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3.5 E XKURS : E XKLUDIERENDE P RAXEOLOGIEN

3.5.3 Psychomotorik

Wurden bereits Ansätze diskutiert, die sich durch einen Verzicht oder zumin-dest durch eine Relativierung des Fertigkeitsanspruchs im Sport- und Bewe-gungsunterricht auszeichnen, soll in diesem Kapitel stellvertretend für solche Konzeptionen der Ansatz der Psychomotorik kritisch in den Blick genommen werden (vgl. Kap. 2.4.2). Die Einordnung der Psychomotorik in den Bereich sog. offener Aktivitätstypen folgt dabei der Zuordnung, die von Tiemann (2016) im Rahmen ihrer Strukturierungsbemühungen im Kontext der Inklusionsdebat-ten in der Sportdidaktik vorgenommen wurde.

Das Vorhaben, den Ansatz der Psychomotorik überhaupt auf immanente Inklu-sionshemmnisse hin zu untersuchen, ist dadurch begründet, dass gerade der Psychomotorik im Kontext der Thematisierung von Inklusion in der Sport- und Bewegungspädagogik häufig eine besonders hohe Eignung zur Realisierung inklusiver Ansprüche zugesprochen wird (Eggert, 1994a; Hölter, 2008, S. 107;

Schache, 2012; Thiele, M., 2003, S. 45; Zimmer, 2014). Allerdings ist auch an dieser Stelle zu konstatieren, was bereits für die Frage nach der Eignung der Mehrperspektivität oder für die Frage nach dem generellen inklusiven Potential des Sports formuliert wurde, dass für diese Hochschätzung der Psychomotorik als adäquates Werkzeug zur Realisierung eines inklusiven Sport- und

Bewe-gungsunterrichts bisher – jenseits unsystematischer Einzelbeiträge oder norma-tiver Bekundungen – keinerlei elaborierte konzeptionelle, grundlagentheoreti-sche oder empirigrundlagentheoreti-sche Belege vorliegen.

Die Hochschätzung der Psychomotorik in inklusiven Bildungskontexten wird, worauf bereits in Kapitel 2.4.2 verwiesen wurde, üblicherweise dadurch be-gründet, dass sich Schülerinnen und Schüler in psychomotorischen Bewe-gungsangeboten in der Regel eigenständig individuell passende Herausforde-rungen suchen und sich dadurch quasi von selbst – insbesondere auch für Schü-lerinnen und Schüler mit Behinderungen – günstige Lehr-Lerngelegenheiten ergeben. Diese Argumentationsfigur folgt der bereits im Kontext der Integrati-onspädagogik bemühten Annahme (Doll-Tepper, 1992), dass die impliziten Leitlinien der Psychomotorik „in fast idealer Weise den didaktischen und me-thodischen Zielen der Integrationspädagogik“ (Eggert, 1994a, S. 39) entspre-chen würden:

„Individualisierung des Lernprozesses, Anregung zu eigenen Lernwegen, Expe-rimentieren und Verändern sowie Spaß am Lernen und Binnendifferenzierung sind auch die impliziten Leitlinien der Motopädagogik. Deshalb empfiehlt sich Motopädagogik besonders als Unterrichtsprinzip des integrativen Unterrichtens [kursiv i. O.]. Vor allem die starke Betonung des kommunikativen Aspekts ist ohne weiteres übertragbar auf integrative Prozesse“ (Eggert, 1994b, S. 74).

Im Grunde analog wird dieses Narrativ auch von Zimmer (2014, S. 30) in Be-zug auf Inklusion verwendet:

„Im Kontext der Bedeutung der Bewegung für die Umsetzung der Inklusion in der frühkindlichen Bildung ist insbesondere der Ansatz der Psychomotorik her-vorzuheben. Die Psychomotorik vertritt seit jeher einen Ansatz, der in seiner Grundhaltung ‚inklusiv‘ ausgerichtet ist. Es zeichnet die Psychomotorik aus, dass sie wertschätzend und offen jedem Kind begegnet und dessen individuelle Voraussetzungen respektiert. Durch die Individualisierung, auch durch die Ein-beziehung des sozialen Kontextes hat die Psychomotorik das Ziel, jedes Kind so anzunehmen und individuell zu fördern, wie es ist.“69

69 Diese Textstelle stammt aus dem Einführungsbeitrag zu einem Tagungsband, der den in Osnabrück veran-staltet Kongress mit dem Titel Inklusion bewegt – Herausforderungen für die frühkindliche Bildung doku-mentiert. Wie bereits für den allgemeinen Forschungsstand in der Sportdidaktik in Kapitel 2.4.2 dargestellt, folgt auch dieser Tagungsband der kolportierten Theorieferne sowie der Praxisfixierung, da in erster Linie praktische Beispiele dokumentiert werden und eine elaborierte, grundlagentheoretische Auseinanderset-zung mit der Frage nach der Passung zwischen Inklusion und Psychomotorik weitestgehend ausbleibt bzw.

angedeutet wird. In Bezug auf die zitierte Textstelle wäre mit Musenberg und Riegert (2015, S. 17) viel-mehr nachzufragen, ob „didaktische Ansprüche an einen inklusiven Unterricht mit dem Verweis auf re-formpädagogische Unterrichtsprinzipien und Intuitionen (z. B. vom Kinde aus, handlungsorientiert und anschaulich, lebensnah und projektbezogen, individualisierend und differenzierend) schon realisiert“ sind oder ob es sich dabei nicht doch eher um unzulängliche Problemverkürzungen handelt.

Unabhängig von der Frage, ob die Psychomotorik überhaupt als ein eigenstän-diger didaktischer Ansatz im Unterrichtsfach Sport bzw. im Kontext einer in-klusiven Fachdidaktik gelten kann, sollte das bisher Gesagte dafür sensibilisie-ren, dass gegenüber dieser weitestgehend unkritischen Inanspruchnahme der Psychomotorik für Inklusionsprozesse kritisch entgegenzuhalten ist, was Thiele (2010) zu bedenken gibt, dass Psychomotorik zwar in besonderer Weise die (Binnen-)Differenzierung fördert, „Differenzierung allein […] aber noch keineswegs zur Begegnung oder zu Kooperation und in der Konsequenz auch nicht zu sozialer Integration“ (Thiele, M., 2010, S. 45) führt. Zudem bleibt un-beachtet, dass, wie im vorangehenden Kapitel diskutiert, auch der Verzicht bzw. die Relativierung der Fertigkeitsorientierung ein exkludierendes Potential entfalten kann.

Darüber hinaus bleibt als grundlegende Kritik zu fragen, wie der psychomoto-rische Umgang mit Schülerinnen und Schüler zu denken ist, die, aus welchen Gründen auch immer, nicht in der intendierten Art und Weise in der Lage dazu sind, sich in den offenen Angeboten selbständig, selbstbestimmt und autonom zu orientieren. Ohne diese Argumentation hier im Einzelnen ausbuchstabieren zu können, soll an dieser Stelle auch für die Psychomotorik kritisch in Frage gestellt werden, ob bzw. in wieweit nicht auch hier immanente und romantisie-rende Phantasmen einer möglichst unbeschädigten Leiblichkeit und einer indi-viduell verfügbaren kognitiven Leistungsfähigkeit wirksam sind. Die These von Waldschmidt (2012, S. 23), „dass eine Einteilung der Menschen je nach ihrem Autonomievermögen existiert“ und dadurch selbstverständlich auch Dis-kriminierungsprozesse immanent, unreflektiert und unbemerkt zur Aufführung gebracht werden, bleibt unbeachtet.

Ohne damit im Rahmen dieser knappen Überlegungen ein Urteil über die grundsätzliche Eignung der Psychomotorik für bewegungsorientierte inklusi-ven Bildungssettings fällen zu können, ergibt sich eine zusätzliche Problematik auch dadurch, dass sich – besonders im Zusammenspiel mit den Formen der Selbstdifferenzierung – in leistungsheterogenen Gruppen „eine Tendenz zur Orientierung an einem einzigen Leistungsniveau ausbilden (und zwar in der Grundschule besonders häufig an einem niedrigen Leistungsniveau)“ kann (Kleindienst-Cachay, Frohn & Kastrup, 2016, S. 21). Eine solche Orientierung führt zwangsläufig zu einer Unterforderung vieler Schülerinnen und Schüler.

Zudem erweist sich der Anspruch der Bewertungsvermeidung und ggf. auch

die Gruppengröße als problematisch in schulischen Settings (Klein, D., 2016, S. 55).

Insgesamt bleibt in Bezug auf die Psychomotorik somit zu konstatieren, dass selbstkritische und grundlagentheoretische Überlegungen im Kontext der psychomotorischen Inklusionsthematisierung bisher unterbelichtet zu sein scheinen und von daher mehr Bescheidenheit bei der Formulierung einer psychomotorischen Wirkungsmächtigkeit in inklusiven Kontext angeraten er-scheint.