• Keine Ergebnisse gefunden

3.5 E XKURS : E XKLUDIERENDE P RAXEOLOGIEN

3.5.1 Deduktive Vermittlungspraxen

Im Zuge der Thematisierung inklusiver Unterrichtskonzeptionen und entspre-chender didaktischer Entwürfe ist augenfällig, dass von unterschiedlichsten Autorinnen und Autoren unisono auf die zentrale Relevanz induktiver Vermitt-lungsweisen und Unterrichtsverfahren verwiesen wird und in diesem Sinne si-cherlich von einem Primat des Induktiven im Kontext der Thematisierung der Inklusion in der Sport- und Bewegungspädagogik gesprochen werden kann (Giese, 2014; Giese & Weigelt, 2013, 2015b; Wurzel, 2003, S. 43). Diese Hochschätzung induktiver Unterrichtsverfahren deckt sich darüber hinaus auch mit Empfehlungen, die im Rahmen der in Kapitel 3.4 diskutierten didaktischen Ansätze im Unterrichtsfach Sport formuliert werden (Aschebrock, 2013, S. 66;

Bietz, 2015, S. 212; Prohl, 2012c, S. 102) und findet sich auch in den Empfeh-lungen der Kultusministerkonferenz (2011, S. 9) zur Gestaltung inklusiver Bil-dungsangebote in der Schule.

Vor dem Hintergrund dieser konzertanten Hochschätzung induktiver Lehr-Lernwege soll – quasi in einer Art Umkehrschluss – im Folgenden an einem konkreten unterrichtspraktischen Beispiel aus dem Sportunterricht exempla-risch dargelegt werden, welche Komplikationen sich mit deduktiven Unter-richtsverfahren für einen inklusiven Sport- und Bewegungsunterricht verbin-den, ohne dass damit einer dogmatischen Ablehnung deduktiver Praxen im Sinne längst überholter Entweder-oder-Position das Wort geredet werden soll (Hossner & Roth, 2002, S. 111).

Zentral erscheint in diesem Kontext, dass deduktive Lehr-Lernwege im Sinne des Erhalts der Autonomie eben gerade nicht darauf bauen, dass die Lernenden

„in stärkerem Maße als üblich in die Verantwortung genommen [werden, MG]

– nicht nur für den eigenen, sondern auch für den Lernprozess der übrigen Gruppenmitglieder“ (Prohl, 2004, S. 125) bzw. dass es eben nicht darum geht,

„die Lernenden reflexiv an dem Werden von Bewegungslösungen zu beteili-gen“ (Laging, 2005a, S. 175). Deduktive Lehr-Lernwege spiegeln in diesem Sinne nicht die intendierten Bildungsziele einer relativen Autonomie oder der reflexiven Selbständigkeit wieder, sondern scheinen diese auf einer methodi-schen Ebene vielmehr zu unterlaufen bzw. zu konterkarieren.

Unabhängig von der Tatsache, dass eher deduktiv organisierte Lehr-Lernwege in der didaktischen Diskussion im Unterrichtsfach Sport – zumindest abseits des fachdidaktischen Mainstreams – kritisch diskutiert werden,63 weil sie mit

„bildungs- und lerntheoretisch kaum reflektierten Lehr-Lernkonzepten operie-ren, die entweder auf rein praktischen Erfahrungen beruhen oder Lehrkonzepte einer anwendungsorientierten Bewegungswissenschaft importieren, die meist in einer psychologischen Tradition stehen und ebenfalls anthropologisch und bildungstheoretisch unbestimmt sind“ (Scherer, H.-G. & Bietz, 2013, S. 181), ist aus der Perspektive der hier verfolgten Fragestellung zu fragen, wie solche Lehr-Lernkonzepte im Kontext einer inklusiven Fachdidaktik Sport zu bewer-ten sind.64

Kennzeichnend für deduktiv orientierte Lehr-Lernkonzepte im hier zugrunde-liegenden Verständnis ist dabei die immanente Annahme, dass die Elemente des Lehrens im Sinne einer Abbilddidaktik aus einer scheinbar objektiven Ziel-technik gewonnen werden könnten. Anhand bekannter Zergliederungsverfah-ren, wie sie beispielsweise von Meinel und Schnabel (1998) vertreten werden, wird die Zieltechnik zur Vereinfachung in unterschiedliche Verlaufs- oder Funktionsphasen und ggf. Unterphasen eingeteilt. Die dabei in analytischen

63 Die fundamentale Kritik an solchen Lehr-Lernwegen, die u. a. damit begründet wird, dass eine grundsätzli-che strukturelle Trennung zwisgrundsätzli-chen Lehren und Lernen existiert, wurde zuletzt von Sgrundsätzli-cherer und Bietz (2013) ausführlich vorgetragen.

64 Scherer und Bietz weisen zudem darauf hin, dass andererseits allerdings auch sportdidaktische Lehrkonzepte problematisch erscheinen, die „die Interaktionsmuster des Unterrichts vermeintlich explizit auf die Schüler abstimmen, aber gegenüber den Sachgegenständen des Unterrichts eher indifferent bleiben“ (Scherer, H.-G. & Bietz, 2013, S. 182), wie sie insbesondere im Kontext des erziehenden Sportunterrichts diskutiert werden. Unter Rückgriff auf Gruschka (2014) und seine Hinweise zur vermeintlichen Selbstzweckhaf-tigkeit der Didaktik kritisieren Scherer und Bietz, dass auch solche Lehr-Lernkonzepte – unabhängig vom Unterrichtsgegenstand – eine allgemein Gültigkeit beanspruchen und „in ihrer Selbstzweckhaftigkeit und in ihren Tendenz zur Totalisierung des Lehrens im Grunde lediglich ein reibungsloses Fortschreiten im Stoff [gewährleisten, MG], ohne wirklich auf die Schüler und deren sich in einer konkreten Sachauseinan-dersetzung realisierenden Verständnisprozesse einzugehen und diese zu befördern“ (Scherer, H.-G. &

Bietz, 2013, S. 182).

Verfahren gewonnen einzelnen Teilsegmente der Bewegung werden den Leh-renden separat zum Üben zur Verfügung gestellt, um in einer Abstufung von einer Grob- zu einer Feinform am Ende des Lehrweges wieder zusammenge-setzt zu werden (Scherer, H.-G., 2001a, 2001c).

Exemplarisch illustriert wird eine solche Herangehensweise im Folgenden an einem Unterrichtsbeispiel zur Vermittlung des oberen Zuspiels beim Volley-ball. Als Grundlage dienen dabei zwei vom Dt. Volleyball-Verband explizit empfohlenen Lehrbücher Supertrainer Volleyball von Anrich, Krake und Zach-arias (2005) und Der Volleyballtrainer von Meyndt, Peters, Schulz und Warm (2003). Im Sinne einer Sachstrukturanalyse ist das obere Zuspiel beim Volley-ball dann notwendig, wenn ein hoch anfliegender Ball im oberen Körperbereich zielgerichtet und volley zu einem Mitspieler gespielt werden soll. War diese Aktion früher vor allem dem Steller vorbehalten, hat das Pritschen durch Re-geländerungen in den letzten Jahren stark an Bedeutung gewonnen. Da inzwi-schen auch Aufschläge und sogar Angriffe pritinzwi-schend pariert werden, kommt dieser Technik beim Hallenvolleyball eine Schlüsselfunktion zu (Anrich et al., 2005, S. 13). Im Anfängervolleyball und in der Schule ist Pritschen ebenfalls von zentraler Bedeutung, weil es die technisch einfachste Möglichkeit darstellt, einen Ball zielgenau volley zu spielen, was baggernd ungleich schwieriger ist.

Unter der Vermittlungsperspektive beziehen sich sowohl Anrich et al. (2005) als auch Meyndt et al. (2003) auf Martin, Carl und Lehnertz (1991), die ihrer-seits bei der Aneignung neuer Techniken drei Aneignungsphasen unterschei-den: Technikerwerbstraining, Technikanwendungstraining und Technikergän-zungstraining, wobei sich die Ausführungen im Folgenden auf das Techniker-werbstraining beschränken, da es ehesten den Belangen des Schulsports ent-sprechen dürfte.

Betrachten wir die in der zitierten Volleyballliteratur gegebenen methodischen Hinweise zum Erlernen der Technik, fällt generell auf, dass die Schülerinnen und Schüler dort sehr eng an die Hand der Lehrkraft genommen werden und die Lernarrangements von authentischen Spielsituationen abgekoppelt wer-den.65 Das kann so weit gehen, dass die Lehrkraft den Schülerinnen und Schü-lern tatsächlich die Hand führt, damit diese die von der Lehrkraft intendierten Bewegungen auf jeden Fall fehlerfrei ausübt (vgl. Abbildung 12).

65 Diese Abkopplung der Technik von den situativen Bedingungen, in denen sie üblicherweise angewendet wird, führt häufig zu Transferproblemen (Scherer, H.-G., 2001b, 2001c, S. 6). Da nicht mitgelernt wird,

Da die notwendige Vereinfachung des Lerngegenstandes in dieser methodi-schen Herangehensweise durch eine Zergliederung der Zieltechnik und eine Isolierung von Einzelmomenten erreicht wird, finden die ersten Übungen im Sitzen bzw. im Kniestand statt und werden ohne Ball ausgeführt. So kann iso-liert an den Armbewegungen gearbeitet werden und ein störender Einfluss der Beine oder des anfliegenden Balls vermieden werden. Anrich et al. (2005, S. 18) schlagen in diesem Sinne vor, beim Technikerwerbstraining zunächst mit Übungen ohne Ball zu beginnen und dann Übungen mit Ball, aber ohne Spielhandlung zum Thema zu machen. Erst danach folgt der Übergang zum paarweisen Pritschen in einem engen, kurzen Feld mit hohem Netz.

Abbildung 12: Das obere Zuspiel beim Volleyball (aus: Meyndt et al., 2003, S. 46)

An diesem Vorgehen erscheint vor allem problematisch, dass der Sinn hinter der zu erlernenden Technik und den einzelnen Teilelementen verborgen bleibt.

wann und vor allem warum diese Technik zum Einsatz kommt, bricht sie in der realen Spielsituation oft wieder zusammen. Auch die situative Anpassung dieser Technik bereitet Probleme. Diese Kompetenzen werden in klassisch deduktiven Ansätzen in der Regel erst im Rahmen des Technikanwendungstrainings thematisiert, was bei den Schülerinnen und Schülern häufig ein Umlernen bzw. eine interne Umstrukturie-rung der Technik notwendig macht, da die Technik im Kontext realer situativer Bezüge einer Umdeutung bedarf (Hasper, 2009a).

Das Spielproblem, das mit dem Pritschen gelöst wird, ist ebenso wenig Gegen-stand der Vermittlungsbemühungen wie die Funktion der einzelnen Techni-kelemente. Der Schüler kann sich deshalb kaum autonom bzw. selbständig an der Suche nach einer Lösung beteiligen. Er ist hier nicht das Agens seines Lern-prozesses.66 Indem die Elemente des Lernens – im Sinne einer Abbilddidaktik – aus der Sachstrukturanalyse der Zieltechnik gewonnen werden, schließen die Autoren von dem Produkt auf den Prozess und begehen einen Kategorienfehler.

Darüber hinaus sieht das Unterrichtskonzept keine Reflexion des Handelns und keinen ergebnisoffenen Abgleich der Antizipationen mit realen Effekten vor.

Unter der in diesem Kapitel gewählten Perspektive der Dekonstruktion ist ex-plizit zu erwähnen, dass die Schülerinnen und Schüler in einem solchen Lehr-Lernkonzept allenfalls als Konsumenten eines hindernisbefreiten Lehrweges in Erscheinung treten, die die vorbereiteten Lernportionen eklektisch nachzuah-men haben. Der Erhalt und die Förderung der Autonomie der Schülerinnen und Schüler, wie sie für den Inklusionsdiskurs als zentral betrachtet werden, kön-nen, wie das bisher Gesagte deutlich gemacht haben sollte, in geschlossenen bzw. deduktiven Lehr-Lernwege nur schwerlich realisiert werden.

Vornehmlich deduktive orientierte Vermittlungsweisen erscheinen vor diesem Hintergrund nicht geeignet, als Grundlage einer inklusiven Fachdidaktik Sport zu fungieren, weil sie die Autonomie und die Selbständigkeit der Schülerinnen und Schüler auf unterrichtsmethodischer Ebene – und dahinter stehen natürlich auch problematische Menschenbilder, die an dieser Stelle jedoch nicht weiter diskutiert werden – untergraben.

3.5.2 Verzicht auf Fertigkeitsorientierung und die Frage nach