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„Phantomgrenzen“: Einige abschließende Bemerkungen

Im Dokument "Phantomgrenzen" in Zeiten des Umbruchs (Seite 175-178)

Đorđe Balašević als Akteur und sein Werk als Repräsentation sind ohne Zweifel ein interessantes Beispiel für die Untersuchung der komplexen Zusammenhänge der sozialen und politischen Ent-wicklungen postjugoslawischer Gesellschaften. Sie zeigen die verschiedenen Brüche, aber auch Kon-tinuitäten in Bezug auf die Zeit des jugoslawischen Sozialismus auf, sowohl im Hinblick auf den persönlichen Umgang mit der Krise der 1990er Jahre als auch hinsichtlich des Wandels verschiede-ner Deutungen dieser Zeit. Wie die Analyse des „Phänomens Balašević“ gezeigt hat, spielte Balašević mit seinem Werk auch außerhalb der postjugoslawischen „Musikindustrie“ eine bedeutende Rolle.

Als Sänger und Entertainer verkörperte er sowohl – nostalgisch empfunden – einen Bestandteil jugo-slawischer Vergangenheit, der Jugoslawien überlebt hatte, als auch das Anzeichen der Versöhnung und somit die Rückkehr einer „Normalität“ des Alltages. Als Schriftsteller präsentierte sich Balašević als Chronist einer Zeit des „Wahnsinns“, deren Problemerscheinungen er zwar genauestens be-schrieb und kritisierte, deren Ursachen und Folgen er jedoch nicht einordnen konnte, ohne sich in den gängigen – in diesem Fall autonomistischen vojvodinischen – Deutungsmustern zu verfangen.

Schließlich baute er als politisch engagierter Künstler eine eigene „Position der Opposition“ zum Milošević-Regime in Serbien aus, deren Kritik zwar andere Menschen inspirierte, aber kaum zu poli-tischer Aktion mobilisierte.

Auch hat die Untersuchung Balaševićs Lieder demonstriert, dass Musik – Liedertexte wie die Mu-sik mit ihren harmonischen, rhythmischen und melodischen Elementen – weitaus mehr als eine imaginäre „Geräuschkulisse“ oder den „Soundtrack“ einer Zeit darstellten. Vielmehr trug die Musik zur Reproduktion bestimmter (Be-)Deutungen und ihrer Festigung bei, wobei der „Symbolcharak-ter“ dieser Musik zumindest im gleichen Ausmaß auf den bewussten Einsatz bestimmter Effekte wie auf die Rezeption dieser Musik zurückzuführen war. So beruht die Beschreibung dieser Musik als

„vojvodinisch“ nicht nur auf der Wahrnehmung bestimmter Musikformen – etwa des ungarischen Csárdás – seitens des Publikums, sondern auch auf der Absicht Balaševićs, „vojvodinische“ Musik zu machen. Was sich indessen im Laufe der 1990er Jahre änderte, ist lediglich die Funktion, die das

„Vojvodinische“ bei Balašević erhielt. Setzte er die „Vojvodina“ vor dem Zerfall Jugoslawiens als regio-nales Setting seiner Liebeslieder ein, so wurde diese zunehmend zum Symbol eines bestimmten Wertesystems, das größtenteils dem Bild der Vojvodina entsprach, das im Laufe der 1990er Jahre auch von autonomistischen vojvodinischen politischen Akteuren artikuliert wurde: friedlich, kulti-viert, (mittel-)europäisch, sauber, arbeitsam und ordentlich.

Interessant ist allerdings, dass Balaševićs Abgrenzungsstrategien im Hinblick auf die Vojvodina einen anderen Kontext betrafen. Suchten autonomistische vojvodinische Kreise sich von „Belgrad“

bzw. dem „Kernserbien“ abzugrenzen, wobei der Konflikt mit diesem „Anderen“ nichtsdestotrotz innerhalb Serbiens verlief, so bediente sich Balašević derselben Muster, ohne sich auf Serbien zu beschränken. Schließlich war er darum bemüht, sein früheres gesamtjugoslawisches Publikum zu erreichen und sich den mit dem Zerfall des früheren gemeinsamen Staates verlorenen Markt wieder zu erschließen. Während der Autonomiediskurs der politischen Akteure das Ziel hatte, die fehlende und wieder zu gewinnende politische Macht zu legitimieren, nutzte Balašević die „Vojvodina“ viel-mehr als Markenzeichen, das in Abgrenzung zu Serbien imstande war, auch Menschen in anderen ehemaligen jugoslawischen Republiken anzusprechen. So „normalisierte“ Balašević seinen Ruf als

„Friedensaktivist“, indem er auf die „Vojvodina“ als Symbol für eine „friedliche“ und „tolerante“ mul-tiethnische Region setzte. Im Gegensatz zu den politischen Akteuren, die alte „Phantomgrenzen“

der Vojvodina zu Serbien zu beleben versuchten, nutzte Balašević sie also, um die postjugoslawi-schen Grenzen leichter überwinden zu können.

Doch gerade dieser Anspruch Balaševićs, sein Publikum „zu vereinen“, der ihn ganz andere, näm-lich die jugoslawischen „Phantomgrenzen“ aufdecken ließ, offenbart auch den Widerspruch des

„Phänomens Balašević“. Während er auf der einen Seite im Geiste der Toleranz „seinem“ Publikum über die alten jugoslawischen Grenzen hinaus folgte – bis in die USA oder nach Australien – verfes-tigte Balašević auf der anderen Seite die „inneren“ Phantomgrenzen (innerhalb) der Vojvodina, in-dem er nicht selten all diejenigen, die seine Vorstellung von der Vojvodina störten, kollektiv abwerte-te. In einer stilisierten „Notwehr“ gegen die „Anderen“, die die Vojvodina zu bedrohen schienen, be-schrieb Balašević die „Anderen“ als „unanpassbar“. Das Ausschlusskriterium war dabei zwar nicht die (gefühlte oder zugeschriebene) ethnische Zugehörigkeit – wie im Fall der verschiedenen Nationa-lismen – sondern die vermeintliche oder tatsächliche regionale Herkunft, was in manchen Beispie-len jedoch keinen wesentlichen Unterschied ausmacht:

„Und die Serben sind unglücklich zersplittert, wie ein Spiegel, jedes Teilchen reflektiert für sich...

Die Šumadinci, die Krajišnici, die Paprikari, Kamenjari, Gorštaci, Prečani...

Wir unterscheiden uns sowohl folkloristisch als auch zivilisatorisch, längst schon auch anthropolo-gisch? Nur noch die Trompete der Buße vereint uns manchmal unter derselben Flagge...

So sind wir hier?

Drei Kolonisierungen im selben Jahrhundert? Auch Amerika hätte es sich damit schwer getan?

Die ersten Unanpassbaren gelangten in die Vojvodina 1919. Wie viele Generationen stapeln sich in rund siebzig Jahren zusammen?

Wären sie 1919 nach Spanien gegangen, hätten sie bis jetzt die Habanera gelernt? Wären sie nach Sardinien gegangen, würden sie heute irgendeinen Vogel mehr lieben als die Möwe?

Was ist das für eine Saat, die in einem Land wie diesem nicht gedeihen kann, einem Land, in dem selbst eine verlorene Münze aufkeimt?

Wir hier, und sie von dort, durch einen Fehler hier geboren...

Die alte Geschichte...“807

Balaševićs „alte Geschichte“, d.h. der vojvodinische Autonomiediskurs, den er mittels seiner Mu-sik und anderer Werke im Laufe der 1990er Jahre reproduzierte, beruhte letztlich auf demselben Widerspruch, den auch Stef Jansen in seiner Studie über den antinationalistischen Diskurs in Bel-grad und Zagreb der 1990er Jahre feststellte.808 Während viele Angehörige der postjugoslawischen urbanen Mittelschicht ihre „Kultur“ anpriesen und sich „antinationalistisch“, „kosmopolitisch offen“

oder „tolerant“ darstellten, offenbarte ihre Abwertung des „Primitiven“ – im Gegensatz zur „urba-nen“ bzw. bei Balašević der „vojvodinischen“ Kultiviertheit – eine Haltung, die Jansen den „alltägli-chen Balkanorientalismus“ nennt,809 die aber wohl am ehesten als Kleinbürgerlichkeit zu bezeich-nen ist. Dieser Widerspruch ist allerdings bei aller Kritik auch im gegebebezeich-nen Kontext zu betrachten.

So wie Stef Jansen unterstrich, war es nicht diese Kleinbürgerlichkeit, die die jugoslawischen Kriege auslöste und unzählige Menschenleben zerstörte.810 Oder wie der Journalist Dimitrije Boarov es im Hinblick auf den kritisierten symbolischen Einsatz der Vojvodina bei Balašević formulierte: „Die Vojvodina [wird] so lange als gefährlich provinziell und kleinbürgerlich [betrachtet werden], bis es offensichtlich wird, dass selbst die Kleinbürgerlichkeit besser als die Barbarei ist“.811 Dass der vojvodinische Autonomiediskurs, auch in der Form, in der ihn Balašević mitprägte, keine ausrei-chend wirksame Antwort auf den „barbarischen Nationalismus“ der 1990er Jahre war, lag allerdings nicht nur an der Verherrlichung der genannten kleinbürgerlich „gehobenen“ Kultur, sondern

beruh-807 Balašević (2010a), S. 161 f.

808 Vgl. Jansen (2005), S. 109 ff.

809 Ebd., S. 135.

810 Ebd., S. 145.

811 Boarov (2013).

te auf einem ganz anderen Widerspruch: jenem zwischen dem vojvodinischen „Ideal“ und dem All-tag in der Vojvodina in dieser Zeit. Dies steht im Mittelpunkt des zweiten Teils dieser Arbeit.

Sombor: Die Agonie einer Grenzstadt im Serbien der

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