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Sombor: Die Agonie einer Grenzstadt im Serbien der 1990er Jahre und der vojvodinische Autonomiediskurs

Im Dokument "Phantomgrenzen" in Zeiten des Umbruchs (Seite 178-181)

Der politische vojvodinische Autonomiediskurs, der seit Anfang der 1990er Jahre entwickelt wurde, lieferte eine Gesamtvorstellung über die politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Probleme und Lösungen in der Vojvodina. Eine der wichtigsten Aussagen war dabei, dass die Vojvodina als „wohlhabende“ und „wirtschaftlich progressivste“ Provinz unter dem „Dauerproblem“

der „Ausbeutung“ leide. Die einzige Lösung dieses Problems wäre daher eine umfassende, vor allem aber eine wirtschaftliche Autonomie. Wie wohlhabend die Vojvodina oder zumindest einige ihrer Städte im Laufe der 1990er Jahre waren, d.h. wie der Zustand der Wirtschaft und der Lebensstandard der Menschen aussah, wird in den folgenden Kapiteln untersucht. Vor diesem Hintergrund soll der neue Autonomie(gegen)diskurs im Hinblick auf seine Bedeutung und gewissermaßen Wirksamkeit im Alltag der Menschen untersucht werden.

Dieser Diskurs umfasste zudem eine klare räumliche Vorstellung, die sich mit wenigen Ausnah-men auf die Vojvodina innerhalb der nach dem Zweiten Weltkrieg definierten Grenzen der Autono-men Provinz bezog. Dieser Umstand deutet auf die etwas andere Funktion der Grenzen bzw. der räumlichen Komponente des Autonomiediskurses hin: Während z.B. der (groß-) serbische Nationa-lismus der 1990er Jahre eine Ausweitung des serbischen Staatsgebietes anstrebte, wobei die Grenzen also zusätzliches Territorium einschließen sollten,812 war die (implizite) Funktion der gedachten Grenzen innerhalb der diskursiv konstituierten Vojvodina eine räumliche Abgrenzung bzw. ein Aus-schließen des gedachten Territoriums. Da diese Abgrenzung, entsprechend der antithetischen Be-ziehung des Autonomiediskurses zum (groß)serbischen Nationalismus, vorwiegend im Verhältnis zu (Kern)Serbien von Bedeutung war, und innerhalb des Diskurses viel stärker „kulturell“ als räum-lich vorgenommen wurde, wundert nicht, dass die Bedeutung der politischen Grenzen im vojvodini-schen Autonomiediskurs insgesamt eher mäßig ausfällt. Ebenso wenig Beachtung wie die Frage nach den Grenzen der Vojvodina findet dabei das innervojvodinische Zentrum-Peripherie-Verhältnis.813 Umso interessanter scheint daher die Frage nach dessen Wirkung gerade in den Grenz-gebieten der Autonomen Provinz im Untersuchungszeitraum.

Im Fokus dieses Kapitels steht die (Grenz)Stadt Sombor. Die Bedeutung des Autonomiediskurses wird hierbei angesichts mehrerer Problemstellungen untersucht. Diese ergaben sich im Laufe der Forschung und bilden auch die zentralen thematischen Schwerpunkte des Kapitels. So wird erstens der sozioökonomische Kontext, in dem sich auch der politische Autonomiediskurs zu etablieren versuchte, dargestellt. In Anbetracht der äußerst schwierigen sozioökonomischen Lage in Sombor der 1990er Jahre wird zweitens die Frage erörtert, welche Strategien die Menschen in Sombor entwi-ckelten, um mit diesen Problemen umzugehen. Angesichts des Bestehens verschiedener politischer Mobilisierungsstrukturen (vor allem der verschiedenen Nationalismen) im Zuge der politischen Plu-ralisierung werden drittens die politischen Versuche der symbolischen Selbstverortung der Stadt Sombor untersucht. Schließlich werden viertens die Ergebnisse der Untersuchung im Hinblick auf die Wirksamkeit des Autonomiediskurses in Sombor der 1990er Jahre zusammengefasst und dessen besondere Anpassungen in Sombor erklärt.

812 Die zweifellos wichtige Frage, ob und wie die gesellschaftliche Organisation dieses „großserbischen“ Staates gedacht wurde, soll hier jedoch nicht diskutiert werden.

813 Im Rahmen der (bisherigen) Untersuchung war nämlich festzustellen, dass ein Großteil der Akteure und Institutionen, die den vojvodinischen Autonomiediskurs in den 1990er Jahren geprägt haben, ihren Sitz in Novi Sad, der Hauptstadt der Vojvodina, hatten.

„Somborer Vielfalt“: Ein Blick („von oben“) auf die Bevölkerung

Im Nordwesten Serbiens, unweit der Grenzen zu Ungarn bzw. zu Kroatien liegt die Stadt Sombor.

Mit rund 50 000 Einwohnern stellt Sombor ein politisches und wirtschaftliches Zentrum der Vojvodina und des West-Bačka-Landkreises dar. Eine wesentlich größere administrative und wirt-schaftliche Bedeutung als gegenwärtig kam Sombor im 18. und 19. Jahrhundert zu, als die Stadt zur Habsburger Monarchie gehörte. Neben dieser „glorreichen Geschichte“ der Stadt wird von vielen Somborern als eines der bedeutendsten Merkmale der Stadt die „Somborer Vielfalt“, d.h. eine histo-risch gewachsene, ethnisch, konfessionell und kulturell heterogene Zusammensetzung der Bevölke-rung, angepriesen.814 Was dies im Laufe der 1990er Jahre wohl hätte bedeuten können, wird sich in der Untersuchung noch zeigen, doch widmen wir uns kurz zunächst dieser Vielfalt, nicht zuletzt auch deshalb, da sie im untersuchten Zeitraum eine neue besondere soziale Dimension erhielt.

Nach der Volkszählung aus dem Jahr 1991 hatte die Gemeinde Sombor insgesamt 96 105 Einwoh-ner, davon 46 276 Männer und 49 829 Frauen.815 Die Einwohnerzahl der Gemeinde selbst wies indes keinen signifikanten Zuwachs seit Ende des Zweiten Weltkrieges auf. Etwas anders sah es im Fall der Stadt Sombor aus: Im Zeitraum 1948-1991 nahm die Einwohnerzahl stetig zu und stieg von 33.600 (Volkszählung aus dem Jahr 1948) auf knapp 50 000 Einwohner im Jahr 1991 an.816 Dies deutet zu-nächst auf eine relativ starke Land-Stadt-Migration sowie auf weitere Migrationstendenzen hin, die generell den Tendenzen für die gesamte Provinz in dieser Zeit entsprachen. Und doch hatte im Jahr 1991 ein Großteil der Bevölkerung der Gemeinde Sombor ihren Geburtsort in der Gemeinde selbst.

Zudem wohnten in der Gemeinde Sombor weitere 13 000 Menschen, die auf dem Gebiet Kroatiens sowie knapp 7 000, die in Bosnien-Herzegowina geboren wurden. Knapp unter 8 000 Einwohner der Gemeinde Sombor wurden anderswo in der Vojvodina geboren.817

Eine größere Veränderung in Bezug auf die Herkunft der Somborer Bevölkerung erfolgte mit Be-ginn der Kriege in Kroatien 1991 bzw. in Bosnien-Herzegowina 1992, infolge welcher zahlreiche Flüchtlinge auch die Somborer Gemeinde erreichten. Die Anzahl der Geflohenen fiel gerade in Sombor sehr hoch aus. Nur in der „ersten Flüchtlingswelle“ flüchteten „im Zeitraum vom 1. Mai 1991 bis Ende 1992 14 037 Personen, oder knapp ein Zehntel aller geflüchteten in die Vojvodina in dieser Zeit (in die Vojvodina flüchteten, im Übrigen, sogar 36,3% aller geflüchteten nach Serbien) […] in die Somborer Gemeinde.“818 Wenn die vom Republikamt für Statistik Serbiens ausgewerteten Erhe-bungen nur annähernd zutrafen, machten die in der Gemeinde Sombor aufgenommenen Flüchtlin-ge allein im Flüchtlin-genannten Zeitraum 15% ihrer Gesamtbevölkerung aus.819

Die ersten Flüchtlinge aus Kroatien erreichten die Gemeinde Sombor nach Medienberichten be-reits Anfang März 1991.820 Weitere größere Gruppen folgten im Sommer 1991, so dass schon im

Au-814 Zum Überblick der in diesem Abschnitt angeführten statistischen Angaben siehe Tab. 4 und 5 im Anhang.

815 Republički zavod za statistiku Republike Srbije (1991): Popis 1991. Stanovništvo prema starosti, polu i nacionalnoj pripadnosti. Beograd: Republički zavod za statistiku, S. 183.

816Republički zavod za statistiku Republike Srbije (Hg.) (1991): Uporedni pregled broja stanovnika i domaćinstava 1948, 1953, 1961, 1971, 1981, 1991. i stanova 1971, 1981, 1991., popis 1991. Beograd: Republički zavod za statistiku. Online verfügbar unter http://pod2.stat.gov.rs/ObjavljenePublikacije/G1991/pdf/G19914009.pdf, zuletzt geprüft am 29.08.2011, S. 79.

817 Republički zavod za statistiku Republike Srbije (Hg.) (1991): Stanovništvo po opštini stalnog stanovanja prema

nacional-noj pripadnosti, polu i mestu rođenja. Beograd. Online verfügbar unter

http://pod2.stat.gov.rs/ObjavljenePublikacije/G1991/pdf/G19914008.pdf, zuletzt geprüft am 29.08.2011, S. 187.

818Đurđev, Branislav; Bjeljac, Željko (1996): Stanovništvo Sombora. In: Jovan Đuričić (Hg.): Opština Sombor. Novi Sad;

Sombor: Prirodno-Matematički fakultet, Institut za geografiju; Prosveta (Geografske monografije vojvođanskih opština), S. 64.

819 Ebd.

820 R., A. (1991): Prihvatiti izbeglice. Vanredna sednica Izvršnog saveta SO. In: Somborske novine 38, 08.03.1991 (1909), S. 3.

gust laut Angaben des Somborer Roten Kreuzes rund 4000 Personen in der Gemeinde Sombor auf-genommen wurden.821 Obwohl ganze Flüchtlingsfamilien „umgeleitet“ wurden, d. h. in andere Orte bzw. Gemeinden überwiesen wurden, stieg die Anzahl der angekommenen Menschen ebenso wie die Probleme, vor allem im Hinblick auf Unterkünfte und Versorgung, fast wöchentlich um mehrere Hundert.822 Erst nach der letzten Flüchtlingswelle aus Kroatien und Bosnien-Herzegowina im Som-mer 1995, als rund 13 500 Menschen in der Gemeinde Sombor versorgt wurden, konnten die zustän-digen Behörden wie auch viele Somborer, die ganze Familien bei sich zuhause aufgenommen hatten, aufatmen.

Trotz des erheblichen Ausmaßes an Migrationsbewegungen, die die Gemeinde und die Stadt Sombor im Laufe der ersten Hälfte der 1990er Jahre erlebten, fiel der Bevölkerungszuwachs nach dieser Zeit eher gering aus: Die Einwohnerzahl der Gemeinde stieg nach der Volkszählung im Jahr 2002 auf knapp 100 000, diejenige der Stadt Sombor auf gerade mal rund 52 000 Einwohner.823 Grund dafür könnte wohl eine äußerst niedrige Geburtenrate, vielmehr aber ein entsprechender Migrationssaldo sein. Dies würde bedeuten, dass ungefähr genauso viele Menschen die Gemeinde Sombor verlassen hatten wie diejenigen, die in dieser Zeit zuwanderten. Sofern das stimmt,824 müss-te man angesichts der hohen Zuwanderungszahlen das Ausmaß der weimüss-teren Migration einiger der Zugewanderten sowie die Abwanderung anderer Somborer ebenfalls als erheblich bezeichnen. Diese Feststellung bestätigen auch die Ergebnisse der Volkszählung aus dem Jahr 2011, laut welchen die Somborer Gemeinde nur noch 85.903 Einwohner hatte.825

Die bereits angedeutete durch Migrationsprozesse entstandene Vielfalt im Hinblick auf die Her-kunft der Somborer spiegelt sich auch in der ethnischen Zugehörigkeit der Bevölkerung wieder. In Sombor lebten seit der Gründung der Stadt Menschen verschiedener ethnischer und / oder konfes-sioneller Zugehörigkeit, darunter Serben, Deutsche, Ungarn, Kroaten, Bunjevacen, Juden, Šokacen, aber auch anderer Nationalitäten aus dem Gebiet des früheren Habsburger Reiches bzw. später der Vojvodina (z.B. der rumänischen, montenegrinischen, mazedonischen, etc.). Bis heute bleibt Som-bor eine ethnisch vielfältige Stadt bzw. Gemeinde. Lediglich die Zusammensetzung der Bevölkerung nach ethnischer Zugehörigkeit veränderte sich im Laufe der Zeit, vorwiegend infolge der genannten Migrationsbewegungen, die wiederum großen historischen Brüchen geschuldet sind. So bildeten die Deutschen bis Ende des Zweiten Weltkrieges rund ein Drittel der Somborer Bevölkerung (nach der Volkszählung aus dem Jahr 1857 rund 28,9%, 1900 sogar 30% und noch im Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen 29,8%).826 Mit der Vertreibung oder mehr oder minder „freiwilligen“ Abwan-derung der deutschen Bevölkerung nach dem Zweiten Weltkrieg verschwand diese Volksgruppe fast vollständig von der „ethnischen Karte“ Sombors.827 Zuvor jedoch geschah dies mit der jüdischen Bevölkerung, die noch 1857 rund 8,1% der Somborer Bevölkerung ausmachte.828

821 Simić, J. (1991): Solidarnost bez granica. Somborska opština prihvatila, do sada, 4.000 izbeglica. In: Somborske novine 38, 23.08.1991 (1933), S. 2.

822 Simić, J. (1991): Problem – smeštaj. U Somborskoj opštini 4.500 izbeglica. In: Somborske novine 38, 30.08.1991 (1934), S.

2.

823 Republički zavod za statistiku Republike Srbije (Hg.) (2004): Stanovništvo. Popis stanovništva, domaćinstava i stanova u 2002. Uporedni pregled broja stanovnika 1948, 1953, 1961, 1971, 1981, 1991. i 2002. Podaci po naseljima. Beograd:

Republički zavod za statistiku Srbije, S. 32.

824 Über die Auswanderung der Somborer Bevölkerung im Zeitraum 1990-2000 liegen keine verlässlichen Erhebungen oder Studien vor.

825 Vukmirović (2012), S. 32.

826 Đurđev; Bjeljac (1996), S. 78.

827 Bei der letzten gesamtjugoslawischen Volkszählung deklarierten sich gerade mal 0,6% der Somborer als Deutsche. Vgl.

ebd.

828 Ebd.

Anstelle der Deutschen wurde nach dem Zweiten Weltkrieg vorwiegend serbische Bevölkerung aus dem heutigen Kroatien, darunter viele aus Dalmatien, ferner aus Bosnien-Herzegowina und Montenegro nach Sombor und die Somborer Gegend angesiedelt, was die ethnische Zusammenset-zung der gesamten Gemeinde Sombor zugunsten der serbischen Mehrheit (im Jahr 1991 50,9%,829 im Jahr 2002 61,48%830 und der aktuell letzten Volkszählung zufolge rund 63,3%831) veränderte.832 Im Laufe des 20. Jahrhunderts veränderte sich auch die Zusammensetzung der Bevölkerung nach ihrer religiöser Zugehörigkeit, insbesondere im Hinblick auf eine traditionelle katholische Mehrheit in Sombor: der Anteil der registrierten katholischen Einwohner der Gemeinde an der Gesamtbevölke-rung, der bis Ende des Zweiten Weltkrieges durchgehend rund 70% war (72,0% im Jahr 1828; 72,1%

im Jahr 1857; 68,2% im Jahr 1900 und sogar 75,2% im Jahr 1921), fiel nach dem Krieg, dem „Ersetzen“

der deutschen Bevölkerung sowie dem halben Jahrhundert sozialistischer Sozialisierung und er-reichte im Jahr 1991833 gerade mal 32,9%.834

Ein interessantes Phänomen innerhalb der „Somborer Vielfalt“, d.h. der auch statistisch festgehal-tenen ethnischen, herkunftsbezogenen, religiösen u.a. kulturellen Vielfalt835 ist zudem, dass einzel-ne Ortschaften der Gemeinde Sombor seit 1971 die Heimat recht vieler Jugoslawen waren. So dekla-rierten sich 1991, also im Jahr des Zerfalls Jugoslawiens, rund 27,8% der Bevölkerung von Bački Breg, eines Ortes an der Grenze zu Ungarn, in dem sich auch der gleichnamige Grenzübergang befindet, als Jugoslawen. In Bački Monoštor, ebenfalls einem Grenzort – diesmal an der kroatischen Grenze – stellten 1991 die Jugoslawen sogar 40,6% der Bevölkerung dar.836 Ob diese Entstehung von Jugosla-wen etwas mit der Grenznähe zu tun hatte bzw. was denn aus diesen vielen JugoslaJugosla-wen nach dem Zerfall des jugoslawischen Staates geworden ist, sind nur einige der vielen interessanten Fragen in Bezug auf Sombor und seine Umgebung, die im Folgenden behandelt werden.

Das System „Schwarzmarktwirtschaft“: Der serbische Sonderweg

Im Dokument "Phantomgrenzen" in Zeiten des Umbruchs (Seite 178-181)