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Didaktische Ansätze im Inklusionsdiskurs der Sport- und Bewegungspädagogik

2.4 F ORSCHUNGSSTAND ZUR INKLUSIVEN (F ACH -)D IDAKTIK

2.4.2 Didaktische Ansätze im Inklusionsdiskurs der Sport- und Bewegungspädagogik

Werden im Folgenden vorhandene Diskussionsansätze zur inklusiven Fachdi-daktik in der Sport- und Bewegungspädagogik dargestellt, ist einleitend erneut darauf hinzuweisen, dass sich die zusammenfassende Darstellung des Diskur-ses auch in diesem Kontext auf die didaktische Frage nach der gemeinsamen Beschulung von Menschen mit und ohne Behinderungen im schulischen Un-terrichtsfach Sport beschränkt. Damit wird, in Anlehnung an (Sturm, 2016, S. 136), für die weiterhin „theoretisch-analytische Betrachtungen notwendig bleiben, um systematische Benachteiligungen zu beschreiben und zu erken-nen“, einem weiterreichenden Ansatz, wie er im Kontext der Sport- und Bewe-gungspädagogik beispielsweise von Tiemann (2015a) vertreten wird, die für eine diversitätssensible inklusive Sport- und Bewegungspädagogik plädiert und dafür, Differenzkategorien, „wie zum Beispiel die soziale und kulturelle Her-kunft, Geschlecht, Religion oder Behinderung“ (Tiemann, 2015a, S. 57) im Kontext der Inklusion immer mit in den Blick zu nehmen, nicht gefolgt. Auch wenn dabei selbstverständlich außer Frage steht, dass auch solche Differenzka-tegorien beachtet werden müssen, kann ein quasi „entgrenzter“ Blick hier nicht geleistet werden und würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen.

Verlassen wir damit zunächst die Behindertenpädagogik und versuchen, den Entwicklungslinien in der Sport- und Bewegungspädagogik nachzuspüren, wird auch hier im Folgenden zwischen einer (vorgängigen) integrations- und einer (aktuellen) inklusionstheoretischen Debatte unterschieden. Fristet der Diskurs um die gemeinsame Beschulung von Menschen mit und ohne Behin-derung in der Sport- und Bewegungspädagogik einerseits zwar seit jeher ein

Nischendasein wie es beispielsweise von Thiele (2010, S. 44) oder von Tie-mann (2012) beklagt wird,32 hat diese Debatte andererseits aber auch eine – häufig ignorierte – jahrzehntelange Tradition, die mindestens bis zu den Emp-fehlungen des Deutschen Bildungsrats Zur pädagogischen Förderung behin-derter und von Behinderung bedrohter Kinder und Jugendlicher zurückreicht, in denen die möglichst gemeinsame Beschulung von Menschen mit und ohne Behinderungen befürwortet wird, ohne dabei die Notwendigkeit und den Nut-zen von Förderschulen in Frage zu stellen (Deutscher Bildungsrat, 1973).

Aus der Perspektive der Sportdidaktik bezweifelt Brodtmann in Auseinander-setzung mit diesen Empfehlungen allerdings, „dass die Sportdidaktik in ihrem gegenwärtigen Selbstverständnis die damit auftretenden Aufgaben und Prob-leme überhaupt erfassen oder gar bewältigen kann“ (Brodtmann, 1975, S. 295).

Auch wenn Brodtmann die gesellschaftspolitische Wichtigkeit und die Not-wendigkeit dieser Aufgabe expressis verbis bejaht, schließt er nicht aus, „dass für den Bereich des Sportunterrichts beansprucht wird, den Empfehlungen der Bildungskommission nicht folgen zu können – mit allen Konsequenzen für die betroffenen Schüler“ (Brodtmann, 1975, S. 295).

Zur Begründung schreibt Brodtmann (1975, S. 295):

„Faktisch die gesamte Sportmethodik – und auch darin zeigen sich didaktische Implikationen der Unterrichtsmethoden im Sport – ist auf den Unterricht mit physisch und psychisch ‚normal‘ entwickelten und reagierenden Kindern ausge-richtet, und zwar weitgehend orientiert an Zielen, die für große Gruppen von Behinderten selten realisierbar sind, nämlich Bewegungsperfektion, permanente physische Leistungssteigerung und Erfolg in der Konkurrenz.“

Ähnlich argumentiert auch Kröger (1977, S. 499), der den gemeinsamen Un-terricht von sehenden und sehbehinderten Schülerinnen und Schüler grundsätz-lich zwar befürwortet, unter den gegebenen Bedingungen der Schule aber für kaum realisierbar hält, weil die Unfallgefahr zu hoch sei und grundsätzlich un-terschiedliche bzw. unvereinbare methodisch-didaktische Vermittlungsweisen die gemeinsame Beschulung erschweren würden.

Eine Position, die grundsätzlich auch von Friedrich Scherer (1983) vertreten wird, der die Frage nach dem gemeinsamen Sportunterricht ebenfalls kritisch

32 Um wegen der Namensähnlichkeit Verwechselungen zu vermeiden, sei kurz darauf hingewiesen, dass in diesem Kapitel – im Gegensatz zu der bisherigen Arbeit – Michael Thiele gemeint ist, der sich mehrfach mit der gemeinsamen Beschulung von Menschen mit und ohne Sehbehinderung beschäftigt hat und im Folgenden als M. Thiele benannt wird.

betrachtet und zudem von behinderungskonformen Sportarten abhängig macht, womit die Weiterentwicklung von der Integration zur Inklusion prototypisch besonders deutlich wird, weil in einem inklusiven Ansatz nicht mehr danach zu fragen ist, welche Sportarten für spezifische Behinderungsformen geeignet er-scheinen, weil beispielsweise Menschen mit einer Sehbehinderung sonst von Anfang an von verschiedenen Sportarten ausgeschlossen würden. In einem in-klusiven Setting würde der Anpassungsdruck nicht mehr auf den Menschen mit Behinderungen, sondern auf dem Sportunterricht lasten (Thiele, M., 2010, S. 41).

„So kann man zusammenfassend sagen, dass eine integrierende Unterrichtung mittel- oder hochgradig Sehbehinderter und Blinder im Sportunterricht mit Nor-malsichtigen […] problematisch und wenig effektiv ist. Letztlich sollte aber im-mer die Beurteilung der individuellen Möglichkeiten und Fähigkeiten im Vor-dergrund stehen. Von dem Zeitpunkt an, wo das sehgeschädigte Kind über ein gesichertes Repertoire an elementaren Bewegungsformen, sportlichen Übungs-formen und Bewegungsmuster verfügt, kann und sollte diese und jene Sportart, die dazu die Möglichkeit bietet, auch mit normalsichtigen Kindern und Jugend-lichen betrieben werden. Als besonders geeignete Sportarten bieten sich an:

Schwimmen, Judo, Wandern, Rollschuhlaufen, Eislaufen, Ringen, Tanz u. a.“

(Scherer, F., 1983, S. 24).

Mit den Empfehlungen zur sonderpädagogischen Förderung in den Schulen in der Bundesrepublik Deutschland (Kultusministerkonferenz, 1994) verstärkt sich auch in der Bundesrepublik Deutschland die bildungspolitische Tendenz hin zu einer stärkeren Befürwortung einer gemeinsamen Beschulung von Men-schen mit und ohne Behinderungen und auch der Sportunterricht wurde ver-stärkt in die Pflicht genommen, sich den damit verbundenen Herausforderun-gen auch auf einer konzeptionellen, didaktischen Ebene zu stellen (Doll-Tep-per, 2003; 2012, S. 88). Zielvorgabe der Empfehlungen war dabei, dass sich die allgemeine Schule stärker als bisher an der Beschulung von Schülern mit Behinderungen beteiligt. Fediuk (2008b, S. 33) weist unter Bezug auf diese Empfehlungen allerdings darauf hin, dass es zu der Frage nach der gemeinsa-men Beschulung von Menschen mit und ohne Behinderung sowohl zu dieser Zeit als auch in der darauffolgenden dreizehn Jahren kaum empirischen Be-funde in der Sport- und Bewegungspädagogik gibt und dass ein integrativer Sportunterricht sowohl „von der Sportdidaktik als auch von der Integrationspä-dagogik gleichermaßen nicht wahrgenommen“ (Fediuk, 2008a, S. 6) wird.

Eine zentrale Bedeutung ist in diesem Zusammenhang Scheid (1995) zuzuspre-chen, der sich entgegen des damaligen sportpädagogischen Mainstreams diffe-renziert mit der Frage beschäftigt hat, welche Integrationschancen der gemein-same Sportunterricht Menschen mit Behinderungen bietet und dabei zu dem Schluss kommt, dass die „Einbindung behinderter Kinder und Jugendlicher in den Sportunterricht an allgemeinbildenden Schulen“ (Scheid, 1995, S. 164) sehr wohl möglich sei und nur ein geringer Prozentsatz der behinderten Schü-lerinnen und Schüler nicht am Sportunterricht teilnehmen könne. Scheid (1995) kann zeigen, dass die Begegnung von geistig behinderten Personen und nicht-behinderten Schülern zu einem Abbau von sozialen Distanzen und zu einer po-sitiven Veränderung der Verhaltensweisen gegenüber Menschen mit Behinde-rungen führt. Dem steht allerdings der von Scheid ebenfalls erhobene, aber nicht weiter diskutierte Befund gegenüber, „dass insbesondere Sehbehinderte und Blinde sowie ein größerer Teil körperbehinderter Schülerinnen bei einigen bzw. den meisten Übungsangeboten nicht teilnehmen können“ (Scheid, 1995, S. 155).

Aus der Perspektive eines inklusiven Paradigmenwechsel merkt Thiele (2001, S. 41) in Bezug auf Scheids Untersuchung zudem kritisch an, dass die Frage nach der potentiellen Integrierbarkeit hoch problematisch und gleichzeitig symptomatisch für den damaligen Integrationsdiskurs sei:

„Die von Scheid gestellte Frage nach der potentiellen ‚Integrierbarkeit‘ bestimm-ter Schüler bzw. Schülergruppen macht auf einen zweiten fragwürdigen Aspekt innerhalb der sportpädagogischen Diskussion aufmerksam. Die Perspektive, die hinter dieser Frage steht, scheint die Perspektive der Integrationsfähigkeit der als behindert definierten Schüler, indirekt damit die Perspektive der potentiellen An-passungsfähigkeit der Betroffenen zu sein. […] Im Rahmen des Diskurses zum gemeinsamen Unterricht sollte es aber genau nicht um das ‚Anpassungspoten-tial‘ der Schüler, sondern um die Frage nach dem ‚lntegrationspoten‚Anpassungspoten-tial‘ des je-weiligen Systems (z. B. Schule bzw. Sportunterricht) gehen. Im Vordergrund muss die Überlegung stehen, wie sich Schule und Unterricht so gestalten – d. h.

vor allem so verändern – lassen, dass sie den Bedürfnissen aller Beteiligten so weit wie möglich gerecht werden und zugleich soziale Annäherung ermöglichen können“ (Thiele, M., 2001, S. 41).

Der Inklusionsbegriff selbst wurde in der Sport- und Bewegungspädagogik 2003 erstmals im Rahmen des Themenhefts Schüler mit Behinderung und des Innenhefts Auf dem Weg zur Inklusion der Zeitschrift Sportpädagogik von Fe-diuk und Hölter (2003b) und auch von Doll-Tepper (2003) eingeführt.

Grundsätzlich kann darauf verwiesen werden, dass die grundsätzliche Möglich-keit und die SinnhaftigMöglich-keit eines gemeinsamen Sportunterrichts in der Sport-

und Bewegungspädagogik spätestens seit Ende der 1990er – auch in Folge der Untersuchung von Scheid (1995) – bejaht wird und heute aufgrund der vielfäl-tigen Befunde der Integrationspädagogik „nicht mehr umfangreich empirisch bewiesen werden“ (Scheid & Friedrich, 2015a, S. 40) muss.

Aus unterrichtsdidaktischer Perspektive betonen in diesem Sinne beispiels-weise Weichert (2003a, 2003b) oder auch von Fediuk und Hölter (2003b, S. 24) bereits vor über 10 Jahren die Bedeutung einer starken inneren Differenzierung für einen – damals noch – integrativen Unterrichten, wobei Fediuk und Hölter unter Bezug auf die entwicklungslogische Didaktik nach Feuser dafür sensibi-lisieren möchten (vgl. Kap. 2.4.1), dass Leistung nicht exklusiv unter der Prä-misse der sportlichen, motorischen Leistung zu betrachten sei, sondern dem individuellen Können und Lernzuwachs deutlich mehr Beachtung geschenkt werden müsse. Damit soll in ihren Augen die optimale und nicht nur die moto-rische Entwicklung der Individuen im Fokus stehen und nicht allgemein gültige sportliche Leistungsparameter. Auch sie weisen dabei die Idee einer radikalen Inklusion kategorisch zurück, denn klar sei: „Inklusion bedeutet nicht Teilhabe um jeden Preis. Eine pädagogisch reflektierte Exklusion muss langfristig nicht dem Autonomiegedanken und einer Partizipation widersprechen“ (Fediuk &

Hölter, 2003b, S. 25). Entscheidend für die Inklusion sei vielmehr, den „Para-digmenwechsel von der «Betreuung» zur «Autonomie» zu verstehen“ (Fediuk

& Hölter, 2003b, S. 23), wobei sie einschränkend anmerken, dass Inklusion insgesamt schwierig, wenn nicht gar unmöglich wird, wenn der Sportunterricht

„durch einen zu engen fertigkeitsorientierten Leistungsbegriff dominiert“ (Fe-diuk & Hölter, 2003b, S. 24) wird.

Den Anspruch, der individuellen Entwicklung mehr Beachtung zu schenken und auf die Fertigkeitsorientierung weitestgehend zu verzichten, sehen sie ins-besondere im Konzept der Psychomotorik verwirklicht (Fischer, 2009). Der Anspruch eines Sportunterrichts für alle werde damit in der Grundschule schon weitgehend eingelöst, da sich der Unterricht in der Grundschule größtenteils an allgemein psychomotorischen Inhalten orientiere (Hölter, 2011, S. 19). Kri-tisch anzumerken ist dabei, dass eine solche konzeptionelle Fokussierung, die mit einem weitreichenden Wegfall des Fertigkeiten- und Leistungsanspruchs einhergeht, beispielsweise mit einem gymnasialen Oberstufenunterricht im Fach Sport weitgehend inkompatibel ist. Zudem gibt Thiele (2010) zu beden-ken, dass Psychomotorik zwar in besonderer Weise die (Binnen-)Differenzie-rung fördert, „was in der Regel als Stärke des Konzepts angesehen wird (z. B.:

Bewegungslandschaften). Differenzierung allein, dies zeigt die Integrationsde-batte im Allgemeinen, führt aber noch keineswegs zur Begegnung oder zu Ko-operation und in der Konsequenz auch nicht zu sozialer Integration“ (Thiele, M., 2010, S. 45).33

Eiseler, Kornmann, Luthringhausen und Wiegel (2012) betonen ebenfalls unter Bezugnahme auf das integrative Konzept von Feuser (1995), Individualisie-rung vornehmlich aus der Perspektive der Schülerinnen und Schüler mit den größten Handicaps zu planen. So sollen auch diese Kinder einen entwicklungs-förderlichen Zugang zum Lerngegenstand erhalten und in kooperativen Formen mit anderen Kindern arbeiten. Methodisch soll dieser Anspruch eingelöst wer-den, indem Unterrichtseinheiten so konzipiert werwer-den, dass die jeweiligen Ein-schränkungen der Erfahrungsmöglichkeiten einzelner Kinder verringert wer-den bzw. sollen bereits existente Unterrichtseinheiten so verändert werwer-den, dass alle Schülerinnen und Schüler „in das lern- und entwicklungsförderliche Geschehen einbezogen sind“ (Eiseler et al., 2012). Neben der rein normativen Proklamation wünschenswerter Endzustände, bleibt die konkrete Umsetzung leider vage und es bleibt zudem kritisch zu konstatieren, dass die exklusive Planung aus der Perspektive der Schülerinnen und Schüler mit den größten Handicaps sicherlich nicht zu einem inklusiven Sportunterricht führt, an dem alle Beteiligten gleichberechtigt teilnehmen können, sondern vielmehr einzelne Schülerinnen und Schüler prominent in den Mittelpunkt stellt und von ihnen aus die Bedürfnisse aller Kinder bestimmt werden.

Dafür, die Fähigkeiten und Fertigkeiten von Menschen mit Behinderungen dif-ferenzierter in den Blick zu nehmen, plädiert Weichert (2003b, 2008, 2010, 2012), wenn er Integration durch die Schaffung von Bewegungsdialogen und Bewegungsbeziehungen anregen möchte. Zwar sei eine veränderte Sportidee vonnöten, jedoch dürfe seines Erachtens das Leistungsprinzip auch im inklusi-ven Sportunterricht nicht zugunsten rein sozialer bzw. karitativer Aspekte ver-schwinden, da Sportunterricht gerade wegen des Wettkämpfens so attraktiv für viele sei. Er plädiert für Bewegungsbeziehungen, die sich im Bewegungsdialog zwischen behindertem und nichtbehindertem Kind manifestieren und gerade aufgrund der Unterschiedlichkeit hoch attraktiv und herausfordernd für beide gestaltet werden können. In Abhängigkeit von der Art und Weise bzw. der

33 Zur weiterführenden Kritik am Konzept der Psychomotorik aus einer inklusiven Perspektive vergleiche Ka-pitel 3.5.3.

Dichte der Interaktion zwischen behindertem und nicht behindertem Kind un-terscheidet Weichert in Anlehnung an Wocken (2012) zwischen koexistenten, koaktiven, subsidiären und kooperativen Bewegungsbeziehungen (Weichert, 2010, S. 70).

Welche Bewegungsbeziehung in welcher Phase des Unterrichts in welcher Ausprägung zum Einsatz kommt, bedarf dabei einer ständigen Abwägung und einer ständigen Verständigung aller Beteiligten. So können neben einer koexis-tenten Unterrichtsphase, in der alle Schülerinnen und Schüler separat nebenei-nander lernen, in anderen Unterrichtssequenzen auch andere Bewegungsbezie-hungen zur Anwendung kommen, wenn die Teilhabe des behinderten Kindes dadurch auch tatsächlich gefördert wird. Ein mehrfach publiziertes Beispiel ist das gemeinsame Badmintonspiel des Rollstuhl fahrenden Schülers mit dem Vereinsspieler. Die Situation kann für beide Sportler hoch herausfordernd sein, wenn der Vereinssportler es sich zur Aufgabe macht, die Bälle so passgenau zuzuspielen, dass der Rollstuhlfahrer eine gute Chance hat, die Bälle zu errei-chen und dieser die Bälle dagegen breit streut.

Kritisch ist anzumerken, dass es bei den von Weichert vorgestellten Beispielen in der Regel um die Darstellung von Einzelsituationen ohne Klassenverband geht und dass der/die „gute Sportler/-in“ es sich zur Aufgabe macht, die Schwä-chen des Gegenübers zu kompensieren, was nach Thiele (2010) von vornherein eine problematische hierarchische und auch karitative Struktur in den Vermitt-lungsprozess integriert. Da es sicherlich nicht zum Kern des Vereinssports Bad-minton gehört, die Bälle zielgenau immer auf dieselbe Stelle zu platzieren, muss der Vereinssportler diese Spielform als eine bewusste Trainingsaufgabe akzeptieren, deren Logik sich nicht aus der Struktur des Zielspiels, sondern aus den besonderen Bedarfen seines Mitspielers ergibt.

Wurzel (1991, 2001, 2003, 2008) lehnt ihre didaktischen Überlegungen an das Konzept einer pragmatischen Sportdidaktik bzw. der Mehrperspektivität von Kurz (1977) an und tritt vehement und theoretisch elaboriert dafür ein, simpli-fizierende, erstbeste Lösungen zu überwinden (vgl. Kap. 3.4.1). Unter erstbes-ten Lösungen versteht Wurzel Unterrichtsarrangements, in denen Menschen mit Behinderungen beispielsweise als Schiedsrichter fungieren oder auf einem Fahrradergometer sitzen, während die übrigen Schülerinnen und Schüler Ball-spiele ausüben. Die Sinnperspektiven Leistung, Miteinander, Eindruck, Aus-druck, Wagnis und Gesundheit sollen dabei für alle Schülerinnen und Schüler bedeutsam werden können, wobei über individuelle Präferenzen vielgestaltige

Zugänge zum Schulsport geschaffen werden können. Der Bezug zu diesem Konzept untermauert den Wegfall einer alleinigen Fokussierung auf Fertig-keitsaspekte, was allerdings nicht mit dem grundsätzlichen Verzicht der Leis-tungsdimension für Einzelne gleichgesetzt werden darf.

Problematisch erscheint Wurzel zudem, dass im Sinne einer strikten Defizito-rientierung üblicherweise danach gefragt wird, was Schülerinnen und Schüler mit Behinderungen nicht können, um dieses Defizit dann durch materiale oder personale Hilfen zu kompensieren. Solche Fallen der Integration tun sich bei-spielsweise auf, wenn ein sehbehindertes Kind von einem sehenden Kind an der Hand genommen wird, um an der normierten Spielform teilnehmen zu kön-nen und dabei so schnell hinterhergezogen wird, dass es keinerlei Überblick über das Spielgeschehen gewinnen und deshalb auch nicht gestaltend partizi-pieren kann. Unterrichtsdidaktisch präferiert Wurzel offene, explorierende und im weitesten Sinne genetische Unterrichtsverfahren, die den Schülern Eigen-verantwortung zugestehen und deren Autonomie bewahren. Wurzel muss in der Rückschau auf den Integrationsdiskurs in der Sportdidaktik das Verdienst zugesprochen werden, die sportdidaktische Debatte um einen inklusiven Sport-unterricht voran gebracht zu haben, indem sie inklusive Pseudolösungen zu-rückweist, auch wenn sie dabei weder von Inklusion noch von Integration spricht, sondern dabei den damals üblichen Terminus des gemeinsamen Unter-richts verwendet.

Kritisch kann demgegenüber angemerkt werden, dass die relativ starke Bewe-gungsfeld- und Sportartenorientierung des Ansatzes zu einem einseitigen An-passungsdruck bei den Schülerinnen und Schülern führen kann, den es im Sinne der Inklusion zu vermeiden gilt und dass Wurzels Konzept nur dort zu greifen scheint, wo die Behinderung der Schülerinnen und Schüler trotzdem noch re-lativ hohe motorische Fertigkeiten erwarten lassen (Thiele, M., 2010, S. 46).

Wie mit stark mehrfachbehinderten Schülern zu verfahren ist, bleibt – wie bei vielen anderen Ansätzen allerdings auch – offen.

Nach Einschätzung von Scheid und Friedrich (2015a) legt Fediuk (2008c, S. 120) „den differenziertesten Beitrag zur Anwendung der pädagogischen Per-spektiven auf den Sport in heterogenen Gruppe vor. Er betrachtet die einzelnen Perspektiven jeweils aus integrationspädagogischer Sicht und entwickelt ein didaktisches Konzept, das von einem individualisierten Leistungsverständnis ausgeht, Maßnahmen der inneren Differenzierung und angemessene

Adapta-tion vorsieht sowie Elemente der Psychomotorik, Bewegungskünste und Erleb-nispädagogik einschließt“ (Scheid & Friedrich, 2015a, S. 38). Unterrichtsdi-daktisch befürwortet auch Fediuk Vorstellungen, „die sich einerseits an anlei-tenden, darbietenden und nachvollziehenden Methoden orientieren und die sich andererseits gegen einen gelenkten Sportunterricht in relativ starren Formen wenden und stattdessen fordern, dem Kind die Freiheit zu gewähren, sich nach seinen Bedürfnissen und Entlastungen zu bewegen“ (Fediuk, 2008b, S. 43).

Scheid und Fediuk (2002) beziehen sich bei ihren Ausführungen zum gemein-samen Sport mit Menschen mit und ohne Behinderung auf die Theorie integra-tiver Prozesse, die von der Frankfurter Arbeitsgruppe um Reiser (1991) seit Anfang der 1980er Jahre erarbeitet wurde (Reiser, Klein, Kreie & Kron, 1986).

In dieser Theorie wird das Recht auf Unterschiedlichkeit betont, ohne dabei das Faktum der Gemeinsamkeit zu verneinen. Den integrationstheoretischen Kern verortet die Theorie der integrativer Prozesse deshalb im dialektischen Span-nungsverhältnis zwischen Verschiedenheit und Gleichheit, wobei Integration als ein übergeordnetes Ziel zu verstehen sei, „welches eine für die Situation passende dynamische Balance von Differenz und Gleichheit herstellen soll“

(Scheid, 2002, S. 281). In unterrichtsdidaktischer Perspektive favorisieren Scheid und Fediuk (2002) offene und schülerorientierte Vermittlungsarrange-ments, die an eine „Veränderung der Lehrerrolle hinsichtlich Planung, Reali-sierung und Reflexion des Unterrichts als eine wesentliche Bedingung gekop-pelt“ (Scheid & Fediuk, 2002, S. 301) sind und die Orientierung an einem mehrperspektivischem Unterricht, der den Autoren – ähnlich wie auch Wurzel – für die Durchführung eines integrativen Sportunterricht besonders geeignet erscheint, weil er den unterschiedlichen Interessen der Akteure gerecht würde, durch die größere Bandbreite pädagogischer Zielsetzungen vielfältige Förder-möglichkeiten böte und die Teilnehmer anleitet, eigene Antworten auf die Sinnfrage des Sports zu suchen (Scheid & Fediuk, 2002, S. 304). Kritisch ist auch hier zu fragen, ob das tatsächlich für alle Schülerinnen und Schüler mit Behinderungen machbar ist oder ob es beispielsweise für Schülerinnen und Schüler mit schweren mehrfachen Behinderungen oder starker geistigen Be-hinderungen nicht vielmehr auch eine Überforderung darstellen kann.

Wird der Forschungsstand zur gemeinsamen, zur integrativen oder auch zur inklusiven Beschulung von Menschen mit und ohne Behinderungen im Sport-unterricht dargestellt, bleiben – wie zuletzt beispielsweise auch bei Hölter (2014), Scheid und Friedrich (2015a), Tiemann (2015a) oder Fediuk (2015) –

die vielfältigen Arbeiten zum Sport- und Bewegungsunterricht mit hochgradig sehbehinderten und blinden Schülerinnen und Schülern üblicherweise uner-wähnt. Das mag damit zu tun haben, dass es sich beim Förderschwerpunkt Se-hen um den kleinsten Förderschwerpunkt handelt oder auch mit dem grund-sätzlichen Desinteresse des Mainstreams der Sport- und Bewegungspädagogik gegenüber behindertenpädagogischen Belangen. Auch, dass wie oben bereits beschrieben, unterschiedliche Autoren seit Mitte der 1990er Jahre zu dem Schluss kommen, dass explizit eine gemeinsame Beschulung von sehenden und sehbehinderten Schülern nur schwer möglich sei, mag dazu beigetragen, dass

die vielfältigen Arbeiten zum Sport- und Bewegungsunterricht mit hochgradig sehbehinderten und blinden Schülerinnen und Schülern üblicherweise uner-wähnt. Das mag damit zu tun haben, dass es sich beim Förderschwerpunkt Se-hen um den kleinsten Förderschwerpunkt handelt oder auch mit dem grund-sätzlichen Desinteresse des Mainstreams der Sport- und Bewegungspädagogik gegenüber behindertenpädagogischen Belangen. Auch, dass wie oben bereits beschrieben, unterschiedliche Autoren seit Mitte der 1990er Jahre zu dem Schluss kommen, dass explizit eine gemeinsame Beschulung von sehenden und sehbehinderten Schülern nur schwer möglich sei, mag dazu beigetragen, dass