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Die „Joghurt-Revolution“ in der Vojvodina 1988 und ihre Deutungen

Das Jahr 1989 kennzeichnet den wohl bedeutendsten Bruch in der Geschichte Europas nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Proteste, die in weiten Teilen Osteuropas in diesem Jahr stattfanden, erziel-ten nicht nur den Rücktritt der jahrzehntelang herrschenden kommunistischen politischen Elierziel-ten, sondern markierten das Ende des Staatssozialismus und den Beginn grundlegender politischer und wirtschaftlicher Transformationen. Der Übergang vom Einparteiensystem zur liberalen Demokratie ging mit dem Aufgeben der sozialistischen Planwirtschaft und des staatlichen bzw. gesellschaftli-chen Eigentums zugunsten des freien Marktes und der Privatisierung einher.

Noch bevor der radikale Wandel der osteuropäischen Gesellschaften in seinem vollen Ausmaß auch nur diagnostiziert werden konnte, wurde die „Stunde null“ der Demokratie in diesem Teil Eu-ropas mit verschiedenen Begriffen von Revolution in Verbindung gebracht. So wurde der friedliche Beginn des Systemwechsels als „samtene Revolution“ (Tschechoslowakei) bezeichnet.134 Im Gegen-satz dazu wurde bei gewaltsamen Umstürzen wie in Rumänien auf die Attribute verzichtet. Im Sinne einer „Rückkehr“ nach Europa bzw. einer Annäherung an die „freie Welt“ des „Westens“ sprach der Philosoph Jürgen Habermas auch von einer „nachholenden Revolution“.135 Im weiteren Verlauf der Transformation, in den späten 1990er und frühen 2000er Jahren entstanden in der westeuropäischen bzw. US-amerikanischen Politikwissenschaft zahlreiche neue Revolutionsbegriffe, die sich auf neue-re Regimewechsel in einzelnen osteuropäischen und postsowjetischen Staaten bezogen, die als eine

„verspätete Demokratisierung“ gedeutet wurden. Zu den als „farbige“, „demokratische Revolutionen“

bzw. „electoral revolutions“ zusammenfassend bezeichneten Umbrüchen gehörten z.B. die „Bulldo-zer-Revolution“ in Serbien (2000), die „Rosenrevolution“ in Georgien, die „orangene Revolution“ in der Ukraine (2004) oder die „Tulpenrevolution“ in Kirgisistan.136

134 Dazu siehe z.B.: Perzi, Niklas (Hg.) (2009): Die Samtene Revolution. Vorgeschichte – Verlauf – Akteure. Frankfurt am Main u.a.: Lang; Emtmann, Anette (1998): Die Zivilgesellschaft zwischen Revolution und Demokratie. Die „samtene Re-volution“ im Licht von Antonio Gramscis Kategorien der „societa civile“. Hamburg: Argument (Edition Philosophie und Sozialwissenschaften, 47); Pešek, Antonín (1990): Die samtene Revolution in der Tschechoslowakei 1989. Hannover: Vhs (Vhs-Texte [und] Beiträge, 10).

135Habermas, Jürgen (1990): Die nachholende Revolution. Kleine politische Schriften, 7. Frankfurt am Main: Suhrkamp (Edition Suhrkamp, 1633). Zur Kritik seiner Thesen siehe u.a.: Buden, Boris (2009): Zone des Übergangs. Vom Ende des Postkommunismus. 1. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp (Edition Suhrkamp, 2601).

136Zwar waren die entsprechenden Protestereignisse weder Revolutionen (im Sinne eines Systemwechsels) noch ist ihre Charakterisierung als „demokratische“ Ereignisse besonders klar. Eine begeisterte „Revolutionsforschung“ in der sich mit Osteuropa befassenden Politikwissenschaft war jedoch nicht zu verkennen, auch wenn sie in der anfänglichen Intensität von relativ kurzer Dauer war, was nicht zuletzt von der beschränkten analytischen Reichweite dieser „Einweg-Theorien“

aus der Palette an Zugängen zur „farbigen Revolutionslandschaft“ des postsozialistischen Osteuropas zeugte. Zu den ein-zelnen Konzepten siehe z.B.: Ó Beacháin, Donnacha; Polese, Abel (Hg.) (2010): The colour revolutions in the former So-viet republics. Successes and failures. London; New York: Routledge (Routledge Contemporary Russia and Eastern Eu-rope Series); Mitchell, Lincoln Abraham (2012): The color revolutions. 1. Aufl. Philadelphia: University of Pennsylvania Press; Beissinger, Mark R. (2007): Structure and Example in Modular Political Phenomena: The Diffusion of Bulldoz-er/Rose/Orange/Tulip Revolutions. In: Perspectives on Politics 5 (2), S. 259–276; Tucker, Joshua A. (2007): Enough! Elec-toral Fraud, Collective Action Problems, and Post-Communist Colored Revolutions. In: Perspectives on Politics 5 (3), S.

535–551; Bunce, Valerie; Wolchik, Sharon (2006): International diffusion and postcommunist electoral revolutions. In:

Communist and Post-Communist Studies 39, S. 283–304; Bunce, Valerie; Wolchik, Sharon (2006): Youth and Electoral Revolutions in Slovakia, Serbia, and Georgia. In: SAIS Review 26 (2), S. 55–65; Bunce, Valerie; Wolchik, Sharon (2007):

Transnational networks, diffusion dynamics, and electoral revolutions in the postcommunist world. In: Physica A 378, S.

92–99; D’Anieri, Paul (2006): Explaining the success and failure of post-communist revolutions. In: Communist and Post-Communist Studies 39, S. 331–350.

Während sich sowohl die Ereignisse von 1989 als auch die Transformationsprozesse der 1990er Jahre im Fall einiger osteuropäischen Staaten einer regen Forschung erfreuen können, erhielten im Fall des ehemaligen Jugoslawien insbesondere die zahlreichen Streiks und Proteste der späten 1980er Jahre vergleichsweise wenig Beachtung. Dies gilt nicht nur für die mitunter empirisch „unterversorg-te“ Politikwissenschaft, sondern auch für andere Disziplinen. Doch wie kam es dazu, dass der Fall Jugoslawien aus dem „Revolutionsparadigma“ ausgenommen wurde? Eine einfache, doch keineswegs vollständige Erklärung ließe sich auf die Annahme zurückführen, dass es im zerfallenden Jugoslawi-en zu keiner Art „Revolution“ kam, zumindest nicht zu einer solchJugoslawi-en, die sich als „Befreiungsschlag“

vom Staatssozialismus deuten ließe. Die Prozesse der politischen und wirtschaftlichen Transforma-tion kamen stattdessen zunächst eher „im Stillen“ zustande137 und wurden später von den Kriegen der 1990er Jahre überschattet. Von einer „Revolution“ war allerdings auch in Jugoslawien die Rede, obgleich diese schon vor 1989 einsetzte: Es war die „antibürokratische Revolution“ in Serbien,138 die auch die so genannte Revolution“ in der Vojvodina umfasste. Worum es bei der „Joghurt-Revolution“ ging und insbesondere wie sich die Protestereignisse des Jahres 1988 in der Vojvodina interpretieren lassen soll im Folgenden geklärt werden.

Von der Krise zur „antibürokratischen Revolution“

Ende der 1980er Jahre erfuhr die jugoslawische Gesellschaft eine sich stetig zuspitzende wirtschaftli-che und politiswirtschaftli-che Krise, von der sie sich nie erholte und die letztlich zum Zusammenbruch des ju-goslawischen Staates führte. Neben der steigenden Inflationsrate, niedrig gehaltenen Löhnen, dem Einbruch der Produktion in breiten Teilen der Wirtschaft oder einer Reihe von ungelösten sozialen Problemen, wie etwa der steigenden Arbeitslosigkeit,139 waren es vor allem die machtpolitischen Konflikte innerhalb des Bundes der Kommunisten Jugoslawiens, die eine Lösung der schwierigen Lage nicht nur verhinderten, sondern im Hinblick auf die gesamtjugoslawische Politik schließlich zu einer kompletten Handlungsunfähigkeit der politischen Eliten führten.140 Dies wiederum verstärkte die Unzufriedenheit großer Teile der jugoslawischen Bevölkerung, was sich auch in einer Vielzahl von Streiks von Arbeitern141 in allen Teilen des Landes äußerte. Gab es in den Jahren 1958-1969 insge-samt rund 2000 „Arbeitsniederlegungen“,142 so stieg die Anzahl der Streiks in ganz Jugoslawien von 174 im Jahr 1982 auf 1685 im Jahr 1987 und sogar 1851 im Jahr 1988.143 Im gleichen Zeitraum stieg

zu-137 Dazu siehe z.B.: Uvalić, Milica (2010): Serbia’s transition. Towards a better future. Basingstoke: Palgrave Macmillan (Studies in Economic Transition).

138Die „antibürokratische Revolution“ umfasst die politischen Ereignisse zwischen der VIII. Sitzung des Zentralkomitees des Bundes der Kommunisten Serbiens (ZK BdKS) 1987 und den Rücktritten von Parteiführungen beider autonomer Pro-vinzen Anfang 1989, die faktisch die Abschaffung ihrer Autonomie bedeuteten und gleichzeitig Serbiens Dominanz in-nerhalb der föderalen Strukturen ermöglichten. Vgl. Milosavljević, Olivera (2004): Antibirokratska revolucija 1987-1989.

godine. In: Hans-Georg Fleck und Igor Graovac (Hg.): Dijalog povjesničara – istoričara. Knj. 8, Zadar, 26.-28. septembra 2003. Zagreb: Friedrich-Naumann-Stiftung, S. 319–336.

139Zur Arbeitslosigkeit im sozialistischen Jugoslawien siehe: Woodward, Susan L. (1995): Socialist Unemployment. The Political Economy of Yugoslavia, 1945-1990. Princeton: Princeton University Press.

140 Dazu siehe z.B.: Jović, Dejan (2003): Jugoslavija. Država koja je odumrla. Uspon, kriza i pad Kardeljeve Jugoslavije (1974-1990). Zagreb: Prometej.

141Obwohl allen unterschiedlichen Geschlechtern und / oder Geschlechtsidentitäten Rechnung getragen wird, wird aus-schließlich aus Platzgründen in der gesamten Arbeit auf gendergerechten Sprachgebrauch zugunsten des generischen Maskulinums verzichtet. So sind an dieser Stelle selbstverständlich Arbeiter_innen gemeint.

142Vladisavljević, Nebojša (2008): Serbia’s antibureaucratic revolution. Milošević, the fall of communism and nationalist mobilization. Basingstoke; New York: Palgrave Macmillan, S. 41. Insgesamt war auch diese Zahl von Streiks im Vergleich zu anderen Staaten Osteuropas relativ hoch.

143 Vladisavljević (2008), S. 112. Vgl. auch Musić, Goran (2009): Jugoslovenski radnički pokret 1981-1991. In: Đorđe Tomić und Petar Atanacković (Hg.): Društvo u pokretu. Novi društveni pokreti u Jugoslaviji od 1968. do danas. Novi Sad: Cenzu-ra, S. 160–168; sowie Musić, Goran (2013): Radnička klasa Srbije u tranziciji. 1988-2013. Beograd: Rosa Luxemburg Stif-tung, Regionalna kancelarija za Jugoistočnu Evropu. Zur rechtlichen Grundlage und einer Diskussion über das Recht auf

dem die Anzahl der Streikenden von knapp 11 000 (1982) auf über 386 000 (1988) an.144 Eine ähnliche Entwicklung ließ sich auch in der Vojvodina beobachten. Im Vergleich zu den insgesamt elf ver-zeichneten Arbeitsniederlegungen im Jahr 1982145 wurden im Jahr 1987 insgesamt 92 Streiks146 mit einer Gesamtdauer von 75 Stunden verzeichnet, bei denen knapp 12 000 Arbeiterinnen und Arbeiter beteiligt waren.147 In den ersten neun Monaten des Jahres 1988 sank zwar die Zahl der Streiks auf 59, die Anzahl der Beteiligten stieg aber auf über 12 000, genauso wie die Dauer der Arbeitsniederlegun-gen, die insgesamt rund 600 Stunden betrug.148

Als weiteres und mindestens genauso schwerwiegendes Problem wie die wirtschaftliche Notlage des Landes erwiesen sich im Laufe der 1980er Jahre die sozialen Spannungen in der südserbischen Autonomen Provinz Kosovo. Obwohl die 1981 von Teilen der albanischen Bevölkerung organisierten und mitgetragenen Proteste, bei welchen schließlich die Republik Kosovo gefordert wurde, mit Hilfe von starker Repression beendet wurden, wurde das Problem des Nationalismus – des albanischen wie des serbischen – im Laufe der 1980er Jahre bestenfalls „vertagt“, jedoch keineswegs gelöst. Wäh-rend der Nationalismus bzw. Separatismus in Teilen der albanischen Bevölkerung im Kosovo ab Mit-te der 1980er Jahre von der ParMit-tei zunehmend inMit-tensiv diskutiert und schließlich als „KonMit-terrevolu- „Konterrevolu-tion“ ausgelegt wurde,149 erlebte der serbische Nationalismus im Kosovo eine andere Entwicklung.

Im Gegensatz zur sogenannten „kritischen Intelligenz“ Serbiens, d.h. einer Reihe von verschiedenen Dichtern, Philosophen, Künstlern etc., die seit Anfang der 1980er Jahre von serbisch-nationalistischen Positionen immer offener die Parteielite und das sozialistische Jugoslawien hinter-fragten150 und vom Bund der Kommunisten als wohl größte Gefahr im Hinblick auf die Propagierung des serbischen Nationalismus wahrgenommen wurden, formierte sich im Kosovo eine Gruppe von Serben, die es sich zur Aufgabe machte, durch öffentlichen Protest auf die Probleme im Kosovo auf-merksam zu machen,151allerdings erst Ende 1985 für eine breite Öffentlichkeit sichtbar wurde. Im Dezember 1985 überreichte die Gruppe eine von über 2000 Serben aus dem Kosovo unterschriebene Petition an die jugoslawische Bundesregierung, in der sie im Wesentlichen die jugoslawische Politik aufforderte, die Vertreibung der Serben aus dem Kosovo aufzuhalten und die Einflüsse des „albani-schen Chauvinismus“ und des „serbi„albani-schen Opportunismus“ innerhalb der politi„albani-schen Spitze in der Provinz einzudämmen.152 Die Petition, die ein weiteres Engagement der Gruppe einleitete, stellte gleichzeitig eine erste Annäherung an die „kritische Intelligenz“ Serbiens dar, die nicht nur in der Form und der Sprache der Petition, sondern auch in der expliziten Forderung nach der

Rehabilitati-Streik in Jugoslawien siehe z.B.: Danilović, Tomislav (1990): Pravo na štrajk. In: Glasnik Pravnog fakulteta u Kragujevcu 1989/1990, S. 245–259.

144 Vladisavljević (2008), S. 112.

145 Ebd.

146 Andere Quellen verzeichneten lediglich 65 Arbeitsniederlegungen im selben Jahr. Vgl. ebd. Auch die Zagreber Zeitung Vjesnik, die sich auf die Angaben des Präsidiums des Bundes der Gewerkschaften der Vojvodina berief, sprach von 50 Streiks in der Provinz, an denen bis Ende September rund 11 500 Arbeitende beteiligt waren. Vgl. [Tanjug] (05.10.1988):

Statistics on work stoppages. BBC Summary of World Broadcasts. (30.09.1988). Zagreb. BBC.

147 Predsedništvo SAP Vojvodine; Predsedništvo PK SKV (Februar 1988): Aktuelna pitanja političko-bezbednosne situacije u SAP Vojvodini. Arhiv Vojvodine, F. 334, kut. 408, DT Broj: 01-4/88, S. 4; Predsedništvo SAP Vojvodine; Predsedništvo PK SKV (26.02.1988): Aktuelna pitanja političko-bezbednosne situacije u Socijalističkoj Autonomnoj Pokrajini Vojvodini.

Arhiv Vojvodine, F. 334, kut. 408, 01 DT Broj: 4/2-88, S. 4.

148 Predsedništvo PK SKV (23.09.1988): Aktuelna pitanja političko-bezbednosne situacije u Socijalističkoj Autonomnoj Pokrajini Vojvodini. Arhiv Vojvodine, F. 334, kut. 408, DT broj: 9/1-88, S. 13; Predsedništvo SAP Vojvodine; Predsedništvo PK SKV (26.12.1988): Političko-bezbednosna procena u Socijalističkoj Autonomnoj Pokrajini Vojvodini. Arhiv Vojvodine, F. 334, kut. 408, 0209 DT Broj: 38/2-88, S. 12 f.

149 Vgl. Jović, S. 410.

150 Zu den Intellektuellen in Serbien, die der Parteipolitik kritisch gegenüberstanden, siehe u.a.: Dragović-Soso, Jasna (2002): Saviours of the nation? Serbia’s intellectual opposition and the revival of nationalism. London: Hurst & Co.

151 Trotz verschiedener problematischer Interpretationen, auf die später noch eingegangen wird, bleiben die Arbeiten von Nebojša Vladisavljević die bislang systematischsten Untersuchungen dieser Gruppe und ihrer Proteste. Siehe vor allem Vladisavljević (2008).

152 Vgl. Jović, S. 356.

on all derjenigen, die aufgrund ihrer frühzeitiger Warnungen vor dem Kosovo-Problem aus dem po-litischen Leben ausgeschlossen wurden, sichtbar wurde.153

Die Spannungen in der Provinz nahmen währenddessen stetig zu. Durch sensationalistische und tendenziös nationalistische Berichte der einflussreichen Belgrader Medien verstärkt, die die Lage im Kosovo als „Genozid“ an den Serben beschrieben, wuchsen die in Teilen der serbischen Minderheit im Kosovo ohnehin bestehenden Gefühle von Unsicherheit und Angst vor vermeintlichen oder tat-sächlichen Übergriffen durch Mitglieder der albanischen Mehrheit.154 Ob und inwiefern die Berichte über Drohungen, Überfälle, Vergewaltigungen oder sogar Vertreibungen von Serben im Kosovo der Wahrheit entsprachen, sei dahin gestellt.155 Die Wahrnehmungen einer zunehmenden Bedrohung der Serben durch die albanische Mehrheitsbevölkerung führten jedenfalls zu einer Reaktion der Gruppe von Serben aus dem kleinen, nahe Priština gelegenen Ort Kosovo Polje auf diese Ereignisse bzw. Berichte. Die Zusammensetzung der ursprünglich rund 30 Mitglieder zählenden Gruppe, die seit Beginn der 1980er Jahre an verschiedenen Diskussionen im Rahmen der lokalen Organisation des Sozialistischen Bundes des werktätigen Volkes teilnahm, war ebenso wie ihre politische Ausrich-tung recht unterschiedlich: sowohl Mitglieder verschiedener gesellschaftlich-politischer Organisati-onen und sogar frühere ranghohe lokale Funktionäre wie auch PersOrganisati-onen, die bis dahin keine politi-sche Tätigkeit aufgenommen hatten, gehörten dazu.156 Die wesentliche Gemeinsamkeit, die diese Gruppe auszeichnete, war ein mehr oder minder stark ausgedrückter Nationalismus sowie die Über-zeugung, als Serben keine Zukunft in einem autonomen Kosovo zu haben, es sei denn, die prekäre Lage ließe sich von Belgrad aus ändern. Im Gegensatz zu den frühen öffentlich recht wenig beachte-ten Aktionen der Gruppe, die ab 1985 zunehmend als Protestgruppe auftrat,157 stieg die Bekanntheit der Kosovo-Serben im Laufe des Jahres 1987 und insbesondere 1988 bis zu einem ungeahnten Aus-maß. Neben der „günstigen Situation“, nämlich der bereits erwähnten verbreiteten Praxis der Streiks und Proteste, war es ein besonderer „glücklicher Umstand“, der sich als ausschlaggebend für den Zuwachs an politischer Relevanz dieser Gruppe zeigte.

Zur selben Zeit kam es nämlich im Bund der Kommunisten Serbiens zum Aufstieg eines Mannes, der spätestens 1987 beschloss, die „Kosovo-Frage“ für seine politischen Zwecke aufzugreifen: Slobo-dan Milošević.158 Insbesondere im Zusammenhang mit der politischen Auseinandersetzung um die Verfassungsamendments, die seit 1988 auf der Tagesordnung in Serbien standen, kam Milošević die Hilfe der organisierten Kosovo-Serben zugute. Gleichsam über Nacht wurde aus einer relativ kleinen Gruppe von radikalen Unzufriedenen eine politisch wirksame Mobilisierungsstruktur, die schließ-lich Kosovo verließ und sich in anderen Teilen Serbiens in einer neuen Disziplin erprobte: den

„Mee-153 Ebd.

154Öffentlich wirksam waren z.B. der als „Fall Martinović“ betitelte Übergriff sowie die Ermordung mehrerer Soldaten in der Kaserne in Paraćin durch einen ihrer Kamaraden. Beide Fälle, die als Angriffe von albanischen Separatisten gegen Serben bzw. ganz Jugoslawien ausgelegt wurden, schockierten die jugoslawische Öffentlichkeit. Vgl. z.B. Ebd., S. 353 ff.

bzw. 389ff. sowie Sundhaussen, Holm (2007): Geschichte Serbiens. 19.-21. Jahrhundert. Wien: Böhlau, S. 391.

155 Die bisherigen Untersuchungen konnten das von den protestierenden Serben im Kosovo angegebene Ausmaß an Straf-taten jedoch nicht bestätigen. Vgl. z.B. Jović, S. 355 f. Siehe auch: Sundhaussen (2007), S. 399.

156 Vgl. Vladisavljević (2008), S. 78–108, hier S. 90.

157 Ebd., S. 90 ff.

158 Zu Miloševićs Aufstieg siehe außer Jović (2003) vor allem: Dragović-Soso (2002); Sell, Louis (2002): Slobodan Milosevic and the destruction of Yugoslavia. Durham: Duke Univ. Press; Lekić, Slaviša; Pavić, Zoran (Hg.) (2007): VIII sednica CK SK Srbije. Nulta tačka „narodnog pokreta“. Beograd: Službeni glasnik (Biblioteka društvena misao. Edicija Vreme Jugosla-vije); Pavlović, Momčilo; Jović, Dejan; Petrović, Vladimir (Hg.) (2008): Slobodan Milošević: put ka vlasti. Osma sednica CK SKS. Uzroci, tok i posledice: Srbija 20 godina kasnije. 1987-2007. Zbornik radova sa međunarodnog naučnog skupa, održanog u Beogradu 21-22. septembra 2007. Beograd; Stirling: Institut za savremenu istoriju; Stirling University, Centre for European Neighbourhood.

tings“. Mehr als einen Besuch statteten die „mitingaši“159 ab Sommer 1988 auch zahlreichen Orten in der Vojvodina ab.

Die politische Spitze der Vojvodina, der anderen autonomen Provinz der Sozialistischen Republik Serbien, beobachtete die Umbrüche innerhalb des Bundes der Kommunisten Serbiens zunächst mit einem gewissen Abstand, stellte sich mit der Zeit aber als lästiges Hindernis für das neue von Mi-lošević dominierte Zentralkomitee in Belgrad heraus. Zwar willigte die Provinzparteiführung einigen der von Serbien vorgeschlagenen Änderungen der Republikverfassung Serbiens ein,160 im Wesentli-chen aber ließen die vojvodinisWesentli-chen Kommunisten den Versuch der Aushebelung des jugoslawi-schen Föderalismus zugunsten einer Kompetenzenenerweiterung der Republik Serbien nicht zu. So lehnten die Provinzbehörden bis zum Spätsommer 1988 den Vorwurf der „Staatlichkeit“161 ab und versuchten die von ihnen als notwendig und richtig aufgefasste Entwicklung der verfassungsrechtli-chen Position der Vojvodina seit der Gründung Jugoslawiens162 zu verteidigen.163 Gleichzeitig wuchs aber die Sorge um die eigenen Erfolgschancen. So hieß es in einem Bericht der Arbeitsgruppe für Verfassungsfragen des Parlamentes der SAP Vojvodina im Sommer 1988: „Besonders besorgniserre-gend ist, dass der […] angenommene Entwurf der Amendements zur Verfassung SRS164 oftmals als das Minimum des Minimums qualifiziert wird, was unvermeidlich die Frage aufwirft, was denn das Maximum sei, das gefordert werden soll, insbesondere zumal eine zweite Phase der Änderungen der Verfassung der SFRJ und der SR Serbien bereits angekündigt wird, welche die angeblich offensichtli-che unlogisoffensichtli-che und absurde Verfassungslage der SR Serbien entfernen soll, wobei die Aufhebung der Merkmale der Provinzen als konstitutiver Elemente der Föderation offen propagiert wird.“165 Die mitunter schwierigen Verhandlungen der Vertreter aus Belgrad und Novi Sad zogen sich dabei be-reits über Monate,166 ohne dass die Vertreter der Republik zufrieden gestellt werden konnten.167 Doch neben dem institutionellen Weg der Änderungen, gab es eben auch den außerinstitutionellen:

So gelangten die „Meetings“ der Kosovo-Serben in die andere autonome Provinz.

Die ersten „Meetings“ in der Vojvodina fanden im Sommer 1988 statt. Organisiert wurden sie an-fänglich vom „Odbor“ (Ausschuss) der Kosovo-Serben, zunehmend aber auch selbständig von loka-len Unterstützergruppen, deren Protestkundgebungen lediglich einen „Besuch“ der Kosovo-Serben vorsahen. Im Laufe des Jahres 1988 fanden insgesamt 33 „Meetings“ statt – davon 19 vor und 14 nach

159 Mangels passenderer Übersetzung wohl am besten: „Meeting-Gänger“.

160Radna grupa Komisije za ustavna pitanja Skupštine SAP Vojvodine (Avgust 1988): Aktuelna pitanja vezana za vodjenje javne rasprave o Nacrtu amandmana na Ustav SR Srbije. Arhiv Vojvodine, F. 334, kut. 1018.

161 Die Position der serbischen Führung war, dass nur die Republik Serbien bestimmte als Elemente der Staatlichkeit ausge-legte Kompetenzen – etwa eine eigene Judikative oder das Recht, internationale Abkommen abzuschließen – haben durf-te. Zum politischen System des sozialistischen Jugoslawiens bzw. jeweils zum jugoslawischen Föderalismus und zur Struktur der gesellschaftlich-politischen Organisationen siehe in deutscher bzw. englischer Sprache z.B.: Beckmann-Petey, Monika (1990): Der jugoslawische Föderalismus. München: R. Oldenbourg (Untersuchungen zur Gegenwartskun-de Südosteuropas, Bd. 29); sowie Seroka, Jim; Smiljković, Radoš (1986): Political organizations in Socialist Yugoslavia.

Durham: Duke University Press (Duke Press policy studies).

162 Zur rechtlichen Entwicklung der Autonomie der Vojvodina im sozialistischen Jugoslawien siehe z.B. Botić, Milorad (1969): Autonomija Vojvodine u sistemu jugoslovenske federacije. Politički i ustavno-pravni položaj i razvitak autonomije Vojvodine. In: Glasnik Advokatske komore Vojvodine 18 (2), S. 1–11; Botić, Milorad (1969): Autonomija Vojvodine u sistemu jugoslovenske federacije. Ustavni amandmani i nacrt Ustavnog zakona Socijalističke autonomne pokrajine Vojvodine. In: Glasnik Advokatske komore Vojvodine 18 (3), S. 1–15; Pajvančić, Marijana (1979): Položaj SAP Vojvodine u SR Srbiji. (SKV u ostvarivanju ustavnog položaja SAP Vojvodine u SR Srbiji). In: Istraživanja 9 (8), S. 399–417.

163Insgesamt orientierten sich die Handlungen der Provinzführung an der festen Überzeugung, die eigene Position sei durch die jugoslawische Verfassung unantastbar.

164 Hier: Sozialistische Republik Serbien.

165 Radna grupa Komisije za ustavna pitanja Skupštine SAP Vojvodine (1988), S. 3.

166 Ebd.

167 Dabei waren die Konflikte zwischen den Parteiführungen in Novi Sad und Belgrad keineswegs neu. Immer wieder kam es bereits seit den 1960er Jahren zu Auseinandersetzungen eben um die Fragen von Kompetenzen. Dazu siehe z.B. Bjelica (2011a); Bjelica (2011c); Končar, Ranko; Boarov, Dimitrije (Hg.) (2011): Stevan Doronjski. Odbrana autonomije Vojvodine.

Novi Sad: Muzej Vojvodine; Atanacković (2013).

dem Sturz der Provinzparteispitze.168 Zu den bedeutendsten Protestereignissen vor dem als eigentli-che „Joghurt-Revolution“ verstandenen Höhepunkt Anfang Oktober waren – aus Sicht der Protestie-renden wie auch der Provinzsicherheitsbehörden – die Kundgebungen in Novi Sad am 9. Juli, am 23.

dem Sturz der Provinzparteispitze.168 Zu den bedeutendsten Protestereignissen vor dem als eigentli-che „Joghurt-Revolution“ verstandenen Höhepunkt Anfang Oktober waren – aus Sicht der Protestie-renden wie auch der Provinzsicherheitsbehörden – die Kundgebungen in Novi Sad am 9. Juli, am 23.