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Didaktik der Bewegungsbildung im Horizont allgemeiner Bildung

3.4 B ILDUNGSDIDAKTISCHE D EKONSTRUKTIONEN

3.4.2 Didaktik der Bewegungsbildung im Horizont allgemeiner Bildung

Prohl (2012b) kommt in Folge einer diachronen Erörterung dominierender sportdidaktischer Strömungen im deutschen Sprachraum seit den 1950er Jah-ren bis in die Gegenwart zu dem Schluss, „dass deJah-ren pädagogische Leitideen keine dauerhafte didaktische Orientierung des Sportunterrichts gewährleisten konnten, weil sie nicht in der Lage waren, formale und materiale Bildungsdi-mensionen des Sportunterrichts zu integrieren“ (Prohl, 2012b, S. 67). Eine zeit-gemäße Sportdidaktik, die sich in einer demokratisch verfassten Gesellschaft verortet und dieser verpflichtet fühlt, muss es vor diesem Hintergrund aber ge-rade gelingen, den Graben zwischen formaler und materialer Bildung zu über-winden.

„In dieser Dialektik zwischen den Sinn der Sache der Bewegungskultur finden lassen (Bewegungsbildung) und eine demokratische Persönlichkeit sich entwi-ckeln lassen (allgemeine Bildung) ist der Doppelauftrag des Erziehenden Sport-unterrichts angesiedelt“ (Prohl, 2012a, S. 71).

56 Die grundsätzliche und interdisziplinäre Frage, wie die Bildsamkeit von Menschen mit einer geistigen Be-hinderung in der zuständigen Fachwissenschaft – der Geistigbehindertenpädagogik – diskutiert wird, wird in Kapitel 3.4.5 weiterverfolgt.

Anzumerken ist in diesem Zusammenhang, dass Prohl die pragmatische Sport-didaktik, wie sie in Kapitel 3.4.1 beschrieben ist, im Gegensatz zu den Syste-matisierungsversuchen von Stibbe (2013) und Balz (2013) explizit nicht als eine intermediäre Brücke zwischen formaler und materialer Bildung betrachtet, sondern sie vielmehr im Bereich einer pragmatisch-qualifikatorischen Strö-mung verortet, die er tendenziell der materialen Bildung zuordnet (Prohl, 2012b, S. 58).

Gleichwohl gelingt es Prohl, eine elaborierte, zeitgemäße bildungstheoretische Begründung eines erziehendenden Sportunterrichts zu entwickeln (Stibbe, 2013, S. 39), wie sie u. a. von Thiele (2001) oder auch von Böcker (2010) an-gemahnt wird, indem er Bewegungsbildung als einen relationalen Prozess in-terpretiert, der in Anlehnung an die Bildungskonzeption von Klafki (2007) die Idee einer Bewegungsbildung mit dem Anspruch einer allgemeinen Bildung explizit verbindet und dafür die griffige Formel der „Bewegungsbildung im Ho-rizont allgemeiner Bildung“ (Prohl, 2012a, S. 76) prägt.

Auch wenn Prohls bildungstheoretische Begründungsbemühungen als inhalt-lich plausibel zu bewerten sind und in diesem Sinne überzeugen können, sind sie aus methodologischer Perspektive zu problematisieren: So gewinnt Prohl die Legitimation für seine bildungstheoretischen Ausführungen aus dem Ver-weis auf „Klassiker der Bildungstheorie“ (Prohl, 2012a, S. 73), die er – in den Erziehungswissenschaften selbstverständlich nicht unüblich – als Gewährs-männer heranzieht. So kommen in einer gleichwohl kenntnisreichen wie au-genscheinlich beliebigen Auswahl u. a. Schleiermacher, Herbart, Hegel, Gada-mer, Fichte, Klafki, Dewey und auch Honneth zur Sprache, wobei – außer bei Klafki – im Dunkeln bleibt, wodurch genau diese Auswahl an Autoren legiti-miert ist. Da sich für quasi jede bildungstheoretische Position bekannte Ge-währsmänner in der Geschichte der Pädagogik finden lassen, erscheint es aus methodologischer Perspektive umso wichtiger, die vorgenommene Auswahl transparent und plausibel zu begründen. So bleibt beispielsweise nebulös, wie Gadamers existenzphilosophische Überlegungen umstandslos legitimatorisch neben einem Pragmatismus Deweys stehen können, was philosophiegeschicht-lich nicht unproblematisch erscheint, weil beiden Konzepten divergente anth-ropologische Grundannahmen zugrunde liegen und damit auch unterschiedli-che bildungstheoretisunterschiedli-che Implikationen zu erwarten sind (Giese, 2008a, S. 227).

Jenseits solcher methodologischer Fragen ist für Prohl eine Überwindung der Disjunktion zwischen formaler und materialer Bildung nur möglich, wenn die beiden Teilaspekte des Doppelauftrags eines erziehenden Sportunterrichts, die Erziehung zum und die Erziehung durch Sport, eben nicht als separate Teile, sondern als eine unauflösbare Einheit verstanden werden (Prohl, 2012a, S. 89).

„Vielmehr sind die Inhalte und Methoden eines im bildungstheoretischen Sinne erziehenden Sportunterrichts so auszulegen, dass im Vollzug des ästhetischen Handelns gleichzeitig (und in einem) auch die Schlüsselkompetenzen allgemei-ner Bildung (Selbstbestimmungs-, Mitbestimmungs-, Solidaritätsfähigkeit) ge-fordert und gefördert werden“ (Prohl, 2012a, S. 76).

Den entscheidenden Unterschied zwischen Prohls Entwurf eines Erziehenden Sportunterrichts und der pragmatischen Sportdidaktik sieht Stibbe (2013, S. 43) in der tiefergehenden bildungstheoretischen Legitimation des erziehen-den Sportunterrichts und in der veränderten Rolle der pädagogischen Perspek-tiven, die zwar weiterhin bestehen, aber nur noch einen allgemeinen Orientie-rungsrahmen vorgeben und explizit „nicht als eigenständige Lern- oder Erzie-hungsziele gezielt angesteuert werden“ (Prohl, 2012a, S. 90) sollen.

Prohl selbst entwickelt den Mehrwert seiner didaktischen Konzeption u. a. auch aus einer Kritik an zeitgenössischen Tendenzen der Lehrplanentwicklung im Fach Sport und lehnt in diesem Sinne Versuche der Standardisierung von Bil-dungsoutputs oder der Kompetenzorientierung als atavistisch ab (vgl. Kap.

3.4.4).

„Wie das Scheitern der Curriculumtheorie in den 1970er-Jahren gezeigt hat, ist die Hoffnung vergebens, mit neuen Begriffsschöpfungen alte Probleme beheben zu können. […] Es bedarf daher keiner seherischen Gaben um zu prophezeien, dass auch dieses Mal die neuen Begrifflichkeiten ‚Bildungsstandard‘ und ‚Kom-petenz‘ die Aufgabe der Erziehung (auf Seiten des Lehrers) und der Bildung (auf Seiten des Schülers) nicht außer Kraft setzen werden“ (Prohl, 2012a, S. 89).

Zur didaktischen Konkretisierung eines Erziehenden Sportunterrichts stellt Prohl (2012a, S. 79) drei Unterrichtsprinzipien zur Diskussion: das Prinzip der absichtlichen Unabsichtlichkeit, das Prinzip der Einheit von Lehren und Erzie-hen und das Prinzip der Gleichrangigkeit von Weg und Ziel des Unterrichtens.

Grundlage dieser Prinzipien ist die Annahme, dass Lernen niemals direkt adres-siert werden könne, sondern ausschließlich die Möglichkeit besteht, es indirekt anzuregen und dass „das Sich-entbehrlich-Machen des (Sport-)Lehrers in die-ser Hinsicht das letztgültige Ziel des erzieherischen Unterrichtens“ (Prohl, 2012a, S. 79) sei.

Diese Vorstellung erscheint aus einer behindertenpädagogischen Perspektive insofern problematisch, als dass ihr stillschweigend die Annahme zu Grunde liegt, dass die Schülerinnen und Schüler ihren Unterricht im Idealfall auch tat-sächlich selber steuern können und wollen. Schülerinnen und Schülern mit Be-hinderungen, die ohne ununterbrochene pädagogische Unterstützung beispiels-weise nicht kommunizieren können, würde in diesem Ansatz „das letztgültige Ziel des erzieherischen Unterrichtens“ auf Grund einer bildungstheoretischen Modellierung verwehrt bleiben. Problematisch erscheint diese Zielvorgabe al-lerdings auch für Schülerinnen und Schüler, die geistig nicht dazu in der Lage sind, ihre eigenen Lernprozesse selbstgesteuert zu organisieren. Unter der Per-spektive von Behinderung würde es allenfalls darum gehen können, Grenzen auszuloten, wo sich das Verhältnis zwischen notwendiger sonderpädagogischer Betreuung und Selbständigkeit in Richtung Selbständigkeit verschieben lässt, ohne dass der Lehrende dabei obsolet würde.

Vor dem Hintergrund seiner bildungstheoretischen Überlegungen entwickelt Prohl ein didaktisches Modell des Erziehenden Sportunterrichts unter Berück-sichtigung der lehrplanrelevanten Bewegungsfelder und der Pädagogischen Perspektiven (vgl. Abbildung 11), dessen identitätsstiftendes Kernelement, die Bewegungsbildung, „in den Horizont der Schlüsselqualifikationen allgemeiner Bildung (Selbstbestimmungs-, Mitbestimmungs-, Solidaritätsfähigkeit) einge-bettet ist (innerer Kreis)“ (Prohl, 2012a, S. 91).

Abbildung 11: Didaktisches Modell des Erziehenden Sportunterrichts (Prohl, 2012a, S. 90)

Für die Sportdidaktik besonders verdienstvoll erscheint in diesem Kontext, dass sich Prohl aktiv darum bemüht, die von ihm – zweifellos zu Recht – konstatierte

Vermittlungslücke zwischen der bildungstheoretischen Konzeption eines erzie-henden Sportunterrichts und „dessen konkreter Umsetzung in der didaktischen Praxis“ (Prohl, 2012c, S. 92) zu schließen (Prohl, 2004), weil der Bildungser-folge eines erziehenden Sportunterrichts nach seiner Auffassung primär davon abhängt, wie die Beziehung zwischen Gegenstand und Schülerinnen und Schü-ler in der jeweiligen Unterrichtssituation konkret gestiftet wird.

In diesem Sinne verweist Prohl unter der Perspektive kompatibler Vermitt-lungsformen der Bewegungsbildung im Horizont allgemeiner Bildung auf pri-mär induktiv strukturierte Vermittlungsformen wie den Projektunterricht, auf Unterrichtsvorhaben (Böcker, 2010; Laging, 2006b) oder auch auf das koope-rative Lernen (Bähr, 2005; Gröben, 2005), wobei er insbesondere für das ko-operative Lernen darauf hinweist, dass seine pädagogische Wirksamkeit auch empirisch gesichert sei (Prohl, 2012c, S. 104) und dass es „sich für die im en-geren Sinne unterrichtliche Umsetzung […] als besonders geeignet erweist“

(Prohl, 2012c, S. 111). Gleichwohl kommt Prohl zu dem Schluss, dass das ko-operative Lernen „unter dem Aspekt des Doppelauftrags des Erziehenden Sportunterrichts […] eine für Schüler wie Lehrer zwar anspruchsvolle, jedoch potenziell äußerst ertragreiche Vermittlungsform“ (Prohl, 2012c, S. 106) dar-stellt.

Exemplarisch illustrieren lässt sich der hohe Anspruch beispielsweise an dem Beispiel der Gruppenpuzzlemethode: „Die zentrale Annahme ist, dass Lerner sich gegenseitig helfen, weil das Gefühle der Verantwortung (im altruistischen Sinn) und der Wille, einander zu helfen, in eine Gruppenidentifikation münden, die ihrerseits wieder eine positive Interdependenz hervorruft“ (Prohl, 2012c, S. 103). Diese Methode folgt damit dem Ansatz, dass „der Bildungsbegriff ei-nen reflexiven Bedeutungsinhalt (‚sich bilden‘) [hat …, MG] und im Kern zu-tiefst selbstbezüglich“ (Prohl & Scheid, 2012, S. 19) ist. Bildung ist in diesem Sinne untrennbar daran gebunden, dass sich die Schüler – trotz der doppelten Paradoxie des schulischen Sportunterrichts – innerlich am Bildungsprozess be-teiligen (Scheid, 2012, S. 36).57

57 Unter der doppelten Paradoxie versteht Scheid (2012), zum Einen dass der schulische Sportunterricht zwar als Pflichtveranstaltung organisiert ist, die Schüler im Sportunterricht allerdings trotzdem eine subjektive Sinnerfüllung erleben sollen. Zum anderen geht es darum, dass auch die Schule selbst einerseits eine Allo-kationsfunktion zu erfüllen hat und andererseits erziehen und fördern soll.

Vor dem Hintergrund behindertenpädagogischer Wissensbestände kolportieren diese Ausführungen eine romantisierende Bildungskonzeption und lassen er-warten, dass kaum alle Schülerinnen und Schüler mit Behinderungen an einem solchermaßen konzipierten Sportunterricht teilnehmen werden können. Der hohe kognitive Anspruch, der hier formuliert wird, erscheint im Gegenteil viel-mehr dazu geeignet, potentiell zumindest Schülerinnen und Schüler aus den Förderschwerpunkten Lernen, Sprache, geistige Entwicklung sowie soziale und emotionale Entwicklung zu exkludieren.