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Resümieren wir das bisher Gesagte, sollte deutlich geworden sein, dass vor al-lem in der Sport- und Bewegungspädagogik bis dato weder eine einheitliche Anbindung an die internationalen Diskurse, noch eine einheitliche Verwen-dung des Inklusionsbegriffs noch eine einheitliche praxiswirksame inklusive Didaktik existiert – weder in der Behindertenpädagogik noch in der Sport- und Bewegungspädagogik. Vielmehr erscheint die Debatte bisweilen in terminolo-gischen und schulstrukturellen Diskursen ob der „richtigen“ Verwendung des Inklusionsbegriffs gefangen, wie es beispielsweise auch von Moser (2012) kon-statiert wird, und neigt zu einer normativ unreflektierten Aufladung des Inklu-sionsbegriffs (Cramer & Harant, 2014, S. 655), der dadurch zu einer Art Uni-versaltherapeutikum für alle Arten von Integrationsschäden stilisiert wird.

Die Ursachen dafür werden in einer dreifachen Insuffizienz der fachwissen-schaftlichen und fachdidaktischen Diskussion zur Inklusion gesehen. Der bis-herige Inklusionsdiskurs ist dabei – kritisch gespiegelt – durch folgende Merk-male gekennzeichnet:

- eine Theorieferne, die sich bisweilen als explizite Theorieabstinenz äu-ßert;40

- das weitgehende Fehlen einer (kultur-)anthropologischen Fundierung;

- methodologische Schwächen, in deren Folge (erziehungs-)wissenschaftli-che Mindeststandards bisweilen wenig Beachtung finden.

Wurde in Kapitel 2.3.1 bereits diskutiert, dass das weitgehende Fehlen einer kulturanthropologischen Fundierung umso verwunderlicher erscheint, als dass sowohl die Salamanca-Erklärung als auch die UN-Behindertenrechtskonven-tion über die Rechte von Menschen mit Behinderungen aus bildungspolitischer Perspektive eine anthropologische Stoßrichtung vorgeben, die mit aktuellen bildungstheoretischen und ästhetischen Ansätzen in der allgemeinen Pädagogik und auch der Hirnforschung kompatibel erscheint (vgl. Kap. 5.2). Das Fehlen einer kulturanthropologischen Fundierung ist trotz berechtigter anthropologie-kritischer Einwänden, die in Kapitel 3.2 diskutiert werden, aus grundlagenthe-oretischer Perspektive allerdings aus mindestens zwei Gründen problematisch:

Kulturanthropologische Perspektive: Zum einen werden Sollensaussagen dar-über, wie Unterricht aussehen soll und was Schülerinnen und Schüler in diesem Unterricht tun sollen, nicht an Seinsaussagen orientiert, die möglichst plausibel und transparent zu erklären versuchen, welches Bild von den Schülerinnen und Schülern diesen Annahmen zugrunde liegen. Die Sollensaussagen erscheinen damit letztendlich beliebig. Solche Unterrichtskonzeptionen sind aus gesell-schaftlich-demokratischer Perspektive problematisch, weil hinter Methoden immer Menschenbilder stehen, die implizit wirken und deshalb einer sensiblen und aufmerksamen Reflexion bedürfen. Ohne eine entsprechende (Selbst-)Ver-sicherung über die immanenten Normativa werden sie zu einer unbekannten Masse, zu einer Art dunklen Materie, in der pädagogischen und zwischen-menschlichen Praxis, weil wir nicht hinter die Annahmen der Pädagogischen Anthropologie zurückkönnen, „dass mit einem pädagogischen Menschenbild

40 Bezieht sich diese Bekundung explizit auf den Inklusionsdiskurs, soll damit nicht in Abrede gestellt werden, dass es im Kontext der Integrationsforschung u. a. durch Reiser, Klein, Kreie und Kron (1986), Reiser (1991), Prengel (2006) oder insbesondere auch durch Feuser (1995) selbstverständlich Arbeiten gibt, die auch für die inklusionspädagogische Theoriebildung wichtige Impulse zu geben vermögen. Aber auch in diesem Sinne bleibt zu konstatieren, dass es bisher an einer systematischen und elaborierten Übertragung dieser Arbeiten in den aktuellen Inklusionsdiskurs fehlt (Cramer & Harant, 2014, S. 655).

immer auch deskriptive und vor allem normative Vorstellungen damit einher-gehen, wie Entwicklungen verlaufen bzw. verlaufen sollen“ (Zirfas, 2012, S. 76).

Soziologisch-gesellschaftliche Perspektive: Zum anderen ist unterrichtliche und institutionelle Wirklichkeit immer schon gesellschaftlich vorgeprägt, von Kulturtechniken bestimmt und vor allem von divergierenden Machtbeziehun-gen durchzoMachtbeziehun-gen, die auch unterhalb der Oberfläche des GeMachtbeziehun-genständlichen wir-ken. Gerade Foucaults (2003) Analysen betonen in diesem Zusammenhang hinlänglich die Wirkungsmächtigkeit institutionell-organisatorischer Disposi-tive, die sich schon auf einer präverbalen und vor-reflexiven Ebene in den Körpern der Heranwachsenden und in ihrem Verhalten eingraben bzw. habitu-ieren.41 Didaktische Konzeptionen bedürfen in diesem Sinne nicht nur einer Reflexion des zugrundeliegenden Menschenbildes, sondern auch einer Darstel-lung der Gesellschaftsverhältnisse, in der der anvisierte Unterricht seinen Platz finden soll.

„Wer nicht mit allgemeinen, überzeitlichen und vermeintlich aus der Sache selbst sich ergebenden Zielen und Programmen, sondern gleichsam unterwegs mit den Mitteln und Medien der Realisierung anfängt, muß sich erklären, wie er die Welt versteht, in der sich die Erziehung zu verwirklichen hat... Deshalb ist es geboten ausdrücklich zu sagen, in welcher Perspektive diese Umstände, Bedin-gungen und Verhältnisse erscheinen, wie sich die Welt, um es vorläufig zu sagen, darstellt, in der das Erziehen seinen Ort hat“ (Prange, 1991, S. 15).

Weder die anthropologische noch die soziologische Perspektive können im Kontext erziehungswissenschaftlicher Diskurse als neu bezeichnet werden, sondern gehören sicherlich eher zum erziehungswissenschaftlichen Mainstream. Umso mehr verwundert es, dass sie im Inklusionsdiskurs wenig Beachtung finden, was vielleicht daran liegen mag, dass die

41 Dispositive werden hier in Anlehnung an die Analysen Foucaults (2003) als räumlich-institutionelle Konfi-gurationen verstanden, in denen sich Machtbeziehungen artikulieren. So drückt sich im Mobiliar eines Klassenzimmers, der Verteilung der Bänke, der Sitzordnung, dem räumlichen Verhältnis zwischen Lehrer und Schülern usw., die gesellschaftliche Ordnung der Institution aus. Diese Ordnungen durchdringen die Mitglieder einer Sozialgemeinschaft von den äußeren Arrangements der Räume bis hin zur Präsentation ihrer eigenen Körper. Die Wahl der Kleidung ist dabei, ebenso wie das Verhalten, Ausdruck einer bestimm-ten gesellschaftlichen Kodifizierung, die auch dann Bestand hat, wenn Schüler bewusst dagegen rebellie-ren. Gerade in diesen Akten der Auflehnung wird die Wirkung der Dispositive besonders evident, da sie ihre obstinate Bedeutung erst vor dem Hintergrund eines allen gegenwärtigen Kodex entfalten können und erst in diesem sozialen Deutungsrahmen zu dem werden, was sie sind. So sind die Subjekte keineswegs Opfer dieser Konfigurationen, sondern werden – meist unbewusst – vielmehr zu Komplizen ihrer Reali-tätsmächtigkeit, da sich diese erst in den gesellschaftlichen Aufführungen der Dispositive durch die Sub-jekte materialisieren.

schen und bildungspolitischen Probleme so virulent erscheinen, dass nur we-nige Ressourcen für grundlagentheoretische Arbeiten verbleiben und möglich-erweise daran, dass die Anthropologie in der Behindertenpädagogik mit grund-sätzlichen Misstrauen betrachtet wird. In diesem Sinne wird hier von einem mehr oder weniger durchgängig zu konstatierenden Theorieverzicht gespro-chen.

Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass didaktische Praxis-konzepte weitgehend fehlen, was beispielsweise Frühauf (2008), Wilhelm (2009), Seitz (2004), Lang et al. (2008) oder auch Riegert und Musenberg (2015b, S. 41) unisono kritisch anmerken. Das weitgehende Fehlen eines grundlagentheoretisch elaborierten und an aktuelle philosophische und allge-meinpädagogische Diskussionen angebundenen Diskurses behindert die dis-kursiv-hermeneutische Konstituierung eines kompatiblen Menschen- und Ge-sellschaftsbildes in der behindertenpädagogischen Inklusionsdebatte, auf deren Fundament sich eine inklusive Didaktik erst plausibel entfalten könnte. Dieser grundlagentheoretische und seinem Wesen nach selbstreflexive – und gerade nicht selbstreferenzielle – Prozess wird hier als wissenschaftliches Desiderat in einer kritisch emanzipatorischen und transparenten Diskussion über Strukturen und Inhalte von (inklusiver) Bildung verstanden. Sein Fehlen macht den selbst-referenziellen Tenor der Inklusionsdebatte deutlich, und es ist Stein zuzustim-men, wenn sie resümiert, dass „diese Debatte in dieser Konnotation wenig dazu beiträgt, die eigentliche Dimension des Problems uneingeschränkter Teilhabe von Menschen mit unterschiedlichsten Beeinträchtigungen und Benachteili-gungen neu zu fassen“ (Stein, 2008, S. 78).

Auch der weitverbreitete und praxiswirksame Index für Inklusion bildet bei der Sensibilisierung für das Fehlen grundlagentheoretischer Analysen keine Aus-nahme, bleibt doch auch er, wie in Kapitel 2.1.3 gezeigt wurde, eine selbstkri-tische Reflexion seiner normativen Implikationen weitgehend schuldig. In die-sem Sinne wird in Kapitel 4 ein Diskussionsvorschlag für eine kulturanthropo-logische Fundierung vorgestellt, auf dessen Basis der Versuch unternommen wird, eine inklusive Fachdidaktik Sport zu entfalten. Grundlage dieses Vor-schlags ist die explizite Betonung einer relativen Autonomie des Individuums.

Die besondere Betonung der Herstellung, des Erhalts sowie der Förderung der Autonomie stellt in dem hier formulierten Diskussionsvorschlag auch die grundlagentheoretische Schnittstelle zu den allgemeinpädagogischen Bil-dungs- und Ästhetikdiskursen dar.

Abschließend sei wegen der bildungspolitischen Brisanz der Thematik noch-mals explizit darauf hingewiesen, dass es hier nicht um die Ablehnung der In-klusionsidee geht, sondern vielmehr um die Sensibilisierung für strukturelle Schwächen der Debatte. Ebenso wenig geht es um die Relativierung behinder-tenpädagogischer Utopien, die selbstverständlich ihre Bedeutung haben. Es darf dabei aber nicht außer Acht gelassen werden, dass die Halbwertszeit von Utopien schwindet, wenn nicht ebenfalls die sie konstituierenden und tragen-den Tiefenstrukturen analysiert, reflektiert und nutzbar gemacht wertragen-den.

Pranges Mahnung, dass es eine immanente „totalitäre Tendenz in der Pädago-gik gibt“ (Prange, 1981, S. 123), die uns in der Historizität der PädagoPädago-gik schon wiederholt begegnet ist, verdient vor allem dann besonderer Beachtung, wenn im Geiste einer ggf. charismatischen, pädagogischen Idee – hier der Inklusion – Beschulungsweisen proklamiert werden, die vermeintlich zwischen richti-gem und falschem Unterricht unterscheiden können, ohne gleichzeitig die strukturellen Eigenheiten bzw. die Grammatik dieser Beschulungsweisen so systematisch wie möglich aufzuzeigen und gleichzeitig an gesellschaftlich pä-dagogische Diskurse anzubinden.

Die zweifellos charmante Vision einer inklusiven Schule für alle ist aufgrund ihrer hehren Ansprüche nicht eo ipso vor unerwünschten Konsequenzen immu-nisiert. Der bisherige Verlauf der Debatte lässt eher das Gegenteil vermuten:

Das weitgehende Fehlen struktureller – und damit auch begrenzender – Analy-sen macht Inklusion besonders anfällig für die Proklamation eines – dann al-lerdings meist wirkungslosen – Universaltherapeutikums. Begründete Kom-pensationsbemühungen aufgrund einer insuffizienten Integrationspraxis kön-nen in diesem Sinne ihrerseits zu gesellschaftlich-demokratischen Kompensa-tionsschäden degenerieren.

3 Inklusionshemmnisse und Dekonstruktion

„Bildung als Prozess der Selbstgestaltung blieb als Akt der Selbstreflexion leitend und ließ immer wieder von den realen Verhältnissen des Subjekts absehen.

Daran, nämlich am Projekt der Vervollkommnung, der Steigerung der Kompetenzen, der ‚Höherbil-dung‘, mussten Menschen (in soziokultureller und ökonomischer Benachteiligung und mit Behinderung) scheitern“ (Stinkes, 2008, S. 87).

Ging es im vorausgehenden Kapitel darum, den Forschungsstand zur Inklusi-onsthematisierung aus unterschiedlichen fachdidaktischen Perspektiven darzu-stellen und kritisch zu reflektieren, wurde dabei auch festgehalten, dass Inklu-sion als ein gesamtgesellschaftlicher Prozess verstanden werden muss, in des-sen Rahmen die Differenzlinie Behinderung nur als eine Marginalisierungs-konstruktion neben anderen zu verstehen ist. Diese Einschränkung soll an die-ser Stelle wiederholt und erneut in Erinnerung gerufen werden, da der themati-sche Fokus der Arbeit im nachfolgenden Kapitel weiter verengt wird. Indem sich die Arbeit zunehmend stärker auf die Sport- und Bewegungspädagogik

sowie die Behindertenpädagogik zubewegt, müssen Phänomene an den Rän-dern dieser Thematik unweigerlich aus dem Blick geraten. Konkret äußert sich diese Fokussierung dadurch, dass es im nachfolgenden Kapitel im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention weiterhin ausschließlich um die Kategorie Behinderung geht und zudem exklusiv um korrespondierende Phänomene aus dem Kultursegment Bewegung, Spiel und Sport. Noch enger wird der Fokus dadurch, dass dabei – mit Ausnahme des Exkurses in Kapitel 3.5 – im Sinne der Förderung der vollen Teilhabe primär Fragen des gemeinsamen Sport- und Bewegungsunterrichts von Menschen mit und ohne Behinderung thematisiert werden.

Auffällig ist in diesem Kontext, dass dem Sport und damit auch dem Sportun-terricht gemeinhin ein hohes Integrations- und Inklusionspotential attestiert wird. Angesichts der Flüchtlings- und Inklusionsdebatte zeigt sich vermehrt, dass der Sport zunehmend dafür in Haftung genommen wird, soziale Verant-wortung für eine gerechte Gesellschaft zu übernehmen, wobei der empirische Nachweis, dass dies überhaupt gelingen kann, allerdings weiterhin aussteht.42 Coalter (2007, S. 22) bezeichnet die Idee einer sozialen Wirksamkeit des Sports vor diesem Hintergrund als ein mythopoetisches Konzept. Die nachfolgenden Analysen werden zudem zeigen, dass Spiel, Sport und Bewegung in Bezug auf die Frage nach der sozialen Gerechtigkeit gleichwohl geeignet erscheinen (auch) kontraproduktiv zu wirken und ein potentiell diskriminierendes sowie exkludierendes Potential im Hinblick auf Menschen mit Behinderungen entfal-ten können (Giese & Ruin, 2018).

Die Herleitung dieser These erfolgt in diesem Kapitel – auf der Folie behinder-tenpädagogischer Wissensbestände (vgl. Kap. 3.1) – in einem argumentativen Dreischritt: Dabei wird in Kapitel 3.2 zunächst danach gefragt, durch welche anthropologischen Grundannahmen sich zentrale sportanthropologische Anth-ropologien auszeichnen, bevor in Kapitel 3.3 damit verbundene bildungstheo-retische Grundannahmen und in Kapitel 3.4 aktuelle und zentral diskutierte, didaktische Konzeptionen im Unterrichtsfach Sport thematisiert werden. Dabei wird sich zeigen, dass der Fachdidaktik Sport explizit wie implizit

42 Kritische Positionen zum Inklusionspotential des Sportunterrichts in Bezug auf den gemeinsamen Sport- und Bewegungsunterricht von Menschen mit und ohne Behinderungen finden sich u. a. bei Thiele (2010) oder bei Weichert (2008), der ernüchternd feststellt, dass Kinder mit Behinderungen im inklusiven Sportunter-richt häufig „gemeinsam allein“ erscheinen.

gische und bildungstheoretische Annahmen zu Grunde liegen, die mit behin-dertenpädagogischen Bedürfnissen weitestgehend inkompatibel erscheinen und dadurch potentiell ein diskriminierendes und exkludierendes Potential ent-falten. In diesem Sinne ist auch der Titel dieses Kapitels zu verstehen, indem danach gefragt wird, inwiefern im Kontext der Sport- und Bewegungspädago-gik eine Dekonstruktion etablierter Fachdiskurse im Kontext der Inklusionsthe-matisierung und vor dem Hintergrund von Wissensbeständen aus der Behin-dertenpädagogik notwendig erscheinen, um für immanente Inklusionshemm-nisse und durch theoretische Modellierungen erzeugte Barrieren zu sensibili-sieren.

Um die Sinnhaftigkeit dieses methodologischen Vorgehens plausibel zu ver-deutlichen, soll an dieser Stelle zunächst der bisherige Gang der Argumentation kurz rekapituliert werden. Ausgehend von der Etymologie wurde eine begriffs- und institutionsgeschichtliche Analyse des Inklusionsbegriffs vorgenommen, die der relativen Autonomie des Individuums im Kontext der Diskurse um In-klusion eine zentrale Bedeutung zumisst. Diese Fokussierung auf die Autono-mie wurde innerhalb des bisherigen Inklusionsdiskurses sowohl in der Behin-dertenpädagogik als auch in der Sport- und Bewegungspädagogik allerdings nicht systematisch entwickelt. Außerdem existiert bis dato weder ein einheitli-cher Inklusionsbegriff, noch eine inklusive Didaktik, die auf einer stringenten Analyse des zugrundeliegenden Basisphänomens – der Inklusion – beruhen würden. Das inklusive Streben nach einer Veränderung der Lebens- und Lern-bedingungen von Menschen mit besonderen Bedürfnissen erscheint vor diesem Hintergrund, ohne dass damit gleichzeitig eine inhaltliche Wertung verbunden wäre, theoretisch nicht ausreichend fundiert. Dem Inklusionsdiskurs wurden in diesem Sinne eine durchgängige Theorieferne, das weitgehende Fehlen einer ausreichenden anthropologischen Fundierung und methodologische Schwä-chen attestiert, die sich vor allem in dem Fehlen einer grundlagentheoretisSchwä-chen Basis – dem Fehlen einer Theorie der Inklusion – artikulieren.

In dem Bestreben, die kritische Bestandsaufnahme konstruktiv zu wenden und theoretisch begründete Diskussionsvorschläge zu liefern, wie die inhaltlichen Leerstellen möglicherweise zu füllen sind, wird nachfolgend danach gefragt, welche bisherigen Ansätze in der Sport- und Bewegungspädagogik existieren und welches inklusive Potential ihnen zugeschrieben werden kann. Da sich im breiten Kanon der Erziehungswissenschaften – wie in der Einleitung bereits

hergeleitet wurde – insbesondere die Behindertenpädagogik der Herausforde-rung gestellt hat, weiterhin eine Handlungs- und OrientieHerausforde-rungsfunktion zu ge-währen, wird in Kapitel 3.2 gefragt, wie bzw. ob eine anthropologische Fun-dierung einer inklusiven Sport- und Bewegungspädagogik möglich ist.

Dazu wird zunächst der Forschungsstand zur Anthropologie bzw. zur Anthro-pologiekritik aus philosophischer und behindertenpädagogischer Perspektive dargestellt, wobei sich zeigen wird, dass der Nutzen der Anthropologie dort grundsätzlich in Frage gestellt wird, weil die Anthropologie in Bezug auf Men-schen mit Behinderungen vielfach ein fatales, exklusives Potential entfaltet. In einem weiteren Schritt wird deshalb gefragt, wie bis dato in der Sport- und Be-wegungspädagogik diskutierte sportbezogene Anthropologien vor dem Hinter-grund der Anthropologiekritik zu bewerten sind und ob sich ggf. vorhandene Ansätze identifizieren lassen, die als Grundlage einer inklusiven Sport- und Bewegungspädagogik fungieren können. Die kritischen Befunde, die sich da-bei ergeben, dekonstruieren Machbarkeitsillusionen und sensibilisieren dafür, dass den Einwänden der Anthropologiekritik und der Behindertenpädagogik in der Sport- und Bewegungspädagogik bisher nicht angemessen Rechnung ge-tragen wurde. Ein analoges methodologisches Vorgehen wird in Kapitel 3.3 und in Kapitel 3.4 auch für bildungstheoretische und bildungsdidaktische Über-legungen verfolgt, indem danach gefragt wird, ob etablierte sport- und bewe-gungspädagogische Ansätze kompatibel mit den Wissensbeständen in der Be-hindertenpädagogik erscheinen. Auch hier zeigt sich, dass es zunächst einer Dekonstruktion bedarf, um dafür zu sensibilisieren, dass bisher diskutierte bil-dungstheoretische und bildungsdidaktische Ansätze nicht ausreichend Orien-tierung auf dem Weg zu einer inklusiven Fachdidaktik Sport zu geben vermö-gen.

Methodologisch und inhaltlich erfolgt die analytische Sichtung bestehender Ansätze in der Sport- und Bewegungspädagogik texthermeneutisch vor dem Hintergrund eines inter- bzw. transdisziplinären Ansatzes, indem Wissensbe-stände der Behindertenpädagogik sowie der Disability Studies und Ableism für die Sport- und Bewegungspädagogik diskutiert und fruchtbar gemacht werden sollen (vgl. Kap. 3.1). Dieses Vorgehen greift dabei die sowohl in der Erzie-hungswissenschaft (Jakobs, 2009, S. 297), als auch in der Sport- und Bewe-gungspädagogik (Giese, 2016b) gestellte Forderung auf, dass die Behinderten-pädagogik und insbesondere die Disability Studies stärker in den Blick zu

neh-men sind, wenn der Anschluss an die Diskurse in benachbarten Fachwissen-schaften nicht verloren gehen bzw. hergestellt werden soll. Dabei wird sich zei-gen, dass eine Diskussion über Behinderung im Kontext der Diskurse um In-klusion auch in der Sport- und Bewegungspädagogik zukünftig nicht mehr möglich erscheint, ohne die Perspektive der Disability Studies zu beachten.