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5. Diskussion

5.1. Reproduktiv-Materielle Dimension

Wie bereits geschildert, muss das im Rahmen eines Betreuungsmonat erzielte Einkommen auch den darauffolgenden Pausemonat decken, in welchem die BetreuerInnen kein Geld verdienen. Um zu berechnen, wie viel Geld den BetreuerInnen monatlich tatsächlich zur Verfügung steht, müsste also richtigerweise das von den BetreuerInnen angegebene monatliche Nettoeinkommen zwischen 800 und 2.500 Euro halbiert werden. Mit der halbierten Summe liegen die BetreuerInnen mit ihrem Gehalt nach objektiven Maßstäben unter (und teilweise weit unter) der für Österreich geltenden Armutsgefährdungsschwelle.

Gemessen an dem Medianeinkommen der rumänischen Bevölkerung liegen die BetreuerInnen über der dort geltenden Armutsgefährdungsschwelle. Hierbei ist jedoch anzumerken, dass dieser Wert als Verteilungsmaß gilt und Merkmale, wie etwa Lebenshaltungskosten nicht mit einbezogen werden (Knittler et al., 2018). Diese sind laut Aussagen der BetreuerInnen in vielen Bereichen mit Österreich jedoch vergleichbar. Zwar wurde das Einkommen von den BetreuerInnen als zu gering bewertet, insgesamt wurde die Einkommenshöhe jedoch eher nach relativen Gesichtspunkten bewertet, also je nachdem wieviel an vorherigen Arbeitsplätzen gezahlt wurde oder wieviel Gehalt KollegInnen erhalten.

Diese Vergleiche wurden eher von BetreuerInnen angestellt, welche sich finanziell aktuell in einer guten Position sehen. Demnach wurde der Bezug zum relativen Einkommen vor allem im Zusammenhang mit dem eigenen, bereits vollzogenen Statusgewinn hergestellt. Auch äußerten sich gutverdienende BetreuerInnen eher zum potentiellen Wettstreit mit BetreuerInnen anderer Nationalitäten oder zur Marktlogik der Branche, wonach schlecht

68 bezahlte Neueinsteigerinnen den Lohn insgesamt nach unten drücken würden. Hierin lassen sich zwei interessante Punkte feststellen: Zum einen wird das Phänomen beschrieben, wonach NeueinsteigerInnen im Angesicht ihrer prekären Lebenslage prekäre Beschäftigungsbedingungen „akzeptieren“, was wiederum zu einer Verschärfung der prekären Beschäftigungsbedingungen für die ganze Branche beiträgt (Bachinger, 2016a).

Besonders vulnerabel für die Unterschreitung dieser Standards sind MigrantInnen, welche den Druck verspüren, für ihre Aufenthaltsberechtigung eine Beschäftigung nachzuweisen (Krenn et al., 2012). Zum anderen zeichnet sich in der Äußerung über den potentiellen Wettstreit mit BetreuerInnen anderer Nationen ansatzweise das ab, was Castel (2005) als Konkurrenz unter Gleichen beschreibt: Aufgeweichte arbeitsrechtliche Regulierungen und unsichere Arbeitsplätze bewirken Ungleichheiten in Gruppen von ArbeitnehmerInnen, welche zur Sicherung ihrer Lebensbedingungen ihre Alleinstellungsmerkmale in den Vordergrund rücken müssen – mit dem Ergebnis von Konkurrenz statt Solidarität.

Die wahrgenommene Arbeitsplatzunsicherheit variierte unter den BetreuerInnen und betraf hauptsächlich die qualitative Arbeitsplatzunsicherheit. Als entscheidender Faktor im Hinblick auf die Arbeitsplatzsicherheit wurde das Vertrauensverhältnis zu den Angehörigen benannt, da diese in den meisten Fällen für die Einstellung der BetreuerInnen verantwortlich sind und somit auch als eigentliche ArbeitgeberInnen gesehen werden. Ist das Verhältnis gut, so wird davon ausgegangen, auch in Zukunft die KlientInnen betreuen zu können. Unkontrollierbar hingegen ist das Versterben von KlientInnen, was eine unmittelbare Beendigung der Betreuung bedeutet. Inwiefern im Anschluss ein neuer Betreuungsplatz gefunden werden kann, ist entweder von den Vermittlungsagenturen oder den persönlichen Kontakten der BetreuerInnen abhängig. Unkontrollierbar sind auch Gesellschaften betreffende Naturkatastrophen, Finanzkrisen oder Pandemien, welche in erster Linie negative Konsequenzen für bereits benachteiligte Gruppen bedeuten (Perry et al., 2021). In Einklang mit der Untersuchung von Leiblfinger und KollegInnen (2020) wurde auch in den Interviews dargelegt, dass Betreuungsengpässe zu Beginn der Covid-Pandemie zu Lasten der BetreuerInnen gingen und prekäre Beschäftigungsbedingungen verschärfte: Zusätzliche emotionale und körperliche Belastungen durch verlängerte Betreuungsturnusse, verstärkte Abhängigkeit von Vermittlungsagenturen oder Angehörigen und finanzielle Notlagen bei ausbleibenden Betreuungseinsätzen. Als ein weiteres die Arbeitsplatzunsicherheit beeinflussendes Merkmal zeigte sich die Zugehörigkeit zum männlichen Geschlecht, was

69 sowohl zu einer Bevorzugung wie auch Benachteiligung bei der Arbeitsplatzsuche führen kann. In den Interviews konnte nur die Perspektive eines männlichen Betreuers in Erfahrung gebracht werden. Diese wird aber durch Untersuchungen zu ambivalentem Sexismus gegenüber PflegerInnen unterstützt, wonach weibliche PflegerInnen in ihrer Rolle idealisiert werden (Clow et al., 2014) und männliche Pfleger eine Stereotypisierung ihrer physischen Kräfte erfahren (Gray, 2010).

5.2 Sozial-Kommunikative Dimension

Die Merkmale der 24h-Betreuung bedeuten eine große Herausforderung für die von Lampert (2011) beschriebene detached concern Strategie. Die über Wochen andauernde große körperliche und emotionale Nähe zu KlientInnen kreiert einen fließenden Übergang zwischen Beruflichem und Privatem und erschwert es eine professionelle Distanz beizubehalten. Am häufigsten ließ sich in den Interviews der von Kniejska (2015) beschriebene, für die 24h-Betreuung typische Typus des Kindermädchens feststellen: Die BetreuerInnen kompensieren die mangelnde Herzlichkeit und Nähe der Angehörigen, welche sie häufig für ihre mangelnde Präsenz kritisieren. Zu den KlientInnen besteht eine quasi-familiäre Beziehung, zu deren Steigerung des Wohlbefindens und der Lebensqualität sich die BetreuerInnen verantwortlich fühlen, was folglich zu einer engen Bindung an die BetreuerInnen führt. Der Typus des Kumpels, traf in Kniejskas (2015) Untersuchung ausschließlich auf männliche Betreuer zu, was sich auch durch die in dieser Arbeit durchgeführten Interviews bestätigen ließ: Im Vordergrund steht hier die Selbstdefinition als Begleiter, der Gesellschaft leistet und zu Unternehmungen animiert. Neben der schmerzhaften Erfahrung beim Versterben von KlientInnen, gilt die Kommunikation mit dementen KlientInnen als weitere große Belastung.

BetreuerInnen berichten von der Überforderung angemessen mit dementen KlientInnen in Phasen der Krise zu kommunizieren. Eine erfolgreiche Kommunikation in der Betreuung von dementen KlientInnen ist essentiell für deren Wohlbefinden und Zufriedenheit sowie entscheidend für die Burnoutprävention von BetreuerInnen, was die Notwendigkeit von Kommunikationstrainings in diesem Sektor offensichtlich macht (Nguyen et al., 2018). Als weiterer die Kommunikation betreffender, belastenden Faktor wurde in den Interviews die Sprachbarriere genannt, welche sich auf die Arbeitsplatzunsicherheit der BetreuerInnen auswirken kann, da gute Sprachkenntnisse sowohl für Vertragsverhandlungen mit Angehörigen und Agenturen sowie bei der Korrespondenz mit Behörden notwendig sind.

70 Unterstützung bei Kommunikationsproblemen aufgrund von Sprachbarrieren oder insgesamt rechtlichen Unklarheiten finden die BetreuerInnen im Austausch über die Facebook-Vernetzungsgruppen, welche als solidarische Plattformen verstanden werden. Ebenso dienen die Kontakte in die Heimat als Ressource und üben einen puffernden Effekt der Arbeitsplatzunsicherheit auf die psychische Gesundheit aus (Alcover et al., 2020). Die Abwesenheit der BetreuerInnen wird für sie selbst und ihre Familien als Belastung wahrgenommen. Dichte Kommunikation mit den Familien oder Freunden in Rumänien über Telefonat oder Chats kompensieren für die Abwesenheit und haben eine Art „Ankerfunktion“, um den Anschluss in der Heimat nicht zu verlieren. Geht das zuvor beschriebene quasi-familiäre Verhältnis zu den KlientInnen jedoch sehr weit und sind die BetreuerInnen verwitwet oder geschieden, kommen die KlientInnen einer Art Ersatzfamilie gleich – ein Phänomen, wie es auch schon von anderen AutorInnen (Karakayali, 2010; Kniejska, 2015) beschrieben wurde.

Im positiven Fall werden die Angehörigen der KlientInnen zu diesen Ersatzfamilien hinzugezählt, die Interviews zeigen aber auch, dass die Familien der KlientInnen für die BetreuerInnen im Hinblick auf die wahrgenommene Arbeitsplatzunsicherheit eine große Rolle spielen. In diesem Bewusstsein liegt auch das Potential, sich in gewisse Abhängigkeiten zu begeben und beispielsweise für einen geringen Lohn zu arbeiten oder Betreuungsinhalte zu akzeptieren, welche sich im Graubereich der Legalität befinden.