die geschlossenen Augen verraten, wurde er vom Schwertstreich im Schlaf überrascht. Sein leicht geöffneter Mund ist keineswegs als Aufschrei, vielmehr als seliges Lächeln nach einem beglückenden Liebesakt zu deuten.

Judith trägt ein rosafarbenes Kleid mit rundem Halsausschnitt, in dem sich das Oval des Kopfs, nunmehr quer gestellt, wiederholt. Wie die zurückgenommene rechte Schulter und der vom Körper partiell überschnittene rechte Arm verra-ten, ist sie aus der Frontalansicht leicht nach links gedreht. So gesehen steht die Gestalt im Zeichen einer verhaltenen Dynamik, die durch die in Gegenrichtung zielende Kopfwendung, vor allem aber durch eine spezifische Lichtführung un-terstützt wird, die einen markanten Hell-dunkel-Kontrast bewirkt. Demzufolge ist das Rosa am linken Teil des Kleides in eine tiefe Tonlage transponiert, woge-gen es rechts fast gänzlich vom Licht absorbiert wird, so weit gehend, dass es schon beinahe dem Inkarnatston angeglichen ist. Eng an den Leib geschmiegt, lässt die Transparenz des Kleides Judiths Körperformen erahnen, nahezu den Ein-druck von Nacktheit evozierend. Um das Kleid schlingt sich ein mit einer Schleife verknoteter Stoffgürtel, dessen provisorische Anordnung den hastigen Aufbruch nach der Liebesnacht und dem Schwertstreich bezeugt. Judiths linkes Bein, des-sen elegante Kurvatur von der Schulter ihren Ausgang nimmt, ist, anscheinend unter Zuhilfenahme der Hand, bis zur Mitte des Oberschenkels entblößt – ein in den Augen der Zeitgenossen gewiss hocherotisches Motiv. Der Fuß ruht auf der Stirn des Enthaupteten, wider Erwarten keineswegs lastend, vielmehr behutsam aufgesetzt. Daran knüpft die gravierende Frage nach dem Standmotiv, das von der Ausgewogenheit eines Kontraposts denkbar weit entfernt ist, zumal die tragende Funktion des rechten, verhüllten Standbeins, dessen dem Haupt des Holofernes unterschobener Fuß fast völlig im Dunkel versinkt, nur sehr schwach zur Geltung kommt.200 Mit der Überlistung der Schwerkraft einhergehend, verliert die Gestalt an Bodenhaftung und scheint – darin an antike Nike-Figuren erinnernd – nahezu zu schweben. Dieser Eindruck wird durch die spezifische Drapierung des Kleides, der ein erhebliches dynamisches Potenzial anhaftet, wesentlich verstärkt. Wie von einem Windstoß erfasst, wird der untere Abschnitt des Kleids, den Bodenkontakt einbüßend, hochgewirbelt, dazu passend die nervös-knittrige Faltengebung, de-ren stilistische Herkunft aus nordischen Vorbildern unverkennbar ist. Dass die Fal-tenzüge einen relevanten Beitrag zur Komposition, ja, mehr noch, zur Bildaussage leisten, ist unverkennbar. Sofern Pignattis Identifikation des Enthaupteten mit ei-nem Selbstporträt Giorgiones Akzeptanz findet, könnte man hier sogar den Willen des Künstlers zur Selbstreflexion in Erwägung ziehen, nicht zuletzt durch Vasaris

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