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Gestaltung menschenfreundlicher Technikumgebungen statt Selbstoptimierungs­ und Digitalisierungs­Zwang

Im Dokument Wie wir leben wollen (Seite 195-200)

Bildung und Digitalisierung – Technikfolgenabschätzung und die Entzauberung »digitaler Bildung« in Theorie und

11.2  Gestaltung menschenfreundlicher Technikumgebungen statt Selbstoptimierungs­ und Digitalisierungs­Zwang

11.2.1 Kontraproduktivität in der Technikphilosophie

Bereits in den 1970er Jahren prägte der Technikphilosoph Ivan Illich die Begriffe Con-vivialität (Illich 1973) und Kontraproduktivität (Illich 1973). Er zeigt in seinen Werken am Beispiel der Systeme Schule, Medizin, Verkehr und anfänglich auch Medien die

133 Eine deutschlandweite Online-Befragung (www.muendig-studie.de), die als Bestandteil des von der Software AG – Stiftung geförderten Forschungsprojektes »Medienerziehung an reformpädagogischen Bildungseinrichtungen« durchgeführt wurde.

Gefahren einer Kontraproduktivität technologischer Entwicklung. Darunter versteht er, dass ein modernes Produktionssystem zunächst konzipiert, verwirklicht und finanziert wird, um den Nutzern Vorteile zu ermöglichen. Die Entwicklung gehe anschließend zwar in die gleiche Richtung weiter, jedoch kehre sich ihre Wirkung in der Gesamtbilanz vom Positiven ins Negative um: Das Überhandnehmen der Technologie führe dazu, dass schließlich nur noch wenige privilegierte Nutzergruppen von der Entwicklung pro-fitierten. Lange vor dem Einzug von Internet und Smartphones in den Alltag kritisiert Illich »ein Nachrichtenwesen, dessen Informationsflut Bedeutungen untergräbt und Sinn überschwemmt, wachsende Abhängigkeit, die durch Bewusstmachung zementiert wird « (Illich 1982, S. 135). Er wirbt dafür, nicht einzelne Menschen zu einer Selbstdiszipli-nierung anzuleiten, die ihnen ermögliche, trotz kontraproduktiver gesamtgesellschaft-licher Entwicklungen gesund und produktiv zu bleiben, sondern sich auf sogenannte

»convivial tools«134 zu beschränken, d. h. technologische Entwicklungen so zu gestalten, dass es dem einzelnen Nutzer leicht gemacht werde, sie gewinnbringend einzusetzen, ohne sich dadurch zu schaden (Illich 1982, S. 135).

Fast 40 Jahre nach Illich beschreibt die amerikanische Techniksoziologin Sherry Turkle (2011) kontraproduktive Auswirkungen der Digitalisierung im Alltag – also nicht in Bildungseinrichtungen – auf das menschliche Sozialleben. Weitere fünf Jahre später zeigt eine Analyse von Längsschnitt-Daten zum Alltag US-amerikanischer Jugendlicher ein als »Smartphone-Knick« bezeichnetes Bild (Twenge 2017): Ungefähr zeitgleich mit der flächendeckenden Verbreitung von Smartphones etwa ab 2010 sinkt nach Selbstbericht der Befragten die Lebenszufriedenheit, während vermehrt von (u. a.) Einsamkeit und Depressionen berichtet wird.

11.2.2 Problemdimensionen Zeit, Inhalt und Funktion

Laut Studie des Deutschen Instituts für Vertrauen und Sicherheit im Internet (2018) mit dem Titel »Euphorie war gestern« haben in Deutschland rund ein Drittel der Befrag-ten 14- bis 24-jährigen Angst, »internetsüchtig« zu sein, etwa 40 Prozent haben Angst vor einer weitgehend digitalisierten Zukunft. Die durchschnittlichen Bildschirmzeiten deutscher Kinder und Jugendlicher lagen bereits 2014 bei mehr als dem Doppelten der von Experten empfohlenen Maximalnutzung (Bitzer, Bleckmann, Mößle 2014). Im Lockdown haben sich die Bildschirmnutzungszeiten von Kindern und Jugendlichen, zumindest nach vorläufigen Studienergebnissen (Langmeyer, Guglhör-Rudan, Naab et al. 2020; Felschen 2020) nochmals um einen Faktor anderthalb bis eindreiviertel erhöht, so dass sie nun bei etwa dem Dreifachen des empfohlenen Maximums liegen dürften. Der Zuwachs ist in benachteiligten sozialen Schichten noch ausgeprägter. Zur hier erfassten Bildschirmmediennutzung in der Freizeit kommt noch die Nutzung für schulische Zwecke hinzu.

134 Bedeutet: Werkzeuge für menschliches Zusammenleben

Allerdings ist die Frage nach dem zeitlichen Ausmaß der Nutzung digitaler Bildschirm-medien nur eines von mindestens drei relevanten Kriterien, die zwischen einer lern- und entwicklungsförderlichen und einer entwicklungsbeeinträchtigenden Nutzung unter-scheiden lassen. Wir erachten dabei die Abgrenzung von und Überschneidung zwischen den drei Problemdimensionen und zwei Nutzungsmodi als wichtig (Vgl. Bleckmann, Mößle 2014). Zu den Problemdimensionen gehören Inhalt (Was zeigt der Bildschirm?), Zeit (Wieviel Zeit wird vor dem Bildschirm verbracht?) und Funktion (Wird Langeweile bekämpft? Werden dysfunktionale Stimmungen unterdrückt? Wird der Bildschirm im Familiengefüge als Babysitter, Erziehungs-/Druckmittel, etc. eingesetzt? Werden Sozial-kontakte verdrängt oder unterstützt?). Heute würden wir auch fragen: Welche Nutzer-daten werden gesammelt, welche Profile generiert (ggf. als Unterdimension von »Inhalt«)?

Wie lang sind die ununterbrochenen Zeitfenster der »Muße« (ggf. als Unterdimension von »Zeit«)? Bei den Nutzungsmodi wird unterschieden zwischen »foreground media exposition« (der / die Lernende befasst sich selbst und direkt mit dem Medium), »back-ground media exposition« (ein Gerät läuft in Anwesenheit eines / einer Lernenden) und

»technoference« (eine Bezugsperson wie Elternteil oder Lehrkraft ist durch ein meist mobiles Gerät von der Kommunikation mit dem / der Lernenden abgelenkt135.

11.2.3 Medienwirkungsforschung zwischen privater Freizeitnutzung und Nutzung für Bildungszwecke

Wichtig ist zudem die Unterscheidung zwischen Forschungsergebnissen für die außer-schulische und außer-schulische Bildschirmmediennutzung. Die außeraußer-schulische oder Frei-zeit-Nutzung wirkt in der Bilanz mit kleinem, aber signifikantem Effekt lernhemmend (Mößle, Bleckmann, Rehbein, Pfeiffer 2012). Die Nutzung in der Schule bzw. im Kon-text schulischen Lernens wirkt sich sehr unterschiedlich aus, in der Bilanz bisher neutral mit inkonsistenten Befunden, mal lernförderlich, mal lernhemmend je nach Einsatz-form (Balslev 2020, Zierer 2015). Zwischen Lernklima im Elternhaus und schulischer und außerschulischer Nutzung und Ausstattung von Kindern mit digitalen Bildschirm-medien besteht eine hochkomplexe Interdependenz (s. Abb.1)136. »Tablet / Laptop« (in der Mitte der Abbildung) sind die am häufigsten zum Einsatz kommenden Geräte, stehen hier aber stellvertretend für alle digitalen Bildschirmgeräte, die im Kontext der Bildungseinrichtung zum Einsatz kommen, also auch PC und Smartphones. Während der pandemiebedingten Schulschließungen 2020/21 ist der Ort der Nutzung vollstän-dig nach Hause verlagert, so dass sowohl der Online-Unterricht, als auch die Nutzung digitaler Geräte für Hausaufgaben wie auch die »Freizeit-Nutzung« im privaten Umfeld stattfinden, was die Eingrenzung der Nutzung erschwert.

135 Vgl. auch Barr, Kirkorian, Radesky, 2020

136 Abbildung übernommen aus: Bleckmann, P., Allert, H., Amos, K., Czarnojan, I., Förschler, A., Har-tong, S. Jornitz, S., Reinhard, M./Sander, I. https://unblackthebox.org/wp-content/uploads/2020/12/

UBTB_Onepager_Gesundheitliche_Folgen.pdf .

Einerseits verfügen Kinder aus benachteiligten sozialen Schichten in Deutschland im Schnitt über eine »bessere« Medienausstattung als ihre privilegierteren Alters-genossen. In Folge weisen sie aber deutlich höhere, im Schnitt im problematischen Bereich liegende Bildschirmzeiten und eine verstärkte Nutzung nicht für ihr Alter ge-eigneter Inhalte auf, die ihre signifikant schlechteren Schulleistungen zum Teil erklären können (Pfeiffer, Mößle, Kleimann, Rehbein 2008). Andererseits wird die Digitalisie-rung von Lernprozessen als Instrument zum Schließen der Bildungsschere und zur zielgenauen Förderung lernschwacher Schülerinnen und Schüler137 propagiert. Das

137 Im weiteren Textverlauf verwenden wir die Abkürzung »SuS«.

Abb. 11.1: Schaubild zu körperlichen und psychosozialen Auswirkungen einer problematischen Bildschirmmediennutzung von Kindern und Jugendlichen unter Berücksichtigung der Interdependenz zwischen Nutzung im privaten und bildungsbezogenen Kontext. (Übernommen aus: Bleckmann, Allert, Amos, Czarnojan, Förschler, Hartong, Jornitz, Reinhard, Sander 2020)

Abb. 11.1: Schaubild zu körperlichen und psychosozialen Auswirkungen einer problematischen Bildschirmmediennutzung von Kindern und Jugendlichen unter Berücksichtigung der Interdependenz zwischen Nutzung im privaten und bildungsbezogenen Kontext. (Übernommen aus: Bleckmann, Allert, Amos, Czarnojan, Förschler, Hartong, Jornitz, Reinhard, Sander 2020)

Beispiel des rumänischen »Lern-PC-Gewinnspiels« sensibilisiert für die Ambivalenz der Verfügbarkeit von Digitalgeräten für die Nutzung durch sozial benachteiligte Kinder und Jugendliche, insbesondere außerhalb der Schule(Pop-Eleches, Malamud 2010).

Per Losgewinn konnten benachteiligte Jugendliche kostenlos einen PC gewinnen. Sie sollten dadurch wie ihre privilegierteren Altersgenossen Zugang zu PC und Internet als Lernressource erhalten. Tatsächlich wurden die Geräte hauptsächlich für nicht-inten-dierte Zwecke genutzt, so dass sich im Längsschnitt die Bildschirmnutzungszeiten der

»Gewinner« erhöhten und die Schulleistungen signifikant verschlechterten.

Laut Ergebnissen der Medienwirkungsforschung sind die kleinen, aber signi-fikant negativen Effekte von Bildschirmmedienkonsum umso ausgeprägter, je jünger die Nutzenden, je länger die Zeiten, je weniger erwachsene Bezugspersonen die Nut-zung begleiten. Auswirkungen auf die körperliche (Schlafstörungen, Übergewicht, Verzögerungen der Bewegungsentwicklung), die psychosoziale (Empathieverlust, Konzentrationsstörungen, Verzögerungen der Sprachentwicklung) und die kognitive Entwicklung (gemessen an Schulleistungen) können als belegt gelten. Ein etwas älterer, aber in vergleichbarer Qualität aktuell nicht vorliegender Literatur-Review von über 200 Einzelstudien und ca. 40 Metaanalysen und Reviews fasst diese Ergebnisse über-sichtlich zusammen (Mößle 2012). Darüber hinaus gibt es heute erste Studien zu den Auswirkungen von background media exposition, denen zufolge diese sich negativ auf die soziale Interaktion auswirkt (Radesky, Miller, Rosenblum et al. 2014; McDaniel, Radesky 2018), weswegen das Phänomen auch als »technoference« (von technology und interference) bezeichnet wird.

Dass es sich bei der oben beschriebenen verbreiteten Unzufriedenheit mit der Steue-rung der eigenen Mediennutzung nicht nur um ein Jugendphänomen handelt, darauf weist der Freizeitmonitor 2018 hin: Mediale Freizeitaktivitäten belegen in der Realität bereits die Top 5 Plätze. Die Wünsche der befragten Erwachsenen gehen aber genau in die entgegengesetzte Richtung: Sie wünschen sich mehr »Real-Freizeit«: Mehr Zeit für Muße, mehr Zeit im direkten Kontakt mit Freunden und Familie, mehr Zeit für Schlaf (Reinhardt 2018). In der Wahrnehmung von pädagogischen Praktikern ist die Vorbeugung gegen problematische Bildschirmmediennutzung ein großes Thema. In einer Erhebung zu subjektiven Weiterbildungsbedarfen bei pädagogischen Fachkräften an Kindergärten und Grundschulen belegte sie sogar Platz 1 der abgefragten Themen-bereiche (Kassel, Fröhlich-Gildhoff, Rauh 2017). Praktizierende Pädagoginnen und Pä-dagogen, die mit jüngeren Kindern arbeiten, sehen vorwiegend die Beeinträchtigungen der kindlichen Entwicklung, die zeitlich, inhaltlich und funktional problematischer Bildschirmmedienkonsum mitverursacht, und wünschen sich Weiterbildungen, um in der Elternzusammenarbeit und der Arbeit mit den Kindern gegenzusteuern. Für ältere Kinder und Jugendliche (deren Lehrkräfte in die Befragung nicht einbezogen waren) würden wir annehmen, dass nun in den Weiterbildungsbedarfen das Vorbeugen gegen Digital-Risiken und die Nutzung von Digital-Chancen für Lernprozesse gleich-berechtigter nebeneinanderstehen würden. Die existierenden Weiterbildungsangebote greifen zwar inzwischen vermehrt auch das Thema der Digital-Risiken auf, jedoch

meist nicht auf Ebene der Verringerung von Bildschirmmediennutzung in Elternhaus oder Bildungseinrichtung (Setting-Ansatz), sondern indem die SuS, beziehungsweise zum Teil auch Kinder ab dem Kindergartenalter, durch individuelle Kompetenzen be-fähigt werden sollen, sich selbst vor den Risiken zu schützen. Ähnlich, wie es Hanses für die Gesundheitsprävention im Vergleich zwischen setting- und individuumszen-trierten Ansätzen kritisiert (Hanses 2010, S. 89–92), würden u. E. Ansätze, die nur am Individuum (häufig: SuS) ansetzen und Digital-Risiken-Vermeidungs-Kompetenzen trainieren möchten, Gefahr laufen, den Umgang mit der Kontraproduktivität an den Einzelnen zu delegieren, und ihr / ihm durch einen Zwang zur Selbstoptimierung ange-sichts ungünstiger Umgebungsbedingungen die Verantwortung für das eigene Scheitern zu übertragen. Damit werden nicht nur, aber ganz besonders jüngere Menschen über-fordert. Auch hier dürfte ein soziales Gefälle verschärft werden, weil in vielen Familien die Ressourcen fehlen, um einerseits klare Regeln und andererseits Handlungsalter-nativen zur zeitlichen und inhaltlichen Begrenzung des Digitalmedienkonsums im All-tag umzusetzen. Die Brisanz dieser Dynamik verschärft sich in Zeiten des Lockdowns insbesondere auch durch den Wegfall von ausgleich- und gemeinschaftsfördernden Freizeitangeboten.

11.2.4 Disziplinäre Engführung im Diskurs um »Bildung und Digitalisierung«

Die Studiengruppe »Bildung und Digitalisierung« der VDW forderte in einem Positions-papier eine Technikfolgenabschätzung, die nicht nur inter-, sondern transdisziplinär aus-gerichtet sein sollte und nennt stichwortartig mehrere Disziplinen, die bisher im Diskurs nicht oder nur unzureichend berücksichtigt wurden (Vereinigung Deutscher Wissen-schaftler, 2019). Es würde den Rahmen dieses Kapitels bei weitem sprengen, auf jeden dieser bisher (weitgehend) vom politischen Diskurs ausgeschlossenen Themenkomplexe im Detail einzugehen. Auf einige der genannten Themen wurde oben bereits eingegan-gen, einige wenige weitere werden unten noch expliziert. Für alle anderen wurden exemp-larische, keinen Anspruch auf vollständige Abbildung des jeweiligen Diskurses erhebende Quellen eingefügt, um ein Weiterverfolgen über die Stichworte hinaus zu ermöglichen.

Darüber hinaus sei auf die »alternative Checkliste« für eine (selbst-)bewusste Digitali-sierung von Bildungseinrichtungen der Transferinitiative »Unblack The Box« (Hartong, Bleckmann, Allert et al. 2020) hingewiesen, auf welcher zu 12 verschiedenen Themen-komplexen kurze Ausführungen und Verweise auf weitere Literatur zu finden sind.

Auffällig ist, dass die bisher stärker einbezogenen Disziplinen (linke Tabellenspalte) eher positive Aspekte von Digitalisierung im Bildungsbereich hervorheben, während rechts, bisher weniger berücksichtigt, eher kritische Aspekte der Bildungs-Digitali-sierung und allgemeiner der Digitalmediennutzung durch Kinder und Jugendliche beleuchtet werden. Auch wenn dies als Tendenz beobachtbar ist, finden sich doch Einschränkungen und Ausnahmen: So wird der Aspekt des Umgangs mit personen-bezogenen Daten vielfach in politischen Dokumenten thematisiert. »Kritisch verhandelt wird im Gesamtzusammenhang allenfalls Datenschutz und Datensicherheit […]«,

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