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Bildungsstandards und Kompetenzorientierung

3.4 B ILDUNGSDIDAKTISCHE D EKONSTRUKTIONEN

3.4.4 Bildungsstandards und Kompetenzorientierung

Auch wenn sicherlich zu konstatieren ist, dass zu der aktuellen curricularen Leitidee der Kompetenzorientierung bisher keine tragfähige fachdidaktische Konzeption existiert und „dass sich Lehrplankommissionen bislang nicht auf ein überzeugendes fachspezifisches Kompetenzmodell stützen konnten“

(Stibbe, 2013, S. 33), kann bzw. darf nicht übersehen werden, dass etwa seit der Jahrtausendwende auch dem Unterrichtsfach Sport – obwohl selbst gar nicht Gegenstand internationaler, schulischer Leistungsvergleichsstudien –

„schlanke, standardorientierte Kernlernpläne, die ausschließlich die Ergebnisse des Unterrichts bei den Schülerinnen und Schülern im Fokus haben“ (Asche-brock, 2013, S. 69) durch kultusministeriale Vorgaben verordnet sind.

An dieser bildungspolitischen Setzung hat bisher und wird – aller Voraussicht nach – auch mittel- bis langfristig die skeptische Rezeption sowie die breite fachwissenschaftliche Kritik nichts ändern (u. a. Bockrath, 1998; Franke, 2008;

Prohl, 2012a, S. 85; Prohl & Krick, 2008; Stibbe, 2011a; Thiele, J., 2012). Nach Aschebrock (2013, S. 71; auch Aschebrock & Stibbe, 2008) impliziert die Do-minanz der Kompetenzorientierung vor allem die folgenden vier Problembe-reiche, die hier nur benannt, aber nicht weiter referiert werden, wofür auf die zitierte Literatur verwiesen wird: das Legitimationsproblem, das Reduktions-problem, das Differenzierungsproblem und das Konstruktionsproblem. Zudem bestehe die Gefahr, „sich bei der Formulierung von Standards im Fach Sport vom pädagogischen Gesamtkonzept eines erziehenden Sportunterrichts zu ver-abschieden und Sportabzeichenprüfungen, Fitnessstandards und motorische Fertigkeitstest als Kriterien für das fachspezifische Bildungsniveau heranzuzie-hen“ (Aschebrock, 2013, S. 70).

Ähnlich kritisch beurteilt auch Prohl die Kompetenzorientierung und verweist unter Bezugnahme auf die Debatte um die Curriculumtheorie in den 1970er Jahren darauf, „dass hier ganz offensichtlich ein Weg beschritten wird, der das Fach Sport schon einmal in die Irre geführt hat“ (Prohl, 2012a, S. 86).

„Mit der aktuellen Einführung von Bildungsstandards für den Sportunterricht drohen pädagogisch relevante Aufgaben des Sportunterrichts abermals aus dem Blick zu geraten, indem die ausschließliche Fokussierung auf den ‚Lernoutput‘

gleichsam eine ‚Halbierung‘ des Doppelauftrages zur Folge hat. Aus diesem Grund wird der Einführung von Bildungsstandards in der Sportdidaktik gegen-wärtig mit großer Skepsis begegnet bzw. gänzlich abgelehnt“ (Prohl, 2012a, S. 87).

In dieser diffizilen Gemengelage aus fachwissenschaftlicher Gegenrede, bil-dungspolitischer Setzung und vor dem Hintergrund eines gleichzeitig gegebe-nen, umfangreichen Beratungsbedarf in der schulischen Praxis kommt insbe-sondere Gogoll (u. a. 2010, 2011, 2012, 2013, 2014; vgl. auch Gogoll & Kurz, 2013), aber auch Kurz (2008; vgl. auch Kurz & Gogoll, 2010) oder Stibbe (2011b) das Verdienst zu, sich differenziert und nachhaltig mit der Frage aus-einanderzusetzen, „ob und unter welchen Bedingungen Kompetenzen als indi-viduelle Voraussetzungen für Bildungsmöglichkeiten im Lernbereich ‚Bewe-gung, Spiel und Sport‘ angesehen werden können“ (Stibbe, 2013, S. 33).

Um dabei einen – wie oben kolportiert – „bildungsbezogenen Reduktionismus zu vermeiden“ (Gogoll & Kurz, 2013, S. 82), weisen die Autoren unter Rück-griff auf die sog. „Klieme-Expertise“ darauf hin, dass sich auch Bildungsstan-dards und Kompetenzmodelle selbstverständlich an den allgemeinen Bildungs-zielen des Faches zu orientieren haben und dass sich daraus die Forderung ergibt, „die jeweiligen Vorstellungen über die allgemeinen Bildungsziele des Faches, an denen diese Prüfung vorgenommen werden kann, offenzulegen“

(Gogoll & Kurz, 2013, S. 82). In diesem Sinne argumentieren die Autoren (auch Gogoll, 2013, S. 10), dass es gerade im Lernbereich Bewegung, Spiel und Sport sinnvoll erscheint und zudem in der Tradition des Faches verwurzelt sei, die fachlichen Bildungsziele an das Handeln des Individuums, an seine Hand-lungsfähigkeit, zu knüpfen. Diese Handlungsfähigkeit der Schülerinnen und Schüler beschränkt sich dabei nicht nur auf das aktive sportliche Handeln selbst, sondern auch „auf den Grad an Selbstbestimmtheit und Verantwortlich-keit, mit der sie sport- und bewegungsbezogene Handlungsentscheidungen in, neben und nach der Schule treffen und umsetzen können“ (Gogoll & Kurz, 2013, S. 84).

Um diese Überlegungen für ein operationalisierbares Kompetenzmodell des Lernbereichs Bewegung, Spiel und Sport nutzbar machen zu können, argumen-tieren Gogoll und Kurz, dass die – zweifellos plausible – Grundannahme, dass sich sportliche Bildungsresultate zuvörderst auch im praktischen Handeln der Menschen zeigen, auch zu gewissen „Erwartungen an das Handeln von Men-schen im Bereich Sport und Bewegung“ (Gogoll & Kurz, 2013, S. 84) führen.

Zentral erscheint dabei vor allem, dass das sportliche Handeln auf Basis von verstandes- und vernunftbasierten Orientierungsleistungen erfolge (Gogoll, 2013, S. 14). In diesem Sinne plädieren die Autoren für ein dreistufiges Modell

der Thematisierung von Unterrichtsinhalten, das mit drei qualitativ unter-schiedlichen Niveaustufen von Lernergebnissen bei den Schülern korreliert (Gogoll, 2013, S. 20; Gogoll & Kurz, 2013, S. 87):

a) Erkunden: Auf der ersten Stufe geht es um das sportliche Handeln selbst und um das Verbessern von motorischen und ggf. auch motivationalen Eigenschaften.

b) Sachlich-reflexives Erschließen: Auf der zweiten Stufe geht es über das sportliche Handeln hinaus, darum, Wissen zu vermitteln, das es den Schü-lerinnen und Schülern ermöglicht, eigenständig und sachkompetent sport-liche Fertigkeiten zu verbessern.

c) Intentional-reflexives Erschließen: Auf der dritten Stufe geht es darum, mit diesem Wissen reflektiert umzugehen und beispielsweise die Rele-vanz einzelner sportlicher Handlungsfelder vor dem Hintergrund der ei-genen Lebenssituation bewerten zu können.

Für die eigene Fragestellung ist dabei von besonderer Bedeutung, dass Gogoll und Kurz (2013, S. 89) explizit darauf hinweisen, dass der Sportunterricht erst dann das volle pädagogische Potential des Faches ausschöpfe bzw. erst dann zur Bildung beitrage, „die nun auch die Fähigkeit zur Selbstbestimmung ein-schließt […], wenn der Unterricht auch die zweite und die dritte Stufe erreicht“.

Die hohe Bedeutung, die in diesem Ansatz kognitiven bzw. intellektuellen An-teilen zukommt, ist – wie bei den in den vorangehenden Kapitel diskutierten sportdidaktischen Ansätzen auch – evident und wird von Gogoll selbst betont, wenn er von komplexen Übersetzungsleistungen spricht, bei denen Schülerin-nen und Schüler „sportbezogene Erfahrungen zu mehr oder minder abstrakten Wissensstrukturen verdichten, die sie anschließend wiederum für ihr eigenes sportpraktisches Handeln einsetzen können“ (Gogoll, 2013, S. 16). Den dekla-rierten Bildungszielen auf den anzustrebenden Ebenen 2 und 3 liegt damit al-lerdings die Grundannahme zu Grunde, dass Schülerinnen und Schüler auch verstandes- und vernunftorientiert handeln können und wollen. Beide Aspekte können auf Grund unterschiedlicher Ursachen und dazu kann u. U. auch eine Behinderung gehören, jedoch keinesfalls als gegeben vorausgesetzt werden.

Die referierten Überlegungen implizieren unter der Perspektive der Disability Studies problematische Umkehrschlüsse, die hier in konstruktiver Absicht kri-tisch gespiegelt werden sollen: So ist beispielsweise zu fragen, ob Menschen, die auf Grund einer sprachlichen, einer geistigen oder einer Lernbehinderung

reduzierte verstandes- und vernunftorientierte Leistungen zeigen, was im refe-rierten Stufenmodell u. U. defizitäre Bildungsergebnisse auf den Stufen 2 und 3 impliziert, dadurch von vornerein vom Bildungserfolg ausgeschlossen wer-den bzw. als weniger bildungsfähig deklariert werwer-den müssen. Die Rückfrage lässt sich noch weiter zuspitzen, indem gefragt wird, ob Menschen, die auf Grund einer schweren Mehrfachbehinderung nur zu rudimentären Verstandes- und Vernunftleistungen in der Lage sind und deshalb ggf. nicht einmal auf Stufe 1 Bildungserfolge erbringen können und die geforderten Übersetzungs-leistungen auf den Stufe 2 und 3 aber keinesfalls erreichen werden, dadurch grundsätzlich vom Bildungserfolg ausgeschlossen werden bzw. als nicht bil-dungsfähig zu deklarieren sind. Und was ist mit Menschen mit einer schweren körperlichen Behinderung, die zwar auf Stufe 1 keine Leistungserfolge erbrin-gen können, auf den Stufen 2 und 3 allerdings gute Leistunerbrin-gen erbrinerbrin-gen kön-nen. Gibt es in diesem Sinne eine Genealogie der Stufenfolge? Was bedeutet es, wenn Menschen, die sich in einem Rollstuhl bewegen nur partiell an den Leistungszielen der Stufe 1 teilhaben können. Erwächst daraus eine qualitative andere Form der Bildung im Sport?

Mit diesen kritischen Rückfragen sollen die elaborierten Überlegungen zu Bil-dungsstandards und zur Kompetenzorientierung im Lernbereich Bewegung, Spiel und Sport nicht grundsätzlich zurückgewiesen werden und es soll auch nicht in Abrede gestellt werden, dass sich die Differenzlinie Behinderung mög-licherweise in die Modellierung integrieren lässt. Es geht vielmehr darum auf-zuzeigen, dass die Differenzlinie Behinderung auch in diesem Ansatz – zumin-dest bisher – stillschweigend außerhalb des intendierten Wirkungskreises des Modells liegt. Kritischer formuliert ist auch diesem Ansatz zu attestieren, dass er geeignet erscheint, ein exkludierendes Potential in Bezug auf Menschen mit Behinderungen zu entfalten, was unter der Vorgabe einer inklusiven Sport- und Bewegungspädagogik nicht akzeptabel erscheint.

Unter der Perspektive der eigenen Fragestellung erscheint zudem besonders diskussionswürdig, dass sich Gogoll und Kurz (2013, S. 82) auf ein „prakti-sches“ Bildungsverständnis nach Zirfas (2011) beziehen, der an anderer Stelle – explizit mit Blick auf die Differenzlinie Behinderung – darauf hinweist, dass Selbstbestimmung eben gerade nicht an komplexe kognitive Abstraktionsleis-tungen gebunden werden könne, weil „hiermit doch oftmals sehr umfangreiche Rationalitäts- und Reflexivitätsansprüche verbunden [sind, MG], die von vie-len Menschen kaum eingelöst werden können“ (Zirfas, 2012, S. 80).

3.4.5 Zwischenfazit: Die Fachdidaktik Sport und ihr exklusives