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2.2. Begriffsdiskussion

2.2.3. Soziale Diagnose – zwischen Kritik und Forschung

Der Begriff der „Diagnose“ kommt aus dem Griechischen, meint die „Unterscheidung“

oder „Entscheidung“ und wird mit dem Erkennen und der Bezeichnung von Krankheiten

gleichgesetzt. (Pschyrembel Klinisches Wörterbuch 2011:470). Aus medizinisch - therapeutischer Sicht wird also ein ExpertInnenwissen vorausgesetzt, dass dem/der LaiIn offensichtlich fehlt. Dieses Wissen wird hauptsächlich aus naturwissenschaftlichen Erkenntnissen geschöpft (vgl. Heiner 2005:253). Die Soziale Diagnose in der (Klinischen) Sozialen Arbeit unterscheidet sich jedoch von diesem Verständnis in seinen Grundsätzen und soll in den folgenden Zeilen näher erläutert werden.

Historische Entwicklung

“In modern social work, about everybody agrees there is a need for diagnosis and research to happen before care provision. It was Richmond who systematically developed the content and methodology of diagnosis in the period around 1910.

Her first principle was that care had to focus on the person within her or his situation.” (Steyaert 2013: Mary Allen Richmond)

Mary Richmond, Begründerin der Einzelfallhilfe, veröffentlichte wenig später ihr Werk

„social diagnosis“ (1917), welches nachhaltig die Ausbildung von SozialarbeiterInnen in der Einzelfallhilfe, jedoch vorerst nicht über die Grenzen der USA hinweg, prägte. Im deutschsprachigen Raum, zu weiteren Forschung angeregt, war es Alice Salomon, welche die Arbeit Richmonds zur Sozialen Diagnose und Sozialen Therapie weiterentwickelte. In Ihrem Text „Soziale Diagnose“ (1926) betont Salomon die Herausforderung einer spezifischen Lageeinschätzung von KlientInnen und ihrem sozialen Umfeld. Sie plädiert für eine methodische Vorgehensweise, in der eine Diagnostik nicht nur die Ermittlung von Daten in den Mittelpunkt stellt, sondern auch die richtige Deutung von Problematiken erfordert. Die Forderungen von Sozialer Diagnostik - unter wissenschaftlicher und theoretischer Fundierung in Verbindung mit der Praxisanwendung - im sozialarbeiterischen Kontext scheinen jedoch bis heute, großflächig betrachtet, uneingelöst zu bleiben (vgl. Braches-Chrek 2013:23,171;Gahleitner et al. 2014:7;Pauls 2013:201f).

Der Begriff der Sozialen Diagnose verschwand im Zuge der Machtübernahme der Nationalsozialisten einige Zeit aus dem sozialarbeiterischen Sprachgebrauch. Erst In den 1960er und -70er Jahren bezog man sich auf den Begriff, jedoch in einer kritischen Weise wieder. Dabei stand im Mittelpunkt der Kritik nicht so sehr das methodische Handeln, sondern eher der politische Zweck (vgl. Buttner 2014:40;Gahleitner et al. 2014:8).

Betrachtet man die im Nationalsozialismus ausgesonderten Gruppen von lern- und geistig behinderten Menschen, trug die Diagnostik wesentlich zur Verfehlung des gesellschaftlichen Auftrags von Sozialer Arbeit bei:

„Der allzu lange Widerstand der Sozialen Arbeit gegenüber Diagnostik dürfte – trotz der professionsinternen Vorbilder Richmond und Salomon – nicht zuletzt auf die Skepsis gegenüber den politisch und moralisch zweifelhaften (z.B. soziale Ungleichheit stabilisieren) Verwendungskontexten von medizinischer und psychologischer Diagnostik zurückzuführen sein.“ (Buttner 2014:40)

Durch die Psychiatrie-Enquete 1975 rückte die Einzelfallarbeit wieder mehr in den Mittelpunkt und richtete den Blick auf soziale Faktoren, die als bedeutend für die Entstehung von (psychischen) Erkrankungen gelten. In Zusammenhang mit der Ausbildungserneuerung in Deutschland (Akademisierung), aber auch in Österreich (siehe Kapitel 4. - Akademie für Sozialarbeit ab 1975), rückte auch die Soziale Diagnose wieder in die Methodendiskussion zurück (vgl. Gahleitner et al. 2014:8f).

Begriffsbestimmung

In der Literatur finden differenzierte Begriffe wie soziale Anamnese, Soziale Diagnose, sowie psycho-Soziale Diagnose häufig Anwendung. Diese bedürfen einer kurzen Bestimmung.

Der Begriff der Sozialen Anamnese ist im Krankenhaussetting deutlicher durch sozialarbeiterische Tätigkeiten verankert. Die Sozialanamnese wird als vorangehenden Schritt, als Bestandsaufnahme der psycho-sozialen Situation verstanden, in welchem ein Erstgespräch bzw. Erstkontakt stattfindet. Darauf aufbauend kann eine Sozialen Diagnose entwickelt werden (vgl. Bienz/Reinmann 2004:21).

Vor allem in der Klinischen Sozialen Arbeit wird von psycho-Sozialer Diagnose gesprochen (vgl. Gahleitner et al. 2014; Pauls 2013). Da eine soziale Situation immer auch die psychische beeinflusst und umgekehrt, kann keine strikte Trennung in Bezug auf den Output der Diagnose gemacht werden. Sie zielt sowohl auf das soziale als auch auf das psychische Befinden von KlientInnen ab, die sich ja meist schon in komplexen psycho-sozialen Problemlagen befinden.

Peter Pantucek-Eisenbacher, Department Leiter des Master-Lehrgangs „Management im Sozialwesen“ an der Fachhochschule St. Pölten beschäftigt sich in seinem Werk „Soziale Diagnostik“ (2012) mit unterschiedlichen Instrumenten für die angewandte Sozialarbeitspraxis in Österreich. Er definiert die Prozesshaftigkeit als wichtiges Merkmal der Sozialen Diagnose:

„Ein so verstandener Prozess der Sozialarbeit ist eben nicht durch den aus der Medizin bekannten Dreischritt Anamnese – Diagnose – Intervention gekennzeichnet, sondern die Anamnese ist schon Beratung, diagnostische

Schritte sind bereits Interventionen, und Interventionen treiben die Diagnose voran.“ (Pantucek 2012:18)

In der hier vorliegenden Arbeit wird dennoch hauptsächlich von Sozialer Diagnose gesprochen, um die soziale Dimension als klare Expertise der (Klinischen) Sozialen Arbeit hervorzuheben.

Soziale Diagnose als Methode im Krankenhaus

Der OBDS weist als allgemeinen Gegenstand der Sozialen Arbeit die Soziale Diagnose, unter besonderer Berücksichtigung von Lebenslagen, aus. Speziell im Krankenhaus wird die Sozialanamnese als sozialarbeiterische Tätigkeit ausgewiesen (vgl. OBDS 2004:2,8).

Bienz und Reinmann beschreiben ein sozialdiagnostisches Arbeiten als spezifische Aufgabe der generellen Sozialen Arbeit im Krankenhaus. Die Erstellung einer Sozialen Diagnose ist vor allem im psychiatrischen Bereich notwendig, um einen eventuellen Drehtüreffekt zu vermeiden. Damit ist die Wiederaufnahme von bereits entlassenen PatientInnen gemeint (vgl. 2004:20f).

Das spezifische Klientel der Klinischen Sozialen Arbeit wir dadurch angesprochen. Nicht umsonst ist sie in der methodischen Handhabung und Weiterentwicklung von Sozialer Diagnostik geübt:

Soziale Diagnose in der Klinischen Sozialen Arbeit

„Im Rahmen kommunikativer Prozesse zwischen Fachkraft und Klient werden die zu bearbeitenden Aufgaben (tasks) geklärt und die Interventionen bestimmt, um Veränderungsziele zu erreichen. In anderen Worten, psycho-Soziale Diagnostik muss die fallspezifische Komplexität erfassen, strukturieren und der Bearbeitung sowie der Evaluation zugänglich machen.“ (Pauls 2013:198)

Es werden hier zwei grundlegende Aspekte der Sozialen Diagnostik angesprochen. Zum einen ist sie als Aushandlungsprozess zu verstehen, der von beiden Parteien (KlientIn und SozialarbeiterIn) in kooperativer Weise angetrieben wird. Gemeinsam werden Ziele formuliert und konkrete Interventionen geplant, die zur Besserung der Lebensverhältnisse beitragen sollen. Zweitens geht es um die Frage: Was ist der komplexe Fall? Das bedeutet in jeder Phase der spezifischen Fallarbeit werden die psycho-sozialen und alltagssituativen Dimensionen untersucht, reflektiert, neu bewertet und bearbeitet. Sie sind somit als mehrdimensional (psychische, physische, ökologische, soziale, politische, ökonomische Ebene) zu verstehen (vgl. ebd.: 200; Gahleitner/Pauls 2014:61). Die

Soziale Diagnostik ist in diesem Sinne also nicht nur als Voraussetzung für Interventionen, sondern bereits als Intervention selbst zu sehen. Durch ihren „(…) dialogischen und prozessual orientiert[en] (…) Vorgang, (…) fördert Soziale Diagnostik damit Selbstaneignungsprozesse, wirkt der (un)sozialen Chancenstruktur, Exklusionsprozessen und psychosozialen Beeinträchtigungen entgegen.“

(Gahleitner/Pauls 2014:71) Vor allem Konzepte zur Lebenslagendiagnostik machen auf gesellschaftliche Risikofaktoren aufmerksam, die allerhöchste Dringlichkeit besitzen wie Armut, Rassismus, Sexismus (vgl. Gahleitner/Pauls 2014:68).

Die Soziale Diagnose ist grundsätzlich in einem längerfristigen Betreuungssetting geplant und fördert einen dialogischen Gesprächsverlauf Dennoch ist zu beachten: Es gibt nicht Die Soziale Diagnostik. Unterschiedliche Ansätze gilt es zu klären: Der Klassifikatorische Ansatz bedient sich an standardisierten Instrumenten für die Erhebung und Auswertung von Zuweisungsmerkmalen. Es sollen dadurch Gemeinsamkeiten gekennzeichnet und in eine Kategorie gebracht werden, um beispielsweise ein Risiko abschätzen zu können.

Der Rekonstruktive Ansatz plädiert für eine Informationsansammlung, die sich nach situativen, offenen und flexiblen Kriterien richtet. Um ein klares Verständnis der aktuellen und Biografie-bezogenen Einstellungen von KlientInnen zu gewinnen ist die subjektive Deutung dieser in einem Dialog zu erfragen. Die Klinische Soziale Arbeit vertritt einen Integrativen Ansatz, welcher eine flexible Gestaltung der Handhabung und eine psycho-soziale Gesprächskompetenz voraussetzt (vgl. Heiner 2014:18-20). In einem Integrativen Ansatz können verschiedenen Phasen in einem Fallverstehen unterschiedlichen Sozialen Diagnosefunktionen zugeordnet werden. Voraussetzung dabei ist jedoch ein längerer Interventionsprozess, der idealerweise von mehreren AkteurInnen (auch interdisziplinäre Fachkräfte) begleitet wird (vgl. Heiner 2014:22):

Orientierungs-, Zuweisungs- und Risikodiagnostik

Diese Phasen sind einem Klassifikatorischen Modell zuzuordnen. Bestimmte Phänomene finden durch eine sprachliche Zuschreibung eine Einordnung.

Modelle für die spezifische Klassifikation stellen in Krankenhäuern beispielsweise Assessementbögen zur Erst- und Risikoeinschätzung dar. Beispiele für aufwendigere Klassifikationsmodelle im Rahme einer Sozialen Diagnostik sind die Integration von sozialen Faktoren, die es im ICF (International Calssification of Funcitoning, Disability and Health) abzuklären gilt. Dieses stellt eine Weiterentwicklung des ICD-10 (International Classification of Diseases) durch die WHO dar, indem neben medizinischen und psychiatrischen Diagnosen auch die sozialen Folgen und individuelle Situation definiert und klassifiziert werden. Das

von Karls und Wandrei (1994) entwickelte PiE (Person-in-Environment-System) ist als parallel bestimmtes Klassifikationssystem, neben dem ICD-10 anzusehen.

Bestehend aus mehreren Achsen beziehen sich die wesentlichen Faktoren auf

„Probleme in Rollen“ und „Probleme der Umwelt.“ Diese kommen erst mithilfe von vier Problemdimensionen: Örtlichkeit, Dauer, Intensität und Copingstrategie zu einer realistischen Einschätzung der Schwere von spezifischer Belastung. (vgl.

Pantucek 2012:286f,295; Gahleitner/Pauls 2014:66f; Heiner 2014:22f).

Eine Etablierung dieser hat bis dato jedoch nicht in der sozialarbeiterischen Tätigkeit stattgefunden, Pantucek nennt eine „(…) mangelnde Standardisierung der Sprache und der Begriffe in der Sozialarbeit“ (ebd.: 308) als einen der Gründe hierfür. Besonders das PiE kann sich nur einer Durchsetzung erfreuen, wenn es auch flächendeckend zur Anwendung kommt. Hier stehen jedoch machtpolitische Dimensionen im Weg. An den ICD-10 schließen Statistiken an und sichern durch Klassifikationen die Leistungen durch Sozialversicherungsträger. Die Einführung des PiE und die Erfassung der sozialarbeiterischen Wirksamkeit würde eine materielle und dominante Verhandlungsposition erfordern, welche die Soziale Arbeit aus heutigem Standpunkt heraus nicht leisten kann (vgl. ebd. 2012:308).

Gestaltungsdiagnostik

Die auf die Biografie- oder Lebenslagen orientierte Gestaltungsdiagnostik gibt ein besseres Verständnis (eben auch für die KlientInnen) darüber warum eine Person handelt wie sie handelt und welche Auswirkungen ihr Handeln auf ihr soziales Umfeld nimmt. Formen der Gestaltungsdiagnostik sind beispielsweise die „5 Säulen der Identität“ nach Petzold (2000). Sie erfassen die Dimensionen Leiblichkeit, soziales Umfeld, Arbeit/Leistung, Werte und materielle Sicherheit, welche es in einer vorbereiteten Grafik für die KlientInnen je nach Gefühl einzuschätzen gilt (vgl. Gahleitner/Pauls 2014:68). Ein weiteres Instrument in der rekonstruktiven Diagnostik ist der biografische Zeitbalken. Auf verschiedenen Dimensionen (wie Arbeit, Gesundheit, Familie usw.) werden biografische Fakten und Erfahrungen eingetragen, die als Gesprächs Basis, Einschätzung und gleichzeitig schon Intervention darstellen (vgl. Pantucek 2012:226-237).

Zusammenfassend ist die Gestaltungsdiagnostik „(…) eine lebens-, subjekt- und situationsnahe Diagnostik, die neben klassifikatorischen Diagnostikinstrumenten dialogisch orientiert grundlegende fallverstehende Aspekte der Biografie und Lebenswelt zusammenträgt.“ (Gahleitner/Pauls 2014:67)

Dass die Soziale Diagnose mittlerweile im Verständnis von einer professionellen sozialarbeiterischen Tätigkeit integriert ist, kann aber nicht so pauschal gesagt werden.

Immer noch ist sie den Stimmen kritischer GegnerInnen ausgesetzt. Im Folgenden sollen die wichtigsten Merkmale in der Diagnose-Diskussion wiedergegeben werden:

Kritik der Sozialen Diagnose heute

Wie oben bereits angeführt, wird der Begriff der Diagnose einem medizinischen Paradigma zugeordnet. Dieses impliziert das Bild (dem naturwissenschaftlichen Konzept treu), von einem durch ExpertInnen erstelltem, einseitigen und objektiv gültigen Gutachten von Defiziten. Zum Teil ist es diese Imagination, welche der Etablierung der Sozialen Diagnostik im Weg steht. Dies hat mehrere Gründe (vgl. Heiner 2005:253):

1.) Das Prinzip der Partizipation wird dadurch als gefährdet betrachtet. In der (Klinischen) Sozialen Arbeit sollte das Bemühen zentral stehen, einen dialogischen Prozess im Beratungssetting voranzutreiben und keine einseitige Problemdefinition auszusprechen (vgl. Heiner 2005:253).

2.) Ein zweiter Kritikpunkt richtet sich gegen die durch den sozialdiagnostischen Prozess hervorgebrachte Stigmatisierung der KlientInnen. Während ein möglichst vielfältig ressourcenorientiertes Bild dieser erwünscht ist, steht dem eine defizitgewichtete Sichtweise, die auf das Benennen von sozialen Problemen abzielt, entgegen. Die stigmatisierenden Persönlichkeitsdiagnosen führen zur Abwertung des Klientel (vgl. Heiner 2005:253;Pantucek 2012:84).

3.) Objektive und rein methodisch abgesicherte Bestimmungen sind in der Komplexität des sozialen Gefüges nicht zu bewerkstelligen. Das menschliche Verhalten kann nicht vorhergesagt oder gesteuert werden, wie es bei medizinischen Prozessen der Fall ist und muss mit Vorsicht formuliert werden (vgl. Heiner 2005:253).

Die Kritiken zielen demnach auf zwei wichtige Fragen ab: Welche Rolle wird den KlientInnen in diesem Prozess gewährt und lassen sich soziale Phänomene objektiv erfassen. Primär gilt es in dieser Diskussion zu berücksichtigen, dass sich das soziale Modell von Diagnose grundlegend von dem des medizinischen unterschiedet. Demnach erfährt es eine theoretische Durchdringung der Salutogenese, der bio-psycho-sozialen Perspektive, sowie (und vor allem) dem Person-in-Environment Konzept, in welchem Lebenswelt und Individuum gleichermaßen berücksichtigt werden sollen (vgl. Heiner ebd.). Nun soll auf die oben genannten Kritikpunkte näher eingegangen werden.

Zu berücksichtigen dabei ist zunächst einmal, die bereits bestehende Stigmatisierung im Sozialwesen, hervorgerufen durch den „(…) weit verbreitete[n] Mangel an beschreibbaren und nachvollziehbaren Verfahren, mit denen SozialarbeiterInnen zu Ihren Einschätzungen und Entscheidungen kommen (…)“ (Pantucek 2012:84). Eben dadurch, dass keine methodisch, systematische Verfahren vorhanden sind, kommt es zu gewohnten Zuschreibungen, die einem zielgerichteten Interventionsverfahren im Weg stehen. So benennt Pantucek eine Tendenz zur Etikettierungen der KlientInnen, wie

„Kooperationsverweigerung“, „unmotiviert“ und „uneinsichtig“. (ebd.:85) Obwohl auch die Soziale Diagnose nicht frei von der Gefahr zu Stigmatisierung ist, gibt sie zumindest Einblick, wie sie zu einer spezifischen Falleinschätzung gekommen ist. Somit ist sie für rückgreifende Diskussionen ihrer Interpretationen zugänglich. Zweitens mindert das Prinzip der Aushandlung ein entstehendes Stigma oder Machtgefälle:

„Voraussetzungen dafür, dass Soziale Diagnose den Prozess der Stigmatisierung unter Kontrolle halten kann, sind allerdings die Konzentration auf die Diagnose von Problemkonstellationen und Situationen und die Gewährleistung des dialogischen Charakters von Entscheidungsprozessen über die Hilfen.“ (Pantucek 2012:85)

Das bedeutet im Mittelpunkt der Einschätzung steht nicht die Person, sondern ihre Probleme im Kontext der sozialen Situation, sowie die Aushandlung (dialogischer Charakter) bei Entscheidungsprozessen bezüglich Hilfeleistungen.

In Hinblick auf die objektive Einschätzung von sozialen Phänomenen ist zu sagen, dass die Skalierungen in sozialdiagnostischen Anwendungsbereichen, wie am Beispiel der Inklusionschart (vgl. Pantucek 2012:239-243), nicht mit standardisierten Messwerten verglichen werden können. Sie sind subjektiv und diskutierbar zu betrachten und gelten als Mittel der Komplexitätsreduktion (vgl. Pantucek 2012:97).

Zusammenfassend zeigen sich die Merkmale der Sozialen Diagnose zugleich als Antwort auf die Kritikpunkte:

• Stigmatisierung Prinzip: Prozess der Aushandlung, dialogisch und kooperativ

• Objektives Messen Prinzip: Prozesshaft (nachvollziehbar, reflektierbar, diskutierbar)

• Defizitorientiert Konzept der Salutogenese, Prinzip: ressourcenorientiert

• Einseitig Prinzip: Selbstreflexion, Mehrperspektivisch (Person-in-Environment)

Ausblick

Auf der einen Seite scheint die Soziale Diagnostik noch nicht im Berufsfeld angekommen zu sein. Flächendecken hat keine Etablierung einheitlicher Standards stattgefunden (ICF, PIE), anderseits ist sie, vor allem Im Krankenhaussetting, wenn auch eher nach klassifikatorischen Ansätzen nicht mehr wegzudenken (vgl. Bienz/Reinmann 2004:20;Pantucek 2012:308). VertreterInnen sind der Meinung, dass die Soziale Diagnostik einen Beitrag zur Professionalisierung des Berufes leisten kann. Eine breitflächige Anwendung sozialdiagnostischer Verfahren könnte beispielsweise Fälle in unterschiedlichen Institutionen und Handlungsfelder vergleichen und somit zur Verbesserung beitragen (vgl. Heiner 2005:254;Pantucek 2012:98). Im September 2016 fand bereits die 6. Fachtagung zur Sozialen Diagnostik in Hamburg statt. Ein disziplinärer Austausch aktueller Konzepte des Fallverstehens, sowie eine handlungs- und wissenschaftstheoretische Einbettung standen im Mittelpunkt des Vernetzungstreffens (vgl. Hochschule für Soziale Arbeit und Sozial Diagnostik 2016).

Deutlich wurde, dass der Begriff der Sozialen Diagnose auf einen langjährigen Diskussionsbeitrag in der (Klinischen) Sozialen Arbeit zurückblicken kann. Mit dem Wiederaufleben, besonders durch die Klinische Soziale Arbeit, stellt sich die Frage, ob die Soziale Diagnostik auch in der Berufspraxis (in Österreich) angekommen ist.

Gahleitner und Pauls (vgl. ebd.:8,72) betonen die Tatsache, dass in vielen deutschen Einrichtungen zwar sehr wohl mit sozialdiagnostischen Methoden gearbeitet wird, jedoch die Ergebnisse nicht strukturiert in der Hilfeplanung verwertet werden. In der Sozialarbeitspraxis geben die Fachkräfte an routinisiert oder intuitiv zu handeln. Dies könnte durch das Konzept der psycho-Soziale Diagnostik seine Ablösung finden, indem das sozialarbeiterische Arbeiten eine Strukturierung und Dokumentation im Sinne einer gezielten Interventionsplanung erfährt und nach ihr handelt.