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E XKLUSION – S EGREGATION – I NTEGRATION – MODERATE I NKLUSION – RADIKALE I NKLUSION

Wurde bisher bildungspolitischen Entwicklungslinien und schulstrukturellen Steuerungselementen nachgespürt, die sich übergreifend u. a. durch terminolo-gische, konzeptionelle oder grundlagentheoretische Unschärfen auszeichnen, wird im Folgenden nach dem Inklusionsbegriff selbst gefragt, bevor in Kapitel 2.3 der Versuch unternommen wird, ein Begriffsverständnis zu destillieren, das – wenn sicherlich auch nicht konsensfähig – zumindest dem weiteren Verlauf dieser Arbeit zugrunde liegen soll. Etymologisch ist die Präposition inklusiv dem mittellateinischen inclusivus entlehnt und seit dem 16. Jahrhundert mit der Bedeutung einschließen, schließen bzw. versperren bekannt (Kluge, 1999, S. 401). Die gemeinhin positiver konnotierte und heute wohl eher assoziierte Bedeutung einschließlich bzw. inbegriffen entwickelte sich vor diesem termi-nologischen Hintergrund aus der Situation des Eingeschlossen-Seins des Mönchs oder des Eremiten in seiner Selbstkasteiung. Das neulateinische

16 In der Einleitung zum Index für Inklusion im und durch Sport findet sich lediglich der Hinweis, dass er sich inhaltlich und konzeptionell am schulischen Index für Inklusion orientiert (Deutscher Behindertensportver-band, 2014, S. 4).

sivum mit seiner Bedeutung eingeschlossen lässt diesen Bedeutungswandel be-reits erkennen und verweist wertneutral auf das Enthaltenseins eines Elements in einer größeren Menge (Kraif, 2007, S. 625).

Sprachgeschichtlich ist der Inklusionsbegriff dabei keineswegs ein pädagogi-scher Begriff. Ausgehend von der Philosophie wird er vielmehr in der Mathe-matik – aber auch in der Mineralogie – verwendet: Inklusion besteht danach zwischen „zwei Klassen K und L, wenn K (echter oder unechter) Teil von L ist, d. h. wenn alle Elemente von K auch Element von L sind“ (Ritter, 1976, S. 383).

In einem sog. Euler-Diagramm wird dieser Sachverhalt durch zwei Kreise dar-gestellt (vgl. Abbildung 4), wobei in der Logik zwischen Enthaltensein von A in B (strikter Inklusion) und der Gleichheit von A und B (Inklusion) unterschie-den wird (Menne, 2001, S. 80).

Abbildung 4: Euler-Diagramm (Ritter, 1976, S. 383)

Wie bereits gezeigt wurde, greift zumindest die bildungspolitische Verwen-dung des Inklusionsbegriffs diese Begriffstradition nicht systematisch auf und übergeht dabei die in der Logik diskutierten Details bzgl. der Frage, was das Enthaltensein einer Klasse in einer anderen an divergierenden Deutungsmög-lichkeiten sprachlogisch zulässt. Dadurch werden terminologische Chancen zur Differenzierung unterschiedlicher Ausprägung der Inklusion ohne Not verge-ben, was die terminologische Klarheit der Debatte nicht befördert und stattdes-sen vielmehr eine binäre Kodierung der Inklusionsdebatte begünstigt, in deren Lesart ein Individuum entweder in- oder exkludiert ist (vgl. Kap. 3.5.2).

Auf dem Weg zum Inklusionsbegriff wird in genealogischer Diktion in einer Art terminologischen Stufenfolge zwischen den Begriffen Exklusion, Segrega-tion, Integration und Inklusion unterscheiden, wobei sich in den Fachdiskursen zwischenzeitlich auch die weitergehende Unterscheidung zwischen einer mo-deraten und einer radikalen Form der Inklusion etabliert hat (Ahrbeck, 2014b, S. 6; Brodkorb, 2012, S. 16; Dederich, 2013, S. 37; Felder & Schneiders, 2016, S. 22). Rohrmann (2014, S. 163), der gegen diese zusätzliche Unterleitung des

Inklusionsbegriffs das Mantra der prinzipiellen Unteilbarkeit der Inklusion ins Feld führt, weist in diesem Zusammenhang auch daraufhin, dass sich damit Argumentationsstrukturen aus dem Integrationsdiskurs wiederholen, weil auch dort von „radikalen Integrationisten“ und der „totalen Integration“ die Rede war.

Unabhängig von solchen terminologischen Fragen war das Ringen um Inklu-sion von Anfang an auch an die Überzeugung gebunden, dass es nötig ist, auch die Lebens- und Wohnsituation von Menschen mit besonderen Bedürfnissen sowie ihre Anbindung an die Gemeinde zu verbessern, was mit dem Begriff des Community Care verbunden wird. Dahinter verbirgt sich die Idee, dass die Gemeinde für alle ihre Bürger möglichst weitgehend die Verantwortung über-nimmt, was auch „die praktische Unterstützung für behinderte Mitbürger in der Gemeinde (Bürgerschaftliches Engagement) [einbezieht, MG]. Spezielle An-gebote von Fachleuten werden nur ‚nachrangig‘ in solchen Bereichen vorgese-hen, in denen die Community Care nicht ausreicht, um die speziellen Bedürf-nisse von Menschen mit einer Behinderung sicher zu stellen“ (Frühauf, 2008, S. 22).

In Anlehnung an Taylor u. a. beschreibt Lindmeier (2008) dabei drei große Entwicklungslinien in der Diskussion und Forschung zum Leben von Men-schen mit Behinderung in den Gemeinden der USA, die in ähnlicher Form auch in den europäischen Ländern wiederzufinden sind. In einer ersten Phase, die Ende der 1960er Jahre des letzten Jahrhunderts zu datieren ist, ging es im Ge-gensatz zur Unterbringung in großen Institutionen um die Förderung des ge-meindenahen Lebens und Wohnens. Auslöser für diesen Paradigmenwechsel war die gesellschaftliche Kritik an den staatlichen Institutionen und Änderun-gen in der Gesetzgebung, die in Folge des öffentlichen Drucks institutionelle Praktiken untersagt. Gerade in Deutschland ist diese Phase nach Lindmeier (2008, S. 92) allerdings nicht nur später, sondern vor allem auch anders verlau-fen, da die großen Einrichtungen bzw. Anstalten eher umstrukturiert als aufge-löst wurden.

In der zweiten Phase verschob sich der Fokus von der Auflösung großer An-stalten auf die Gestaltung des Lebens behinderter Mitmenschen in der Ge-meinde. Das Leben von Menschen mit Behinderungen in der Gemeinde sollte so „normal“ wie möglich sein, was sich auch darin ausdrückt, dass sie an den Einrichtungen und Angeboten des Gemeindelebens unbeschränkt partizipieren können. Wurde im schulischen Bereich der USA dafür das Gesetz zum

mainstreaming verabschiedet, das eine „möglichst weitgehende Eingliederung behinderter Kinder in den ‚mainstream‘ der Erziehung und Bildung vorsah“

(Lindmeier, 2008, S. 92), so wurde im Gemeindeleben das Prinzip des least restrictive environment (LRE) installiert.17

Ermöglichte das least restrictive environment vielen behinderten Mitmenschen eine gemeindenahe Unterbringung, war das Konzept jedoch auch dadurch ge-kennzeichnet, dass eine wohnortnahe Unterbringung nicht in allen Fällen für möglich gehalten wurde, und in diesen Fällen pädagogische Fachkräfte über die Möglichkeiten der Unterbringung entscheiden. Die Hintertür für eine rest-riktive und wohnortferne Unterbringung von Menschen war dadurch weiterhin geöffnet und wurde umfassend benutzt. Lindmeier resümiert in diesem Sinne kritisch, dass „also nur andere Zuschnitte der Kategorisierung und Grenzzie-hung etabliert wurden, mit deren Wahl neue Ausgrenzungsprozesse wirksam wurden“ (Lindmeier, 2008, S. 93).

Die dritte Phase ist dadurch charakterisiert, dass zwischen dem Leben in der Gemeinde und Teil der Gemeinde sein unterschieden wird. So ist gerade die Gefahr der Vereinsamung behinderter Menschen in der Gemeinde hinreichend dokumentiert. In der Bundesrepublik Deutschland wird in diesem Kontext in der Regel auf das persönliche Budget oder die zunehmende Ambulantisierung der Unterstützungssysteme verwiesen.

Die UN-Behindertenrechtskonvention über die Rechte behinderter Menschen betont in Artikel 19 explizit, dass „behinderte Menschen gleichberechtigt die Möglichkeit haben, ihren Wohnsitz zu wählen und zu entscheiden, wo und mit wem sie leben, und nicht verpflichtet sind, in besonderen Wohnformen zu le-ben.“ Im Kontext der Community Care wird die besondere Bedeutung der Au-tonomie behinderter Mitmenschen damit explizit betont (vgl. Kap. 2.3). Über-greifende Zielperspektive ist dabei weniger die Integration einzelner gesell-schaftlicher Gruppen, die „von sozialem Ausschluss bedroht sind, sondern eine

17 Das Prinzip des least restrictive environments wird im deutschsprachigen Raum üblicherweise als am we-nigsten eingrenzende Umgebung übersetzt. Dieser Ansatz ist von Beginn an allerdings sehr umstritten. So weist u. a. Hinz auf die Problematik des Umkehrschusses hin: „Diese Logik bedeutet bei schwererer Be-hinderung eine stärkere Aussonderung, die wiederum zur Folge hat, dass die Sonderschulen, die Kinder und Jugendliche mit schweren Behinderungen aufnehmen, zur Restschule degenerieren“ (Hinz, 2002, S. 356).

umfangreiche Teilhabe aller Menschen am Leben der Gemeinde, größere Au-tonomie sowie Wahl- und Entscheidungsmöglichkeiten“ (Lindmeier, 2008, S. 97).

Eng verknüpft mit der – hier nicht weiterverfolgten – Frage nach einer stärkeren Sozialraumorientierung ist auch die Konstitution entsprechender Beschulungs-systeme, die ihre Angebote vor Ort anbieten. So wurde beispielsweise in der Bremer Integrationskonzeption „eine strikte Stadtteilorientierung durch das Aufnahmekriterium einer Kindertageseinrichtung erreicht, die darin bestand, dass die Einrichtung von zu Hause aus zu Fuß in zehn Minuten erreichbar sein muss“ (Stein, 2008, S. 80). Neben den Bemühungen zur Förderung der Teil-habe von Menschen mit Behinderungen am Leben in der Gesellschaft existie-ren in diesem Sinne von Anfang an intensive Bestrebungen, auch das Lernen in Bildungseinrichtungen inklusiv zu gestalten. Sowohl Boban und Hinz (2004) als auch Frühauf (2008) oder in ähnlicher Diktion auch Felder und Schneiders (2016) beziehen sich in ihren Ausführungen zur Entwicklung der Behinderten-pädagogik in Deutschland auf das fünfstufige Entwicklungsmodell von Sander (2003), das weite Verbreitung gefunden hat und an dessen ersten vier Stufen sich auch die folgenden Ausführungen grob orientieren.18

Ergänzt bzw. modifiziert wird diese thematische Orientierung durch eine zu-sätzliche Unterteilung zwischen Formen einer moderaten und einer radikalen Inklusion bzw. zwischen einem engen und einem weiten Inklusionsbegriff, wie sie oben bereits zur Sprache gekommen ist. Die vorliegende Arbeit verortet sich in dieser thematisch komplexen Gemengelage explizit im Kontext eines weiten bzw. moderaten Inklusionsbegriffs.

Die erste Phase, die Phase der Exklusion, ist durch einen expliziten und gene-rellen Ausschluss von Menschen mit Behinderungen aus der Gesellschaft und deren Subsystemen wie Schule oder Arbeitsmarkt gekennzeichnet. Bezogen auf Menschen mit Behinderungen bedeutet Exklusion, dass ihnen keinerlei An-spruch auf Bildung zustand (Felder & Schneiders, 2016, S. 13). Weil diese Phase weder für den weiteren Verlauf dieser Arbeit noch für die gesellschaftli-che Realität von Relevanz ist, wird sie im Folgenden nicht weiter diskutiert.

18 Beginnen die nachfolgenden historiographischen Ausführungen zur Inklusionsthematisierung in Anlehnung an Sander (2003) zeitlich in etwa Ende der 1950er-Jahre, soll damit nicht in Abrede gestellt werden, dass Bestrebungen zur Beschulung von geistig behinderten, taubstummen oder blinden Menschen bereits seit dem ausgehenden 18. sowie dem beginnenden 19. Jahrhundert existieren (Tenorth, 2010, S. 17), auch wenn diese Bezüge hier – ebenso wie in Kapitel 4.2.1 – nicht explizit ausbuchstabiert werden können.

Mindestens seit Anfang den 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts existieren der Exklusion entgegenstehende Bemühungen, Menschen mit Behinderungen die Teilhabe an der Gesellschaft zu ermöglichen. Diese Gegenbewegung muss vor dem Hintergrund ihrer historischen Entwicklung verstanden werden, sie

„wandte sich gegen den Versuch, die mit der Industrialisierung entstandene so-ziale Frage über Institutionalisierung derjenigen zu lösen, die den modernen Anforderungen der entstehenden kapitalistisch orientierten Leistungsgesell-schaften nicht entsprechen konnten“ (Stein, 2008, S. 74). Eine erste Phase die-ser Bemühungen wird in der Regel mit dem Begriff der Segregation bezeich-net. Nach Merz-Atalik (2008, S. 13) war in diesem Kontext bis in die 1970er Jahre das Paradigma der Differenzierung und der Homogenisierung für die Be-hindertenpädagogik handlungsleitend. Entlang allgemeiner, gesellschaftlicher Differenzierungstendenzen erfuhr auch die Behindertenpädagogik eine zuneh-mende Differenzierung. Den Besonderheiten bzw. dem besonderen Förderbe-darf einzelner Schülerinnen und Schüler wurde begegnet, indem immer diffe-renziertere Schulformen und Ausbildungsgänge geschaffen wurden. Getragen wurde diese homogenitätsorientierte Segregation durch spezialisierte Pädago-ginnen und Pädagogen und das Bemühen, homogene und kleine Leistungsgrup-pen zu schaffen (Fediuk & Hölter, 2003b, S. 22). Felder und Schneiders (2016, S. 14) weisen in diesem Kontext darauf hin, dass sich „das Leitmotiv ‚Segre-gation‘ in Form von Förderschulen […] erst in den letzten Jahren zu einer ne-gativ besetzten Kategorie entwickelt“ hat und ursprünglich das Ziel verfolgt wurde, die „Schwachen zu stärken und zu ermächtigen(‚empower‘) und sie nicht zu unterwerfen und zu unterdrücken“ (Felder & Schneiders, 2016, S. 14).

Verband sich mit den konzeptionellen Ansätzen zur Segregation in diesem Sinne die Hoffnung nach einer stärkeren Individualisierung, nach einer besse-ren Diffebesse-renzierung des Unterrichts und nach einer effizientebesse-ren Förderung, als es in der Regelschule für möglich erachtet wurde, ist zu betonen, dass es im Kontext der Segregation nicht darum ging, Menschen mit Behinderungen aus der Gesellschaft auszuschließen. Zu erwähnen ist in diesem Kontext allerdings auch, dass sich in der Folge dieses Ansatzes – im offensichtlichen und eklatan-ten Gegensatz zu der ineklatan-tendiereklatan-ten Wirkung – häufig eine „durchgängig beson-der(nd)e Lebensbiografie: Sonderkindergarten ➔ Sonderschule ➔ Werkstatt für behinderte Menschen ➔ Wohnheim“ (Frühauf, 2008, S. 16; Hölter, 2008, S. 97) entwickelt hat.

„Integration bleibt in dieser Phase (der Segregation, MG) letztlich eine eher un-verbindliche freiwillige ‚Spielwiese‘ im Vergleich zu der für das Wohl behin-derter Menschen eigentlich für bedeutsam erachteten Förderung in Sondersitua-tionen“ (Frühauf, 2008, S. 15).

Die Gesamtschuldebatte, die Ende der 1960er Jahre beginnt und die schulpoli-tische Diskussion wesentlich mitbestimmt, wird allgemein als erster grundsätz-licher Bruch „mit dem Dogma der erfolgreicheren Förderung von Leistung in homogenen Lerngruppen, respektive segregativen Schulstandorten“ (Merz-A-talik, 2008, S. 13) gesehen. Dabei galt allerdings weiterhin unhinterfragt, dass alle Schülerinnen und Schüler trotz unterschiedlicher Lernausgangslagen ziel-gleich unterrichtet werden sollten.

Mitte der 1970er Jahre kamen zunehmend zieldifferente Integrationsmodelle auf, die der Unterschiedlichkeit der Schülerinnen und Schüler auch in ihren Zielvereinbarungen Rechnung trugen.19 Für die Behindertenpädagogik bedeu-tete dies gleichzeitig den Übergang zum Paradigma der Integration, wobei der Übergang keineswegs einstimmig vollzogen wurde. Rückblickende Darstellun-gen der damaliDarstellun-gen Debatten betonen im GeDarstellun-gensatz dazu vielmehr einhellig die große Emotionalität, mit der diese Debatten beispielsweise unter dem Dach der Lebenshilfe geführt wurden (Frühauf, 2008, S. 17; Müller-Erichsen, 2008, S. 267). Kleinster gemeinsamer inhaltlicher Nenner dieser Debatten war das Bestreben von Betroffenen, Eltern und Fachleuten, die oben geschilderte Ein-dimensionalität der Lebenswege behinderter Menschen aufzubrechen und wei-testgehend selbstbestimmte Wahlfreiheiten zu ermöglichen.

Betont Rohrmann (2014, S. 162) wiederholt, dass – ohne dafür allerdings den Inklusionsbegriff verwendet zu haben – die Idee der Inklusion mindestens bis ins 17. Jahrhundert zurückverfolgt werden kann, wird der Integrationsbegriff

19 Zu nennen wären hier in erster Linie die bekannten Schulversuche an der Fläming- und der Uckermarkschule in Berlin. In Folge des Besuchs erster integrativer Kindertagesstätten entstand bei Betroffenen und Eltern die Forderung nach der Fortführung dieser Ansätze in den Grundschulen, und es entstanden Mitte der 1970er Jahre vereinzelt erste Integrationsklassen an staatlichen Regelschulen. „So auch eine Gruppe des Kinderhauses Friedenau inklusive zweier Kinder mit Lernbeeinträchtigung und einem Kind mit Down-Syndrom, welche 1976 an der Flämingschule (eine staatliche Grundschule in Berlin) eingeschult wurde und damit die erste offiziell dokumentierte zieldifferente Integrationsklasse in der Bundesrepublik dar-stellte. In der Folge startete an der Uckermarkschule (1982) ein Schulversuch zur wohnortnahen Integra-tion; die Schule nahm alle Kinder des Einzugsgebiets – unabhängig von der Art und dem Grad der Behin-derung – auf und war somit die erste Schule in Deutschland, die dem Anspruch, ‚eine Schule für alle’ zu sein, nahe kam. Beide Schulstandorte gelten als Urheber bzw. als Modell für die heute bestehenden Klas-senfrequenzmodelle in Integrationsklassen (15+5 = Flämingmodell; 20+2 = Uckermarkmodell) und gehen weit über das Land Berlin hinaus“ (Merz-Atalik, 2008, S. 14).

ab Mitte der 1990er Jahren vor allem in Folge internationaler bildungspoliti-scher Entwicklungen zunehmend vom Begriff der Inklusion verdrängt (vgl.

Kap. 2.1.1). Im angloamerikanischen Raum wurden dabei „zuvor verwandte Begriffe für den gemeinsamen Unterricht von Kindern mit und ohne Beein-trächtigung, wie Mainstreaming oder Integration“ (Merz-Atalik, 2008, S. 24) sogar gänzlich von dem Begriff der Inklusion abgelöst.

Für den deutschsprachigen Raum muss – auch im Kontext der Behindertenpä-dagogik – allerdings eine deutliche Diskrepanz zwischen der prosperierenden, bisweilen sogar omnipräsenten und damit auch inflationären Verwendung des Inklusionsbegriffs einerseits und dessen insuffizienter theoretischer Klärung bzw. dessen uneinheitlicher Verwendung andererseits konstatiert werden. In-klusion ist dabei bis dato ungebrochen en vogue und kaum eine aktuelle behin-dertenpädagogische Veröffentlichung scheint ohne einen Verweis auf diese Thematik auszukommen (Haeberlin, 2007). Die uneinheitliche Verwendung und die divergierenden Bedeutungskonstrukte, die mit dem Inklusionsbegriff verbunden werden, kumulieren letztendlich darin, dass bis dato keine einheit-liche Definition des Begriffs vorliegt, oder sind – je nach Perspektive – dessen Folge (Ahrbeck, 2014a, S. 7; Felder & Schneiders, 2016, S. 30; Musenberg &

Riegert, 2015, S. 13).

So wird auch die Frage, welche inhaltliche bzw. konzeptionelle Weiterentwick-lung mit der Ablösung des Integrationsbegriffs durch den Inklusionsbegriff im deutschsprachigen Raum verbunden ist, kontrovers diskutiert, was nach Moser (2012) auch wissenschaftspolitisch verursacht ist, „in dem ein Streit darüber entbrannt ist, ob Inklusion Integration ablösen sollte, Inklusion gegenüber In-tegration etwas qualitativ oder quantitativ anderes sei oder ob InIn-tegration eine z. T. nur unzureichende Praxis einer besseren Idee war“ (Moser, 2012, S. 8).

So merkt beispielsweise Stein (2008) kritisch an, dass beide Begriffe „häufig als Gegensatzpaar formuliert bzw. der Integrationsbegriff als der zu überwin-dende, der Begriff der Inklusion als der weiterführende bezeichnet“ (Stein, 2008, S. 78) wird, wobei nach ihrer Ansicht allerdings gar keine „theoretisch begründete Notwendigkeit der Ablösung des Integrationsbegriffs durch den der Inklusion“ (Stein, 2008, S. 81) bestünde.

Wilhelm (2009), die sich explizit als eine Vertreterin des Inklusionsgedankens bezeichnet und dieses Thema auch in die Regelschule tragen möchte, verwen-det gerade deshalb im Titel ihres 2009 erschienenen Buches weiterhin den „bis-her umfassender eingeführten Begriff »Integration«„ (Wilhelm, 2009, S. 13).

Gänzlich unübersichtlich wird die terminologische Situation, wenn Frühauf (2008) die synonyme Verwendung der beiden Begriffe brandmarkt und kritisch anmerkt, dass beide Begriffe in einer Vielzahl von Beispielen „wie selbstver-ständlich wechselweise benutzt [werden, MG], als seien die ihnen zu Grunde liegenden Handlungsansätze in ihrem inhaltlichen Aussagegehalt quasi iden-tisch“ (Frühauf, 2008, S. 11). Und Haeberlin (2007) attestiert der Behinderten-pädagogik in diesem Zusammenhang kritisch neben einem Hang zu Abgren-zungsstrategien „im Kampf um Prestige auch die Strategie des Wortverschlei-ßes. Gierig werden neue Wörter aufgesogen, mit deren Verwendung man „in“

zu sein hofft […] und für den Kampf um Erhaltung und Vergrößerung der Re-viergrenzen instrumentalisiert und kapitalisiert“ (Haeberlin, 2007, S. 254).

In diesem Sinne existiert bis dato weder eine einheitliche Definition des Inklu-sionsbegriffs noch lässt sich eine allgemein anerkannte Abgrenzung zum In-tegrationsbegriff formulieren. Im Bestreben zumindest für diese Arbeit ein lei-tendes Inklusionsverständnis zu entwickeln, wird im Folgenden in Anlehnung an Ahrbeck (2014a), an Brodkorb (2012) oder auch an Felder und Schneiders (2016, S. 30) zwischen einem radikalen und einem moderaten Inklusionsver-ständnis unterschieden.

Ein totales, holistisches bzw. radikales Inklusionsverständnis zeichnet sich in pädagogischen Kontexten dadurch aus, dass es keinerlei Ausnahme für die gemeinsame Beschulung aller Schüler geben kann, im Sinne der Dekategori-sierung auf jegliche klassifizierende Zuschreibung zu verzichten ist (vgl. Kap.

2.1.2), Bildungsstandards und Leistungsbewertungen als grundsätzlich diskri-minierend betrachtet werden und Kritik an solchen Überlegungen auf morali-scher Ebene als Verstoß gegen ein Menschenrecht interpretiert wird. Auch wenn Tenorth (2013, S. 36) kritisch in Frage stellt, „woher der frische Mut stammt, unter der Fahne der Inklusion jetzt alle Probleme bewältigen zu kön-nen, die sich nach historischer Erfahrung bei allen Reformen als resistent er-wiesen haben“, sehen radikale Inklusionsbefürworter in der Inklusion den (be-hinderten-)pädagogischen „Olymp der Entwicklung“ (Wocken, 2012, S. 72) o-der gar einen „Grenzstein […] zum Übergang in eine neue Welt“ (Dreher, 2012, S. 30). Kritikern werden Bestrebungen zur Abschaffung eines fundamen-talen Menschenrechts unterstellt, weil vielmehr die Menschenrechte als die Sonderschulen zu retten seien (Wocken, 2011).

Spricht beispielsweise Ackermann (2010b, S. 243) im Kontext der Bestrebun-gen um Totalinklusion explizit von Inklusions-Kitsch, „der zugunsten der Har-monisierung die tatsächlichen Differenzen verdeckt und diese gar nicht erst sichtbar werden lässt“, mag diese kurze thematische Einlassung bereits zeigen, dass die Diskurse um das „richtige“ Inklusionsverständnis und die Kritik an einem radikalen bzw. holistischen Inklusionsverständnis bisweilen überaus kontrovers, binär und emotional geführt werden und nicht Gegenstand der wei-teren Ausführungen sein können.20

Im Gegensatz zu einem solchen Inklusionsverständnis wird in dieser Arbeit in Anlehnung an Ahrbeck (2014a, S. 7) sowie (Felder & Schneiders, 2016, S. 30) ein gemäßigtes und approximatives Verständnis von moderater bzw. verant-wortungsvoller Inklusion verfolgt, „das bescheidener auftritt, das Bisherige stärker wertschätzt und Schritt für Schritt die Lebens- und Lernsituationen von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung verbessern möchte. Im Hinblick auf eine stärkere Partizipation und Teilhabe und vor allem auch dadurch, dass eine Förderung auf einem höheren Niveau als bisher ermöglicht wird“.

Versuchen wir vor dem Hintergrund dieser einordnenden Hinweise einen kleinsten gemeinsamen Nenner bei der Verwendung des Inklusionsbegriffs in dieser Arbeit zu formulieren, dann kann dieser zumindest an zwei Aspekten festgemacht werden:

- Zum einen nimmt der Inklusionsgedanke die grundsätzliche Heterogenität aller Menschen in den Blick, erklärt diese zu einem wertfreien, gesell-schaftlichen Faktum und leitet daraus die Notwendigkeit ab, dass sich – stärker als bisher – die Institutionen unserer Gesellschaft an die Menschen anpassen müssen und nicht umgekehrt.

20 Die quasi omnipräsente Verwendung des Inklusionsbegriffs für alle Formen gesellschaftlicher

20 Die quasi omnipräsente Verwendung des Inklusionsbegriffs für alle Formen gesellschaftlicher