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2.1 B ILDUNGSPOLITISCHE E NTWICKLUNGSLINIEN

2.1.1 Schulstrukturelle Implikationen

Folgen wir Herz‘ eingangs zitierter Einschätzung, dass Inklusion in Deutsch-land primär als schulische Strukturdebatte diskutiert wird, vertritt die UN-Be-hindertenrechtskonvention mit ihren 50 Artikeln im Widerspruch dazu jedoch vielmehr einen gesamtgesellschaftlichen Anspruch, Inklusion in allen Lebens- und Gesellschaftsbereichen wirksam werden zu lassen. Explizit mit Bildungs-fragen beschäftigt sich lediglich Artikel 24. Im Bestreben, im Folgenden die bildungspolitische Rahmung einer inklusiven Fachdidaktik darzustellen, gera-ten unter Verweis auf Artikel 24 der UN-Behindergera-tenrechtskonvention damit auch die Vorgaben der Kultusministerkonferenz sowie der Länder in den Blick, die, in Ergänzung zum nationalen Aktionsplan der Bundesregierung zur Um-setzung der UN-Behindertenrechtskonvention (Bundesministerium für Arbeit und Soziales, 2011c), in den Aktionsplänen der Bundesländer dargestellt sind.

Eher im Schatten der öffentlichen Debatte spielt dabei das Deutsche Institut für Menschenrechte in Berlin eine zentrale Rolle für die politische Willensbildung, weil das zivilgesellschaftliche Institut für Menschenrechte gemäß §33 der UN-BRK mit dem Monitoring des Inklusionsprozesses beauftragt ist und in dieser Funktion in regelmäßigen Abständen Gutachten über das deutsche Bildungs-systeme veröffentlicht, die den Inklusionsprozess in der Bundesrepublik Deutschland kritisch kommentieren und begleiten (Mißling & Ückert, 2014).

Grundlage der Begutachtung ist dabei das sog. Eckpunkte-Papier, in dem das Institut für Menschenrechte sein Verständnis der UN-Behindertenrechtskon-vention darlegt (Deutsches Institut für Menschenrechte, 2011) und das damit als eine Art bildungspolitische Exegese der UN-Behindertenrechtskonvention verstanden werden kann.

„(2) Die Vertragsstaaten unterhalten, stärken, bestimmen oder schaffen nach Maßgabe ihres Rechts- und Verwaltungssystems auf einzelstaatlicher Ebene für die Förderung, den Schutz und die Überwachung der Durchführung dieses Über-einkommens eine Struktur, die, je nachdem, was angebracht ist, einen oder meh-rere unabhängige Mechanismen einschließt“ (Bundesministerium für Arbeit und Soziales, 2011a, S. 33).

Als Vorgabe für die nationale Schulgesetzgebung wird in Paragraph 24, Abs.

2a der UN-Behindertenrechtskonvention formuliert, dass „Menschen mit Be-hinderungen nicht aufgrund von Behinderung vom allgemeinen Bildungssys-tem ausgeschlossen werden und dass Kinder mit Behinderungen nicht aufgrund von Behinderung vom unentgeltlichen und obligatorischen Grundschulunter-richt oder vom Besuch weiterführender Schulen ausgeschlossen werden“ (vgl.

Abbildung 1).

Betont in diesem Sinne der Nationale Aktionsplan der Bundesregierung zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention ausdrücklich die Zuständig-keit der Länder bzw. der Kultusministerkonferenz (KMK) in Bezug auf die Ausgestaltung und Organisation der schulischen Bildung (Bundesministerium für Arbeit und Soziales, 2011c, S. 47), findet sich dort allerdings auch der Hin-weis darauf, dass das segregierende Schulsystem zu überwinden sei und Inklu-sion von der Frühförderung an als das gemeinsame Lernen von Kindern mit und ohne Behinderung zu verstehen sei. Dabei wird die bildungspolitisch kri-tische Frage nach dem Beschulungsort allerdings ausgespart und allgemeiner davon gesprochen, dass alle Bundesländer „in ihren Schulgesetzen den gemein-samen Unterricht von behinderten und nichtbehinderten Schülerinnen und Schülern als eine, häufig präferierte, Möglichkeit der Beschulung“ (Bundesmi-nisterium für Arbeit und Soziales, 2011c, S. 47) vorsehen. Auch wenn sich die Forderung nach einer Auflösung der Förderschulen im nationalen Aktionsplan nicht findet, ist es das erklärte Ziel, die Förderschulbesuchsquote zu senken und mehr Schülerinnen und Schüler mit und ohne Behinderungen länger gemein-sam zu unterrichten.

Abbildung 1: UN-BRK in leichter Sprache

Auffällig ist dabei, dass die Chance auf eine inklusive Beschulung in Deutsch-land stark vom Alter der Schülerinnen und Schüler sowie von der Schulform

abhängig ist: Betrug der Inklusionsanteil im Schuljahr 2013/14 in den bundes-deutschen Kitas beispielsweise 67 Prozent und in den Grundschulen immerhin noch 46,9 Prozent, „fällt er in der Sekundarstufe auf 29,9 Prozent“ (Klemm, 2015, S. 6). Im Sinne eines inklusiven Schulsystems erscheint zudem proble-matisch, dass sich die inklusive Beschulung in der Sekundarstufe primär auf Haupt- und Gesamtschulen beschränkt.

Im Hinblick auf die Gesamtschülerschaft im schulpflichtigen Alter zeigen sich in den letzten Jahren aber auch umfangreiche Auswirkungen des angestoßenen Inklusionsprozesses: Lag der sogenannte Inklusionsanteil im Schuljahr 2008/09 in diesem Sinne noch bei 18,4 Prozent, ist er bis zum Schuljahr 2013/14 bereits auf 31,4 Prozent angestiegen.9 Da im selben Zeitraum aller-dings auch die Anzahl an Schülerinnen und Schülern, bei denen ein sonderpä-dagogischer Förderbedarf diagnostiziert wurde, um 13 Prozent gestiegen ist, hatte die Steigerung des Inklusionsanteils keine nennenswerten Auswirkungen auf die absolute Zahl an Kindern, die auf einer Förderschule unterrichtet wer-den (Klemm, 2015, S. 6). Einschränkend ist zudem zu erwähnen, dass diese Zahlen in den jeweiligen Bundesländern sowie in Abhängigkeit von den jewei-ligen Förderschwerpunkten stark variieren und Inklusion insgesamt als Flick-teppich zu bezeichnen ist.

Der Ansatz, Inklusion programmatisch nicht an eine Schließung der Förder-schulen, sondern an die bestmögliche Bildung und Erziehung zu binden (Kul-tusministerkonferenz, 2011, S. 4), liegt der Empfehlung der Kultusminister-konferenz zur Inklusiven Bildung von Kindern und Jugendlichen mit Behinde-rungen in Schulen vom Oktober 2011 zu Grunde. Und auch die KMK bekennt sich dazu, dass es grundsätzlich dem Wohl aller Kinder und Jugendlichen ent-spricht, „dass sie gemeinsam lernen und aufwachsen“ (Kultusministerkonfe-renz, 2011, S. 5). Bei der Einschätzung, wie die bestmögliche Bildung und Er-ziehung zu verwirklichen sei, verweisen die Empfehlungen der Kultusminis-terkonferenz explizit darauf, dass sich das Kindeswohl u. a. an der Individuali-tät, der Eigenaktivität und an der Selbstbestimmtheit zu orientieren habe, wobei

9 Die Inklusionsquote gibt an, wie viele Schülerinnen und Schüler (Primarbereich und Sekundarstufe I) in Bezug auf die Gesamtheit aller Schülerinnen und Schüler inklusiv auf einer allgemeinen Schule unterrichtet werden. Der Inklusionsanteil gibt dagegen an, wie viele Schülerinnen und Schüler – in Bezug auf alle Schülerinnen und Schülern mit einem sonderpädagogischen Förderbedarf – inklusiv unterrichtet werden.

sonderpädagogische Bildungs-, Beratungs- und Unterstützungsangebote „zeit-lich befristet oder langfristig erforder„zeit-lich sein“ (Kultusministerkonferenz, 2011, S. 5) können.

Verlassen wir die Bundesebene und begeben uns in Folge der Bildungshoheit der Länder auf die Ebene der Bundesländer, geraten deren Aktionspläne und Schulgesetze sowie die jeweiligen sonderpädagogischen Verordnungen in den Blick, um die bildungspolitischen Rahmenbedingungen einer inklusiven Fach-didaktik auszuloten. Betrachten wir dazu exemplarisch den Hessischen Akti-onsplan zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention, wird auch hier gefordert, dass jedes Kind „seinen optimalen persönlichen Lernort finden“

(Hessisches Sozialministerium, 2012, S. 75) solle. Die konkrete Umsetzung der Inklusion wird durch das hessische Schulgesetz geregelt und verfolgt als obers-tes Ziel, die gesellschaftliche Teilnahme von Menschen mit Behinderungen zu ermöglichen.

„Ziel des inklusiven Unterrichts ist neben dem gemeinsamen Lernen der indivi-duelle Kompetenzerwerb, der die Teilhabe in der Gesellschaft möglich macht“

(Hessisches Sozialministerium, 2012, S. 75).

Das Land Hessen und das zuständige Kultusministerium bekennen sich in die-sem Kontext dazu, die Zahl der inklusiv beschulten Schülerinnen und Schüler mit einem sonderpädagogischen Förderbedarf zu erhöhen und verstehen die in-klusive Beschulung als Regelfall, was bereits dadurch gegeben ist, dass alle Eltern ihre Kinder in einer allgemeinen Schule anmelden müssen und erst dort ein Antrag auf Beschulung an einer Förderschule gestellt werden kann. Zudem wurden sog. vorbeugende Maßnahmen etabliert, die dafür Sorge tragen sollen, dass es im schulischen Kontext erst gar nicht zu einer Behinderung kommt und eine Etikettierung damit nicht notwendig wird (Hessisches Sozialministerium, 2012, S. 74).

In ähnlicher Diktion formuliert auch der rheinland-pfälzische Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinde-rungen:

„In Rheinland-Pfalz findet Lernen lebenslang gemeinsam statt. Kinder und Ju-gendliche mit Beeinträchtigungen besuchen die gleichen Schulen wie nicht be-einträchtigte Kinder in der Gemeinde, nachdem sie zuvor gemeinsam in densel-ben Kindertagesstätten waren“ (Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit, Familie und Frauen Rheinland-Pfalz, 2010, S. 10).

Votiert auch der rheinland-pfälzische Aktionsplan explizit für die gemeinsame Beschulung, findet sich im rheinland-pfälzischen Landeskonzept für die Wei-terentwicklung der Inklusion im schulischen Bereich, das auch dem aktuellen rheinland-pfälzischen Schulgesetz zu Grund liegt, jedoch das Bekenntnis, dass Eltern von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf ein Wahlrecht zwi-schen Förderschulen und inklusivem Unterricht in Regelschulen der Primar-stufe und der SekundarPrimar-stufe I eingeräumt werden soll, wofür der Ressourcen-vorbehalt aufgehoben wird und stattdessen ein Ressourcen-vorbehaltloses Elternwahlrecht eingeführt wird (Ministerium für Bildung, Wissenschaft, Weiterbildung und Kultur Rheinland-Pfalz, 2013, S. 7).10

Bestrebungen – entgegen den Verlautbarungen in den eigenen Aktionsplänen – die Sonderbeschulung dauerhaft zu erhalten, finden sich auch im hessischen Schulgesetz (HSchG) vom 14. Juni 2005 in § 54 Abs. 4 (Hessisches Kultusmi-nisterium, 2015), wo die Möglichkeit der inklusiven Beschulung explizit an den sog. Ressourcenvorbehalt geknüpft wird:

„(4) Kann an der zuständigen allgemeinen Schule die notwendige sonderpäda-gogische Förderung nicht oder nicht ausreichend erfolgen, weil die räumlichen und personellen Möglichkeiten oder die erforderlichen apparativen Hilfsmittel oder die besonderen Lehr- und Lernmittel nicht zur Verfügung gestellt werden können, bestimmt die Schulaufsichtsbehörde auf der Grundlage einer Empfeh-lung des Förderausschusses nach Anhörung der Eltern, an welcher allgemeinen Schule oder Förderschule die Beschulung erfolgt.“

Zudem bestimmt das hessische Schulgesetz in § 49, Abs. 2, dass der Anspruch auf sonderpädagogische Förderung entweder von allgemeinbildenden und be-ruflichen Schulen oder explizit von Förderschulen mit ihren verschiedenen För-derschwerpunkten erfüllt wird.

Das Ziel, Schülerinnen und Schüler dabei zu möglichst umfassender gesell-schaftlicher Teilhabe und zu Selbstbestimmung zu befähigen, ist auch in den sonderpädagogischen Ausführungsverordnungen der Länder zu finden, was hier beispielhaft an der hessischen Verordnung über Unterricht, Erziehung und sonderpädagogische Förderung von Schülerinnen und Schülern mit Beein-trächtigungen oder Behinderungen (VOSB) in der aktuellen Fassung vom 01.04.2015 sowie in der Verordnung über die sonderpädagogische Förderung

10 Mit dem Begriff des sog. Ressourcenvorbehalts wird üblicherweise die Möglichkeit einer Schule verbunden, die Aufnahme von Schülerinnen und Schüler mit Behinderungen zu verneinen, wenn die Schule darlegen kann, dass ihr zur angemessenen sonderpädagogischen Versorgung die notwendigen Ressourcen nicht zur Verfügung stehen.

für das Land Berlin (SopädVO) in der aktuellen Fassung vom 14.05.2014 il-lustriert werden soll (Hessisches Kultusministerium, 2012; Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft Berlin, 2005). Wird in beiden Verord-nungen betont, dass die sonderpädagogische Förderung im inklusiven Unter-richt Vorrang hat (vgl. VOSB § 4, Abs. 2; SopödVO § 4, Abs. 1), ist in beiden Verordnungen allerdings auch vorgesehen, dass eine sonderpädagogische För-derung zeitweise oder dauerhaft an der Förderschule stattfinden kann (vgl.

VOSB § 15; SopödVO § 22).

Die inklusive Unterrichtsgestaltung baut dabei auf Zieldifferenz und Bin-nendifferenzierung, damit der gemeinsame Unterricht „den Begabungen und den Bedürfnissen aller Schülerinnen und Schüler der allgemeinen Schule in gleicher Weise gerecht wird und ihre aktive Teilhabe befördert. Es ist darauf zu achten, möglichen Diskriminierungen aktiv zu begegnen“ (VOSB § 12, Abs.

1).

Die überblicksartige und exemplarische Darstellung bildungspolitischer Vor-gaben auf Bundes- und Länderebene zeigt, ohne damit einen Anspruch auf Vollständigkeit erheben zu wollen, dass – und das gilt auch im Kontext des Unterrichtsfachs Sport – unisono die gemeinsame Beschulung von Menschen mit und ohne Behinderung in den Mittelpunkt der Bemühungen gestellt wird.

Gleichwohl wird durchgängig dafür plädiert, darüber hinaus das Kindeswohl in den Mittelpunkt der Betrachtungen zu stellen und nicht die Frage nach dem Beschulungsort. Von einer grundsätzlichen Auflösung der Förderschulen ist in diesem Sinne an keiner Stelle die Rede, sehr wohl aber von einem Primat au-tonomiebewahrender Unterrichtsmethoden wie der Handlungsorientierung (vgl. Kap. 2.3).

Das erklärte Ziel, die volle Teilhabe von Menschen mit Behinderungen zu för-dern wird dabei durchgängig an die Notwendigkeit geknüpft, auch (motorische) Fertigkeiten und Kompetenz zu vermitteln, da sie als notwendige Bedingung der Inklusion betrachtet werden. Aus methodisch-didaktischer Perspektive be-deutet das für die Gestaltung eines inklusiven Sportunterrichts, dass methodi-sche Unterrichtsarrangements, die lediglich eine allgemeine und unspezifimethodi-sche Bewegungserziehung zum Ziel haben, wie es beispielsweise üblicherweise in der Psychomotorik der Fall ist, konzeptionell zu kurz greifen und dem umfas-senden Anspruch eines inklusiven Schulsystems nicht gerecht werden (vgl.

Kap. 3.5.3). Aus bildungspolitischer und schuladministrativer Perspektive zeigt sich damit, was hier im Vorgriff bereits zu erwähnen ist, dass die Förderung

der Teilhabe expressis verbis an entsprechende autonomiebewahrende Unter-richtsverfahren und entsprechende methodische Konzeptionen geknüpft wird, die einem Primat des Induktiven folgen.11