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33FRÜHE SCHAFFENSPERIODE

gemein mit „venezianischer Schule des 16. Jahrhunderts“ begnügen.95 Auch die Ikonografie und im Verbund damit der Bildtitel Der Astrologe geben Rätsel auf, wiewohl die Forschung an dieser von jeher gebräuchlichen Bezeichnung ebenso hartnäckig wie fälschlich festhält, unabhängig davon, dass schon Stedman Sheard die Figur des angeblichen Astrologen als den Zeitgott Chronos und den daneben auf der Viola spielenden vermeintlichen Engel als Orpheus identifiziert und damit den wahren ikonologischen Gehalt aufgedeckt hat.96

Analog zu Leda mit dem Schwan expandiert die Landschaft, skandiert durch schräg verlaufende Bodenschwellen, mehr in die Breite als in die Tiefe. Wie in der Ländlichen Idylle wird das Figurenpaar von Buschgruppen flankiert, auf de-nen braune, tupfenartig aufgesetzte Blätter verstreut sind, die dem Ganzen eide-nen herbstlichen Anstrich verleihen. Abgesehen von Orpheus’ weißlichem Kleid sind dunkle Farbtöne vorherrschend, die nahezu den Eindruck eines notturno wachru-fen. Letzteres hängt damit zusammen, dass die hinter einer v-förmigen Gebirgs-senke wie ein Feuerball untergehende Sonne mit ihrem von Orange zu Gelb wech-selnden Lichthof die beiden Bergrücken im Gegenlicht somit in Düsternis versetzt erscheinen lässt. Signifikant für das Bild ist dessen lyrische Stimmung, die sich in ambivalenter Weise mit einer spezifischen Lichtdramaturgie verbindet, wie sie sich dereinst auch in der Tempesta manifestieren wird. Darüber hinaus gibt nicht zu-letzt die Übereinstimmung der Bildmaße mit jenen der beiden Paduaner Täfelchen den mitentscheidenden Anlass, das Washingtoner Bild Giorgione zuzuschreiben.97

Hornig zufolge „haben von allen sog. Cassone-Tafeln des Giorgione-Kreises nur die beiden Bilder [Auffindung und Übergabe des Paris; Mailand, Slg. Gerli]

jene Eigentümlichkeit und jenes technische Können, das eines bedeutenden Ma-lers würdig ist“.98 Abgesehen vom etwas übertriebenen, implizit den Stellenwert der Kleinen Landschaften verkennenden Qualitätsurteil ist auch die Bezeichnung cassone-Bild problematisch, zumal die beiden Gemälde (ursprünglich auf Holz ge-malt) über ein deutlich größeres Format als die Kleinen Landschaften verfügen, zudem angesichts ihrer minutiösen Kleinteiligkeit in Figur und Landschaft jene

6 Giorgione, Orpheus und die Zeit, Holz, 12 x 19,5 cm, Washington, Phillips Memorial Gallery

Abb. 7, S. 34 Abb. 8, S. 34

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GIORGIONE

künstlerische Freiheit vermissen lassen, wie sie für die besprochenen cassone-der charakteristisch ist. Zutreffencassone-der ist Tschmelitschs Beurteilung cassone-der beiden Bil-der, denen „etwas sehr Kindliches, eine bescheidene, unverbildete Fabulierlust“

anhaftet, eine „infantilità-palese“, wie bereits Fiocco festgestellt hat.99 Schon zuvor hatte Cook das Bilderpaar als Werk des 15- oder 16-jährigen Giorgione benannt. Mit dem Datierungsvorschlag „the earliest of his panel pictures“ folgte ihm Conway, der die Landschaften als Gegend um Marostica und Tal der Brenta identifiziert, folglich als „natural landscape“ anspricht. Als Gegensatz dazu nennt er Giovanni Bellinis Allegoria Sacra (Anf. 16. Jahrhundert; Florenz, Uffizien), de-ren idealisiert-konstruierte Landschaft er antitypisch als „artificial landscape“ be-zeichnet – auch ein Beweis dafür, wie sich hier Giorgiones neuartige Landschafts-auffassung bereits im Keim ankündigt.100 Wie schon Conway, setzt auch Hornig die beiden Gemälde aus der Sammlung Gerli in die Zeit um 1495, sinngemäß als stilistische Vorstufe zu den beiden in den Uffizien aufbewahrten Bildern (Feu-erprobe des Moses und Das Urteil Salomos). Der in der Forschung umstrittenen Zuschreibungsproblematik – neben einem venezianischen Anonymus werden auch Catena und Campagnola in Betracht gezogen – begegnet der Verfasser mit einem Hinweis auf „verblüffende“ Parallelen zu den beiden Uffizien-Bildern – Überlegun-gen, die von der folgenden Fachliteratur (Anderson, Lucco, Pignatti und Eller) mit der kommentarlosen Streichung der Paris-Bilder aus Giorgiones Werkverzeichnis ignoriert wurden.

Wie in den Uffizien-Gemälden sind auch in den Paris-Szenen die Figuren im Vordergrund angeordnet. Da die Auffindung des Paris die m. E. künstlerisch ge-lungenere Lösung präsentiert, sei hier von einer Besprechung der Übergabe des Paris Abstand genommen. Die Figuren der Auffindung entsprechen in ihrer steifen Haltung und ihren „eckigen, gebrochenen, teigigen Faltenbahnen“ jenen im Urteil

Rechts:

7 Giorgione, Auffindung des Paris, Holz, 44 x 65 cm, Mailand, Sammlung Gerli

Links:

8 Giorgione, Übergabe des Paris, Holz, 44 x 65 cm, Mailand, Sammlung Gerli

Rechte Seite:

9 Giorgione, Urteil Salomos, Holz, 89 x 72 cm, Florenz, Uffizien

Abb. 7

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Salomos. Auf ein und derselben Ebene postiert, sind sie locker gruppiert und auf rein narrative Funktionen beschränkt. Im Unterschied zum Urteil hat der Künstler auf eine kompositionelle Strukturierung der Protagonisten fast vollständig verzich-tet. Gleichwohl sind hinsichtlich der Figurenhaltung determinierende Analogien zum späteren Uffizien-Bild nicht zu leugnen. Laut Hornig entspricht der Jüngling mit seinem quer über den Körper geführten, auf den nackten Paris-Knaben ver-weisenden rechten Arm der greisen Männergestalt im Urteil Salomos, für welche die in entgegengesetzten Richtungen kommunizierende Kopf- und Armhaltung gleichfalls charakteristisch ist. Bei den beiden bürgerlich gekleideten Männern im Zentrum des Paris-Bildes ist es der linke, der mit seinem weggestreckten Arm und der Faltenstruktur des Mantels eine merkliche Affinität mit der auf der Bildachse angeordneten guten Mutter des Salomo-Urteils erkennen lässt. Zampetti zufolge besteht bei den Paris-Bildern bezüglich der Integrationsfähigkeit des Figuralen in das Landschaftsambiente ein gravierender Mangel: „Bisogna tuttavia notare, che mancha quella fusione tra figure e paesaggio.“101 Dies mag für die Übergabe des Paris zutreffen, weit weniger für die Auffindung. Zampetti interpretiert die man-gelhafte Fusionierung von Figur und Landschaft als Zeichen einer frühen künstleri-schen Entwicklungsstufe, um gleich danach eine „collaborazione“ zweier Künstler – der eine für die Landschaft, der andere für das Figurale verantwortlich – zu ver-muten. Im Übrigen hat Giorgione auch in den Uffizien-Bildern auf einen kontinu-ierlichen Übergang vom Figuralen zum Landschaftsraum insofern verzichtet, als er die beiden Bereiche einerseits durch eine steil aufgerichtete Bodenwelle, ande-rerseits durch eine wandähnliche Gebüschformation strikt voneinander trennt. So gesehen ist die Integration des Figurenensembles in den Landschaftsraum in der Auffindung des Paris im Vergleich mit den Uffizien-Bildern – sofern man darin ein Qualitätskriterium zu sehen glaubt – als geglückter zu betrachten.

Ein schon am unteren Bildrand sichtbarer Fluss, dessen Verengung durch einen Brettersteg überbrückt wird, verläuft schräg in die Tiefe und bewirkt eine diago-nale Bildhalbierung mit rhythmisch abgestuften Bergmotiven, mit denen eine klare Unterteilung in Vorder-, Mittel- und Hintergrund einhergeht. Das rechte Bildviertel wird von einem steilen, rechts und oben vom Bildrand überschnittenen Berghang beherrscht, den ein sandiges Bodenareal umgürtet. Daraus resultiert ein proszeni-umsartig in den Vordergrund gerücktes Versatzstück, das dem Paris-Knaben und den mit wenig Bodenhaftung versehenen Männern als Standfläche dient. Unter diesen nimmt der auf das Kind weisende Jüngling eine Schlüsselstellung ein, zu-mal er, dynamisch nach zwei Seiten vermittelnd, optisch in die Keilspitze des einer Kulisse gleich in das Bild eindringenden Hügels eingebunden ist. Schräg gegen-über erhebt sich, räumlich zurückgestuft und – kontrastierend mit dem dunklen Berghang im Vordergrund – dem Licht ausgesetzt, ein von einem Kastell bekrönter Hügel, an dessen Felswand sich ein befestigtes Städtchen schmiegt. Wie die de-taillierte Darstellung der Gebäude, lassen auch die auf dem Fluss schwimmenden Schwäne an die naive Handschrift eines jugendlichen Künstlers denken. Diese De-tailtreue macht sich sogar noch im Hintergrund bemerkbar, wo ein bildparallel angelegter Gebirgszug, in den Rhythmus der Hell-dunkel-Kontraste eingebunden,

Rechte Seite:

10 Giorgione, Feuerprobe des Moses, Holz, 89 x 72 cm, Florenz, Uffizien

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GIORGIONE den Abschluss bildet. Im Ganzen gesehen kündigt sich hier bereits Giorgiones ex-zeptionelle Leistungsfähigkeit als Landschaftsmaler an, dem – wie auch die kleinen cassone-Bilder bestätigen – der Entwicklungsschritt von der künstlichen (artificial landscape) zur natürlichen (natural landscape) Landschaft zu verdanken ist, wie-wohl eine gelungene Integration des Figuralen noch auf sich warten lässt.

1795 gelangten das Urteil Salomos und die Feuerprobe des Moses, ursprünglich als Werke Giovanni Bellinis bezeichnet, in den Besitz der Uffizien in Florenz. 1843 wurden die Tafelbilder erstmals von Rosini – 1871 von Cavalcaselle wissenschaftlich bestätigt – Giorgione zugewiesen. Laut Morelli habe der Künstler die Bilder „in sei-nem 16. oder 18. Jahre gemalt“. Damit plädiert der Autor für eine Zuordnung der beiden Werke in die frühe Schaffensperiode Giorgiones, eine Grobdatierung, der die Forschung – abgesehen von Schwankungen zwischen ca. 1495 bis 1500 – bis heute nur selten widersprochen hat.102 Seit Gronau (1908) hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass das Urteil Salomos – angesichts stilistischer und qualitativer Un-terschiede – früher als die Feuerprobe entstanden ist.103 Gleichwohl gehören die beiden Tafeln aufgrund genau übereinstimmender Maße zusammen, was auf einen gemeinsamen Auftraggeber – laut Lucco vielleicht eine Persönlichkeit der venezia-nischen Justiz, wie die Themen der Gemälde nahelegen – schließen lässt, der erst mit einiger Verzögerung die Feuerprobe nachbestellt hat.104 Bezüglich Giorgiones Eigenhändigkeit erhob schon Fiocco (1915) die ersten Zweifel, die bis heute nicht restlos getilgt wurden. Ein Paradebeispiel ist Eller, der die Tafeln in seiner jüngst edierten Monografie aus dem Œuvre-Verzeichnis Giorgiones eliminiert und mittels unhaltbar komparatistischer Maßnahmen Carpaccio zugeschrieben hat. Damit reiht sich Eller in jene Schar von Kunsthistorikern, die, Giorgiones Beteiligung aus-schließend, Romanino, Rocco Marconi und Catena als Schöpfer der Uffizien-Bilder betrachtet haben. Hinsichtlich der Ausführung der Gemälde hat Fiocco vor allem Giulio Campagnola ins Spiel gebracht – eine These, die sogar noch sechs Jahr-zehnte später bei Tschmelitsch ein positives Echo fand. Mit dem Aufkommen der Erkenntnis, dass es sich bei den Landschaftsteilen um zweifelsfrei authentische Leis-tungen Giorgiones handelt – laut Pedrocco sind es „die ersten, authentisch giorgio-nesken Landschaften“ –, gelangte Berenson zu folgendem Resümee: „Landschaft eigenhändig, Figuren von Mitarbeitern“, eine auf die Nennung Campagnolas ver-zichtende Einschätzung, der bis in die Gegenwart manche Fachleute etwas abge-winnen können. Geht man von der wohl in erster Linie entwicklungsmäßig be-dingten, ebenso qualitativ wie kompositionell konstatierbaren Differenz zwischen Landschaftlichem und Figuralem aus – Ähnliches ist schon bei den Paris-Bildern zu beobachten –, so sind im Nebulosen stecken bleibende Hilfsbegriffe, wie „Mitarbei-ter“ oder „Giorgione mit Werkstatt“ (Pignatti, 1969, S. 98), eigentlich überflüssig, zumal sich ein noch nicht 20-jähriger Künstler wohl kaum den Aufwand einer eige-nen Werkstatt leisten konnte. Selbst erheblich später war Giorgione noch auf die Beteiligung am Atelier Catenas angewiesen. So gedacht ist es nicht verwunderlich, dass sich eine ansehnliche Gruppe von Kunsthistorikern (Conway, Zampetti, Hor-nig, Perissa Torrini, Lucco und Anderson) dazu entschieden hat, Giorgiones weitge-hende Eigenhändigkeit an den Uffizien-Bildern anzuerkennen.105

Abb. 9, S. 35

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