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Schutz und Nutzung von Daten und künstlicher Intelligenz: welche Rolle spielen geistige Eigentumsrechte? Welcher Zusammenhang

Im Dokument Wie wir leben wollen (Seite 154-171)

Geistige Eigentumsrechte

9.2  Schutz und Nutzung von Daten und künstlicher Intelligenz: welche Rolle spielen geistige Eigentumsrechte? Welcher Zusammenhang

besteht zu privaten Nutzerrechten?

In diesem Abschnitt soll nun die Regulierung des Innovationspotenzials von Daten und der durch diese generierte künstliche Intelligenz (KI) untersucht werden. Daten werden dabei als ein weit gefasster Begriff behandelt, der »isolierte oder isolierbare Einheiten, welche maschinell bearbeitet und analysiert werden können«, beinhaltet, wie z. B. Sta-tistiken, Finanzdaten, Messdaten, in Listen vorhandene Informationen, strukturierte und unstrukturierte Texte sowie Multimediaproduktionen (Schweizer Bundesverwal-tung, 2019–2023).

Hier rücken die geistigen Eigentumsrechte als klassisches Innovationsförderungs-instrument ins Zentrum der Überlegungen, da es bei KI und Daten nicht um Sachwerte, sondern um die Anwendung von Ideen durch Algorithmen und deren Ergebnisse geht.

Entscheidend wird dabei sein, wie Immaterialgüterrechte gestaltet werden sollen, um einerseits Rechtssicherheit und Investitionsschutz zu gewähren, andererseits aber dazu zu ermutigen, Daten anderen Wirtschaftsteilnehmern zugänglich zu machen. Je bereit-williger Daten zur Verfügung gestellt (im Fachjargon »geteilt«) werden, desto größer wird das Innovationspotenzial dieser Daten sowie der auf ihnen aufbauenden KI. Dieser Ansatz liegt auch der im Februar 2020 von der EU-Kommission veröffentlichten euro-päischen Datenstrategie zu Grunde (Europäische Kommission, 2020). Darin stellt die Kommission Folgendes fest (ebenda, S. 7f.):

»Der eigentliche Wert von Daten liegt in ihrer Nutzung und Weiterverwendung. Für eine innovative Weiterverwendung von Daten, darunter auch zur Entwicklung künstlicher Intelligenz, stehen gegen-wärtig nicht genügend Daten zur Verfügung.

[…]Trotz ihres wirtschaftlichen Potenzials hat sich die gemeinsame Nutzung von Daten zwischen Unternehmen bislang nicht ausreichend durchgesetzt. Gründe hierfür sind fehlende wirtschaftliche Anreize (auch die Furcht, Wettbewerbsvorteile einzubüßen), mangelndes Vertrauen zwischen den Wirtschaftsteilnehmern bezüglich der tatsächlich vertragsgemäßen Nutzung der Daten, ungleiche Verhandlungspositionen, Furcht vor missbräuchlicher Vereinnahmung der Daten durch Dritte und mangelnde rechtliche Gewissheit darüber, wer mit den Daten was tun darf (z. B. bei gemeinsam hervorgebrachten Daten wie solche aus dem Internet der Dinge – IoT).«

Die folgenden Fragen werden in diesem Abschnitt analysiert:

1. Sind Immaterialgüterrechte geeignet, sowohl KI als auch die dieser zu Grunde liegenden Daten zu schützen?

2. Ergeben sich Konflikte zwischen dem Schutz von Wirtschaftsakteuren durch Immaterialgüterrechte einerseits und dem Schutz der Nutzer gemäß der Daten-schutzgrundverordnung (DSGVO) andererseits?

9.2.1 Anwendbarkeit geistiger Eigentumsrechte auf die KI

Patente schützen bestimmte Erfindungen. Patentschutz kommt einerseits in Betracht für die KI selbst; andererseits für die durch KI geschaffenen Erzeug-nisse. Zunächst zu Ersterem. Das entscheidende Element der KI, um dessen Patentfähigkeit es hier geht, ist der Algorithmus. Dies ist eine (in dem uns inte-ressierenden Zusammenhang digital programmierte) Vorgehensweise, um ein Problem zu lösen (Czernik, 2016). Damit fällt ein Algorithmus unter die grund-sätzlich nicht patentschutzfähigen Programme für Datenverarbeitungsanlagen, wissenschaftliche Theorien und mathematische Methoden.87 Das Europäische Patentamt verneint deshalb die Patentfähigkeit von KI an sich. Es bejaht aber die Patentierbarkeit, wenn die fragliche KI und der zu Grunde liegende Algorithmus einer konkreten technischen Anwendung dienen (vgl. Free, 2019/2020, S. 32).88 Algorithmen allein, also in abstrakter Form, sind damit nicht patentfähig. Ähn-lich den mathematischen Methoden liegt hier der Gedanke zu Grunde, dass der Allgemeinheit der Zugang zu solchen Bausteinen der Wissenschaft und Innova-tion nicht durch exklusive Rechte verwehrt werden soll. Dieser Gedanke dürfte auch auf die Ideen und Grundsätze zutreffen, die einem Computerprogramm zu Grunde liegen, einschließlich der Schnittstellen zwischen verschiedenen Pro-grammelementen. Allerdings können allgemeine Algorithmen als Geschäftsge-heimnis geschützt werden. Anders als ein Patent gewährt dieses keinen absoluten Kopierschutz, sondern schützt lediglich vor rechtswidriger Erlangung, Nutzung oder Offenlegung von geheim gehaltenen Informationen durch einen Konkur-renten. Dieser wird jedoch nicht daran gehindert, den Algorithmus durch faire Geschäftspraktiken selbst zu entwickeln und zu nutzen (s. weitere Ausführun-gen unten). Eine weitere Besonderheit bei der Patentierung von KI ergibt sich aus der Verpflichtung des Patentanmelders, die Erfindung »so deutlich und vollständig zu offenbaren, dass ein Fachmann sie ausführen kann.«89 Je nach Einzelfall ist es denkbar, dass KI sich durch datengestütztes Lernen zu einem gewissen Grad verselbstständigt und der Patentanmelder keine vollständige Ein-sicht in die genauen Prozesse der Erfindung hat. Eine vollständige Offenbarung der Erfindung ist in einem solchen Fall nicht möglich. Noch ist offen, wie Pa-tentämter diesem Problem begegnen. Nach Ansicht des Verfassers betrifft die Pflicht zur Offenlegung der Erfindung die KI auf der Entwicklungsstufe, in der sie der Erfinder entwickelt hat und noch vollständig durchschauen kann. Diese Entwicklungsstufe, und nicht eventuell weitere, verselbstständigte, muss als

Be-87 So z. B. § 1 (3) des deutschen Patentgesetzes. Vergleichbare Vorschriften finden sich in den Gesetzen anderer Staaten.

88 Der US Supreme Court verfolgt einen vergleichbaren Ansatz (Levy / Fussell / Streff Bonner, 2019/2020, S. 31).

89 § 34 (4), deutsches Patentgesetz.

urteilungsgrundlage der Patentfähigkeit dienen, also insbesondere der Prüfung von Neuheit, erfinderischem Schritt und industrieller Anwendbarkeit. Die Inter-national Association for the Protection of Intellectual Property hat zu Recht in diesem Zusammenhang die Ansicht geäußert, dieses Problem betreffe nur solche Erfindungen, die im Kern aus KI selbst bestehen, nicht aber solche, die lediglich durch KI ermöglicht werden, dann aber unabhängig von der KI bestehen und funktionieren (wie z. B. die durch KI ermöglichte aerodynamische Form einer Autokarosserie). (Association Internationale pour la Protection de la Propriété Intellectuelle, 2020, Randnummern 7 und 8)

Dies führt zur zweiten Frage dieses Abschnitts, nämlich der Patentierbarkeit der durch KI geschaffenen Erzeugnisse. Bei solchen Erfindungen stellt sich die Frage, ob sie noch dem menschlichen Programmierer der KI oder ihrem Anwender zugerechnet werden können, oder bereits als Resultat einer selbst-bestimmten KI anzusehen sind. Nach allgemeiner Auffassung setzt das deutsche Patentrecht eine natürliche menschliche Person als Erfinder voraus. Autonom agierende Maschinen, die selbstständig durch KI etwas Neues herstellen, kom-men daher nicht als Erfinder in Frage, so dass sich für diesen Bereich eine Rege-lungslücke auftut. Das Bundeswirtschaftsministerium geht noch davon aus, dass Fälle solcher selbstständigen KI äußerst selten sind (BMWi, 2019, S. 24). Wer aber soll in den heute häufig vorkommenden Fällen der nichtselbstständigen KI, durch die eine Erfindung geschaffen wird, ein Anrecht auf das Patent haben?

Der Programmierer der zu Grunde liegenden Software? Bezüglich dieser und der zu Grunde liegenden KI hat der Programmierer eventuell bereits einen Patentanspruch. Es erscheint übertrieben, ihm ein zusätzliches Patent an den KI-generierten Erzeugnissen zuzusprechen. Firmen, die KI einsetzen sollen, um innovativ tätig zu werden, würden wahrscheinlich zögern, in solche KI zu investieren, wenn ihnen keine Patentansprüche für KI-generierte Erzeugnisse zustünden (BMWi, ebenda). Dementsprechend liegt es nahe, den Anwender der KI als patentrechtlichen Erfinder des Erzeugnisses anzusehen. Dieser hat, anders als ihr Programmierer, die KI auf einen konkreten Einzelfall angewandt, um ein konkretes innovatives Produkt oder eine bestimmte Dienstleistung zu schaffen.

Urheberrechte erstrecken sich ausdrücklich auf Computerprogramme, soweit sie als persönliche geistige Schöpfungen des Programmierers gelten.90 Dagegen umfassen Urheberrechte nicht Ideen und Grundsätze, die einem Element eines Computerprogramms zu Grunde liegen, einschließlich der den Schnittstellen zu Grunde liegenden Ideen und Grundsätze.91 Dem Erfordernis der persönlich geistigen Schöpfung muss auch die KI genügen. Urheberrechtsschutz kommt in

90 § 2 (1) 1. und (2), § 69a (3), deutsches Urhebergesetz (UrhG), sowie Artikel 10.1, TRIPS-Abkommen.

91 § 69a (2) UrhG.

Betracht einerseits für die KI selbst – also eines Algorithmus zur digitalen Lö-sung eines Problems – und andererseits für Werke, die durch diese KI hergestellt werden – also zum Beispiel Fotos, Musik, Texte, weitere Software. Während der Schutz der KI selbst dem Softwareentwickler zu Gute kommen würde, wären die Rechteinhaber an den durch KI erstellten Werken Anwender von KI, wie z. B. Musiker oder Entwickler weiterführender Software. Die KI selbst kann in (seltenen) Fällen der Verselbstständigung nicht als persönlich geistige Schöpfung (und damit als urheberrechtlich schützbar) betrachtet werden, d. h., wenn ihre Prozesse nicht mehr von ihrem Programmierer durchschaut werden können und sich von der grundlegenden KI abheben. Eine Ausnahme gilt nur dann, wenn der Programmierer bestimmte Verselbstständigungsoptionen bereits in der grundlegenden KI vorgesehen hat (vgl. Schürmann / Rosental / Dreyer, 2019). Ur-heberschutz setzt nach heutiger Rechtsauffassung – wegen des Erfordernisses der persönlich geistigen Schöpfung – nämlich eine natürliche Person als Rechte-inhaber voraus (vgl. Schönenberger, 2017). Ebenso stellt sich die Rechtslage bei der Frage des Schutzes der Erzeugnisse von KI dar. KI-Anwender, die mit Hilfe von KI Werke wie Musik oder Texte herstellen, können dafür urheberrechtlichen Schutz beanspruchen. Dies gilt nicht mehr, wenn die KI bestimmte Werke selbst-ständig schafft und der KI-Anwender keinen Einfluss mehr auf deren Gestaltung hat (Vgl. Herfurth, 2019). Wie im Bereich des Patentrechts besteht hier also eine Regelungslücke. Diese ist allerdings, wie bereits erwähnt, solange unerheblich, wie die technischen Möglichkeiten zur Ermöglichung selbstständiger KI be-grenzt bleiben.

Das Recht zum Schutz von Geschäftsgeheimnissen kann sich auf jedwede KI erstrecken. Dies ist besonders für solche KI interessant, die aus oben genannten Gründen nicht urheberrechtlichen oder patentrechtlichen Schutz beanspruchen kann. Wesentlich praxisrelevanter als die bisher eher seltenen Fälle von verselbst-ständigter KI sind dies insbesondere die Ideen und Grundsätze eines Algorith-mus einschließlich der Schnittstellen zwischen verschiedenen Elementen eines Programms. Durch eine EU-Richtlinie von 2016 ist die Rechtslage in der EU diesbezüglich vereinheitlicht worden.92 In Anspruch nehmen kann diesen Schutz der Programmierer der KI selbst oder ein Anwender der KI. Das Recht schützt vor rechtswidrigem Erwerb, rechtswidriger Nutzung oder Offenlegung der KI, also insbesondere des zu Grunde liegenden Algorithmus. Allerdings besteht der Schutz nur solange, wie die KI geheim gehalten wird. Falls ein wertvoller Algo-rithmus direkt Teil eines vermarkteten Produkts ist (zum Beispiel die Software eines medizinischen Diagnosegerätes), schützt ein Geschäftsgeheimnis nicht vor

92 Richtlinie (EU) 2016/943 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 8. Juni 2016 über den Schutz vertraulichen Know-hows und vertraulicher Geschäftsinformationen (Geschäftsgeheimnisse) vor rechts-widrigem Erwerb sowie rechtswidriger Nutzung und Offenlegung. (im Folgenden: Richtlinie über Ge-schäftsgeheimnisse).

Versuchen, die KI und insbesondere den zu Grunde liegenden Algorithmus auf faire Art und Weise zu entschlüsseln. Dies stellt eine wesentliche Beschränkung dieses Rechtsinstitutes dar. Anders ist die Lage in Fällen, in denen der wertvolle Algorithmus nicht nach außen greifbar wird, also zum Beispiel lediglich einen internen Fertigungsprozess für ein Produkt optimiert. Hier kann ein Geschäfts-geheimnis wertvollen Schutz bieten.

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass das bestehende System der Imma-terialgüterrechte grundsätzlich auf KI anwendbar ist. Entscheidend ist sowohl im Patent- als auch im Urheberrecht, ob der jeweilige Algorithmus speziell als Lösungsansatz für ein bestimmtes Problem entwickelt wurde. Dies wird in vie-len Fälvie-len zu bejahen sein. Abstrakte, von konkreten Anwendungen losgelöste Theorien, Grundsätze und Ideen sowie Programmschnittstellen sind weder patent- noch urheberrechtsfähig, ebenso wenig die seltenen Fälle verselbststän-digter KI. Hier bietet das Recht an Geschäftsgeheimnissen nur dann einen ernst zu nehmenden Schutz, wenn die entsprechenden Algorithmen oder zu Grunde liegenden Ideen nicht öffentlich zugänglich sind, also z. B. Teile eines internen Fertigungsprozesses betreffen.

Stellungnahme / Handlungsempfehlungen

Rechtspolitisch erscheint es wünschenswert, die weitere Entwicklung der KI zu fördern, um unserer Gesellschaft die Vorteile der Digitalisierung zu ermöglichen, zukunftsträch-tige Arbeitsplätze zu schaffen und Deutschlands und Europas Wettbewerbsfähigkeit zu sichern. Eine künftige Entwicklung selbstständiger (»starker«) KI sollte allerdings von ethischen Überlegungen begleitet werden, welche Folgen der Digitalisierung un-erwünscht sind (vgl. Schmiedchen u. a. 2018). Dies würde über den Zweck des vor-liegenden Kapitels hinausgehen. Immaterialgüterrechte sind entscheidend dafür, wie der Schwerpunkt bei Investitionsanreizen für KI gesetzt werden soll. Ausschließliche Rechte spielen hierbei eine wichtige Rolle. Andererseits ist gerade im IKT- und Soft-warebereich auch der Austausch mit anderen Entwicklern innovationswesentlich. Das Immaterialgüterrecht sollte also entsprechend austariert sein, um Innovation sowohl durch Schutzrechte als auch verstärkten Austausch zu fördern. Die Ausnahme der den Algorithmen zu Grunde liegenden Theorien und Ideen vom Schutzbereich der wich-tigsten geistigen Eigentumsrechte ermöglicht deren Nutzung durch Wettbewerber und Forscher. Traditionelle Schutzrechte sind in großem Maße auf KI anwendbar, so dass wichtige Investitionsanreize prinzipiell zur Verfügung stehen. Allerdings besteht eine Regelungslücke für selbstständige (»starke«) KI. Wegen der momentan nicht gegebenen technischen Möglichkeiten, starke KI tatsächlich zu erschaffen und anzuwenden, stellt sich kein unmittelbarer Handlungsbedarf. Jedoch sollte bereits jetzt mit Überlegungen begonnen werden, ob und wie starke KI eines Tages als Immaterialgüterrecht schützbar sein sollte. Hier soll auf zwei Fragen eingegangen werden, und zwar: (1) Wie kann das Immaterialgüterrecht so ausgestaltet werden, dass die Schaffung starker KI selbst in

kontrollierbaren Bahnen verläuft? (2) Sollte man das Immaterialgüterrecht anpassen, um die Erzeugnisse starker KI zu schützen?

(1) Wie bereits dargelegt, gibt es nach heutiger Rechtsauffassung erhebliche Be-denken bezüglich der Patentierbarkeit oder Urheberrechtsfähigkeit von starker KI (u. a. wegen des Fehlens eines menschlichen Erfinders oder Urhebers eines Algorithmus). Starke KI könnte aber als Geschäftsgeheimnis geschützt werden.

Würde ein entsprechender Schutz einer unkontrollierten Entwicklung von KI Vorschub leisten, die in ein Szenario münden könnte, in dem der Mensch den Einfluss auf die KI verlöre? Anders als ein Patent kann ein Geschäftsgeheimnis einen Wettbewerber grundsätzlich nicht an der selbstständigen Entwicklung der geheim gehaltenen Technologie hindern. Man darf ein Geschäftsgeheimnis er-forschen und entschlüsseln, solange man lautere Mittel einsetzt und nicht etwa auf Industriespionage zurückgreift. Diese Erkenntnis ist wichtig für die Zulässig-keit der Rekonstruktion von Quellcodes, die Aufschluss über die Konstruktion von Computersoftware zu geben vermögen. Dies ermöglicht es, Fehlfunktio-nen zu entdecken und die weitere Entwicklung eines Algorithmus zu steuern.

93 Allerdings ist nach heutigem EU-Recht die Rekonstruktion von Software nicht unbegrenzt erlaubt, sondern unterliegt gewissen, vom Urheberrecht am Programm bestimmten Grenzen.94 Entsprechend ist die Dekompilierung eines Programms ausschließlich zum Zweck der Herstellung von Interoperabilität zwischen dem rekonstruierten Programm und einem unabhängig geschaffenen, anderen Programm zulässig.95 Zwecks Überprüfung der Funktionsfähigkeit eines Programms darf dieses durch das Laden, Anzeigen, Ablaufen, Übertra-gen oder Speichern beobachtet, untersucht und getestet werden.96 Soweit diese Handlungen eine auch nur vorübergehende oder teilweise Vervielfältigung des Programms erforderlich machen, muss allerdings die Zustimmung des Rech-teinhabers eingeholt werden.97 Da die Rekonstruktion des Quellcodes in der

93 In der Literatur ist darauf hingewiesen worden, dass die Rekonstruktion des Quellcodes allein nicht ausreicht, um die Funktionsweise eines Programms vollständig zu verstehen. Demnach sind noch wei-tere Schritte erforderlich, die hier nicht erörtert werden sollen (Samuelson / Scotchmer, 2001 S. 1613)

94 Anders als der dem Programm zu Grunde liegende Quellcode, der eine urheberrechtlich nicht schütz-bare Idee beinhaltet, stellt ein Softwareprogramm den kreativen Ausdruck dieser Idee dar und kann somit durch Urheberrecht geschützt werden.

95 Artikel 6(2)(a) Richtlinie 24/09/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. April 2009 über den Rechtsschutz von Computerprogrammen. Vorhanden unter https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32009L0024&from=en

96 Ebda, Artikel 5(3).

97 Ebda, Artikel 4(1)(a). Die in Artikel 5(3) formulierte Ausnahme vom Zustimmungsvorbehalt ist derart weit gefasst, dass sie keine eigentliche Ausnahme begründet, sondern einen Zirkelschluss: »Die zur Verwendung einer Programmkopie berechtigte Person kann, ohne die Genehmigung des Rechtsinha-bers einholen zu müssen, das Funktionieren dieses Programms beobachten, untersuchen oder testen, um die einem Programmelement zugrundeliegenden Ideen und Grundsätze zu ermitteln, wenn sie dies durch Handlungen zum Laden, Anzeigen, Ablaufen, Übertragen oder Speichern des Programms

Regel das Kopieren des Programms erfordert (dies kann gefolgert werden aus:

Samuelson / Scotchmer, 2001, S. 1609), kann dieses Zustimmungserfordernis eine Programmüberprüfung verhindern oder, falls zunächst eine kostenpflich-tige Lizenz erworben werden muss, finanziell abschreckend wirken. Nicht jeder Urheber mag Interesse an einer Überprüfung seiner Softwareprogramme haben.

Im Hinblick auf künftige Entwicklungen starker KI erscheint hier eine Re-vision der EU-Richtlinie über den Rechtsschutz von Computerprogrammen von Nöten. Erforderlich ist eine klare Ausnahmeregelung zu Gunsten jeglicher Aktivitäten, die der Überprüfung der Funktionsfähigkeit eines Programms die-nen. Dies erscheint erforderlich, um die zukünftige Entwicklung von Quellcodes kritisch zu begleiten und zu verhindern, dass deren Funktionsweise zunehmend dem menschlichen Verständnis und Einfluss entzogen wird.

Auch aus rechtspolitischer Sicht sollte die Überprüfung eines Programms unabhängig von der Zustimmung des Urhebers stattfinden können. Der Schutz des Urheberrechts erstreckt sich nicht auf die der Schöpfung zu Grunde liegende Idee,98 in diesem Fall also den Quellcode. Eine Vervielfältigung des Programms kann dann nicht als Urheberrechtsverletzung angesehen werden, wenn die Ver-vielfältigung nicht das eigentliche Ziel ist, sondern dem Verstehen des nicht ur-heberrechtlich geschützten Quellcodes dient. Eine restriktivere Anwendung des Urheberrechts führt zudem zu einer unzulässigen Einschränkung des Freiraums, den ein an einem Quellcode bestehendes Geschäftsgeheimnis vorsieht. Danach ist die Entschlüsselung des geschützten Geheimnisses durch redliche Mittel er-laubt. Eine solche Entschlüsselung wird aber illegalisiert, wenn man im Urheber-recht eine Rekonstruktion des Programms zwecks seiner Überprüfung verbietet.

Im Abschnitt zur Anwendbarkeit geistiger Eigentumsrechte auf KI ist darauf hingewiesen worden, dass die zulässige Entschlüsselung eines Geschäftsgeheim-nisses nur dann möglich ist, wenn die entsprechende Technologie öffentlich zu-gänglich ist, also zum Beispiel in ein vermarktetes Produkt integriert ist. Ist die KI aber zum Beispiel ein Teil eines rein internen Herstellungsprozesses, haben Dritte keinen Zugriff und die soeben angestellten Überlegungen zur Revision der EU-Richtlinie über den Rechtsschutz von Computerprogrammen bieten wenig Hilfestellung. Für derartige Konstellationen erscheint ein Vorschlag der Vereini-gung Deutscher Wissenschaftler (VDW) interessant. Demnach sollen KI-rele-vante Konstruktionsangaben und Quellcodes in staatlichen Kontrollinstituten gespeichert werden, um sie langfristig öffentlich zugänglich zu machen und da-durch Fehlfunktionen lückenlos zu dokumentieren und die Erfolgschancen für

tut, zu denen sie berechtigt ist.« (Hervorhebung durch den Verfasser). Es ist selbstverständlich, dass Jemand für Handlungen, zu denen er berechtigt ist, keiner Genehmigung des Rechteinhabers bedarf.

Wozu ohne Genehmigung agierende Dritte berechtigt sind, ergibt sich aus Artikel 4(1)(a), nämlich zum Laden, Anzeigen, Ablaufen, Übertragen oder Speichern des Programms, aber nur solange dies keine Verfielfältigung desselben erfordert.

98 Siehe z. B. Artikel 9(2), TRIPS-Abkommen.

Reparaturen zu optimieren (Schmiedchen u. a., 2018, S. 17). Bei Einverständnis des Inhabers eines Geschäftsgeheimnisses sind keine immaterialgüterrechtlichen Probleme erkennbar. Liegt ein Einverständnis jedoch nicht vor, berechtigt der Schutz von Geschäftsgeheimnissen gerade zum Schutz vor öffentlichem Zugang zwecks Wahrung der Wettbewerbsfähigkeit. Eine Möglichkeit, dieses Schutz-recht mit der von der VDW vorgeschlagenen Dokumentationspflicht in Einklang zu bringen, existiert im Bereich der Forschungs- und Entwicklungsförderung durch öffentliche Mittel. Staatliche Institutionen, die öffentliche Mittel zur For-schung und Entwicklung von KI zur Verfügung stellen, können dem KI-Ent-wickler bestimmte Nutzungsbedingungen als Voraussetzung für den Zugang zu Fördermitteln auferlegen. Eine solche Bedingung könnte im Hinterlegen von KI-relevanter Information einschließlich bestimmter Algorithmen bestehen.

Eine solche Hinterlegungspflicht sollte jedoch andererseits so ausgestaltet sein, dass sie nicht die Bereitschaft zur Investition in die Entwicklung von KI hemmt.

Diese Gefahr bestünde, wenn kommerzielle Wettbewerber ungehindert Zugang zu hinterlegten Informationen hätten. Man könnte erwägen, Zugang gegen Zahlung eines Entgeltes zu gewähren, durch das der KI-Entwickler für seine Bemühungen entschädigt wird. Alternativ könnte man den Zugang auf Nicht-Wettbewerber, wie etwa Forscher an öffentlichen Einrichtungen, beschränken.

Darüber hinaus könnte man bestimmte Ausnahmetatbestände formulieren, bei deren Vorliegen ein staatliches Kontrollinstitut das Recht hätte, hinterlegte In-formationen zu veröffentlichen, z. B. um eine Gefahr für bestimmte öffentliche

Darüber hinaus könnte man bestimmte Ausnahmetatbestände formulieren, bei deren Vorliegen ein staatliches Kontrollinstitut das Recht hätte, hinterlegte In-formationen zu veröffentlichen, z. B. um eine Gefahr für bestimmte öffentliche

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